De concordantia catholica, liber III, prooemium: Nikolaus von Kues Theorie einer politischen Grundordnung und ihre praktische Anwendung auf aktuelle Fragen.
Inhaltsverzeichnis
1 Nikolaus von Kues Theorie einer politischen Grundordnung
1.1 Einleitende Darstellung und Zielsetzung
1.2 Das Prooemium (Vorwort)
1.2.1 Textgenese und sich daraus ergebenden Interpretationskriterien
1.2.2 Erläuternde Inhaltsangabe
1.2.3 Die wichtigsten Quellen
1.2.3.1 Der Hintergrund: Aristoteles Politik in Form ihrer Mittelalter-Rezeption
1.2.3.2 Der Ansatz: die Naturgesetzeslehre des Thomas von Aquin
1.2.3.3 Die Vorlage: die politische Aristoteles-Rezeption des Marsilius von Padua in Defensor pacis (Verteidiger des Friedens)
1.2.3.4 Die Legitimation: die Bibel
2 Ihre praktische Anwendung auf aktuelle Fragen
2.1 Ansatzpunkte für eine juristisch-politische Cusanus-Rezeption
2.1.1 Zu einer demokratischen Deutung des Prooemium
2.1.2 Gedanken zu politischen Fragen entwickelt durch eine Cusanus-Rezeption
2.2 Ausblick: Hinweis auf weitere Möglichkeiten für eine juristisch-politische Cusanus-Rezeption
3 Literaturverzeichnis
I. Ausgaben der Schriften des Nikolaus von Kues und Quellen zu seinem Leben
II. Werkausgaben anderer Autoren
III. Sekundärliteratur
Deckblattabbildung: Nicolaus von cusa cardinal, aus Weltchronik des Hartmann Schedel,
Nürnberg 1493 (Kopie aus einer Faksimile-Ausgabe).
1 Nikolaus von Kues Theorie einer politischen Grundordnung
1.1 Einleitende Darstellung und Zielsetzung
Theorie und Praxis, beide Seiten kommen im Leben des Nikolaus von Kues, des Kardinal und Philosophen, zur Entfaltung. Politische Theorie ist praktische Philosophie, beide befassen sich u.a. mit der Ordnung menschlichen Zusammenlebens. Der Sinn von politischer Herrschaft, die Sicherung von Freiheit und Gleichheit und die Tugend der Gerechtigkeit durch ihre Handlungsbedingung, die Goldenen Regel „was du willst, dass dir geschehe, das tu dem anderen“[1], geben dem menschlichen Gemeinschaftsleben nach der Ansicht von Cusanus eine moralische Grundlage.[2] Diese enge Verknüpfung von Ethik und Politik ist es, die seine Lehren zu Politik und Recht für die Moderne attraktiv erscheinen lässt.[3] Denn sollte man nicht verstärkt Modelle der Grundlegung moralisch guter Herrschaft und Gesetzgebung untersuchen, wenn Zeiten angebrochen sind, in denen die Partei eines Ministerpräsidenten bei einer Wahl 35 Prozent der Stimmen erhält - bei einer Beteiligung von 50 Prozent als Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik? Weichenstellungen für die Neuzeit sind zu Lebzeiten des Kardinals im 15. Jahrhundert gestellt worden. Man werfe also einen Blick auf eine Theorie einer politischen Grundordnung jener Epoche, um Anregungen für die Gegenwart zu erhalten. Man muss zugeben, dass die Nachwirkung des cusanischen Gemeinwesen-Modells im Prooemium (Vorwort, Vorrede) und die konkreten Reformvorschläge in Buch III seines Werkes De concordantia catholica auf die Reichsreformen, die im Anschluss an den Wormser Reichstag von 1495 durchgeführt wurden, keinen Einfluss hatten. Heinz Angermeier verneint einen Einfluss der im Rahmen der Konzilien von Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1449) entstandenen frühen Reformpublizistik auf die Erneuerungsprozesse vor allem wegen des fehlenden Bezuges jener politischen Theorie zur Praxis.[4] Diese Tatsache sagt jedoch zumindest in Bezug auf Cusanus wenig aus. Jasper Hopkins hat darauf hingewiesen, dass Konzepte des Nikolaus von Kues erst eine nachträgliche nutzbringende Anwendung erfahren haben und in ihrem ursprünglichen Kontext in anderer und teils schwächerer oder gar keiner Weise aufgegriffen wurden.[5] Auf die Frage „Warum Cusanus heute?“ formuliert Harald Schwaetzer in seinem Aufsatz „Europa gestalten: das Erbe des Nikolaus von Kues“ die These: „Diejenigen Ideen, die im Beginn der Neuzeit einen einschneidenden Wandel verursachten, sind nur zu einem geringen Teil wirksam geworden; die eigentliche Aufnahme steht noch aus. Europa hat seine eigene Entwicklung verschlafen. An Gestalten wie Nikolaus von Kues kann es aufwachen“[6]. Das Ziel besteht folglich in der Darstellung von Cusanus Theorie einer politischen Grundordnung, wie er sie im Prooemium zu Buch III seines Werkes De concordantia catholica niedergeschrieben hat. Durch die ausführlichere erläuternde Inhaltsangabe soll vermieden werden, dem Text eine moderne Doktrin aufzuzwingen. Das Prooemium soll selbst sprechen. Das gebietet auch der Respekt vor dem Genie des Kuesers. In einem zweiten Teil folgt dann die Herausarbeitung möglicher Ansatzpunkte für die Formierung zeitgemäßer politischer und juristischer Ideale, indem inhaltliche Parallelen zum demokratischen Verfassungsdenken aufgezeigt werden und eine Anwendung auf aktuellen Kontroversen in Politik und Jurisprudenz versucht wird. Dabei handelt es sich nicht um eine Modernitätsobsession: Genauso wie man sich durch dieses Textstück der aristotelischen Philosophie annähern kann, kann man auch dank der niedergeschriebnen Überlegungen zu immerwährenden Problemfeldern im Prooemium gemeinsam mit Cusanus über die heutigen Ausgestaltungen jener Politikfragen nachdenken, so wie sie sich uns zurzeit stellen.
1.2 Das Prooemium (Vorwort)
1.2.1 Textgenese und sich daraus ergebenden Interpretationskriterien
Koblenz, 20. März 1431[7]: Im obersten Saal des Hofes des Trierer Erzbischofs bekundet Hellwig von Boppard, Leiter des Kirchengerichts in Koblenz und Doktor des kanonischen Rechts, eine ihm gegenüber von Frau Metze von Waldeck im Beisein ihres Ehemannes Syfart Walpode von Bassenheim abgegebene Erklärung über ihr Wittum[8]. Als Zeuge für die Kundgabe ist u.a. anwesend „der eirwirdige vorsichtig und wiser kunstiger man meister Niclaes von Cose lerer in geistlichem rechte und dechen sent Floriins kirchen zu Couelencze“[9]. Koblenz ist der derzeitige Wohnort des Dr. iur. can. Nikolaus von Kues, der am 6. September 1427 von Papst Martin V. die Dekanei von St. Florin als Pfründe zugesprochen bekam.[10] Der rechtsgelehrte Kleriker war 1425 als Sekretär in den Dienst des Trierer Erzbischofs Otto von Ziegenhain getreten[11], für den er juristische Tätigkeiten als Rechtsberater, Gutachter, Prozessbevollmächtigter und Schiedsmann ausführte und in dessen Auftrag er an der römischen Kurie in Sachen Klosterreform tätig war[12]. Anfang 1430 stirbt der Erzbischof. Bei der Neuwahl geben elf der fünfzehn Domherren Jakob von Sierck ihre Stimme. Zwei Voten entfallen auf Ulrich von Manderscheid, darunter das des Domprobstes Friedrich von Kröv. Beide ersuchen die Anerkennung durch Papst Martin V. Dieser überträgt jedoch Raban von Helmstedt, Bischof von Speyer, das Trierer Erzbistum. Daraufhin lässt sich Ulrich von Manderscheid, nachdem Jakob von Sierck zwischenzeitlich seine Resignation bekannt gegeben hatte, am 10. September 1430 vom Domkapitel zum Erzbischof von Trier wählen. Mit dem Ziel, die Wahl Ulrichs zu bestätigen oder ihn als Erzbischof einsetzen zu lassen, reist Nikolaus von Kues zusammen mit Helwig von Boppard und Johannes de Rode, Abt von St. Matthias in Trier, Anfang 1432 nach Basel zum am 29. Juli 1431 eröffneten Konzil. Als Vertreter des Trierer Elekten werden sie am 29. Februar 1432 in die Synode aufgenommen.[13]
Ungefähr gegen Ende des Jahres 1433 legt Cusanus dann den Konzilsteilnehmern De concordantia catholica vor.[14] Gerhard Kallen hat durch eine Prüfung der handschriftlichen Überlieferungen gezeigt, dass Nikolaus von Kues „patchwork-artig“ an seinem ersten größeren Werk gearbeitet hat. Im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Interpretationskriterien für das Prooemium soll seine Rekonstruktion der Textgenese im Folgenden kurz zusammengefasst werden.
Aufschluss über die Arbeitsschritte an De concordantia catholica ergeben vor allem zwei Handschriften[15]:
- Sammelhandschrift 1205/503 der Stadtbibliothek Trier.
- Sammelkodex A V/13 der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel.
Verbessernde und ergänzende Randglossen in der Trierer Handschrift belegen nachträgliche Überarbeitungen des Textcorpus[16], an dem Cusanus mindestens 2 Jahre gearbeitet hat[17]. Einige Zusätze stammen von Cusanus selbst.[18] Während Nikolaus von Kues Autographa auch in der Basler Handschrift enthalten sind, fehlen dort die von ihm gebilligten und teilweise weitergeführten Ergänzungen eines Schreibers der Trierer Handschrift.[19] Es gab also einen ersten Reinentwurf, der dem Scriptor der Basler Abschrift vorlag und der fortwährend von Cusanus und einem Mitarbeiter verbessert wurde.[20] Den ursprünglichen Abschluss von Buch III bildete eine Anrede an den Kaiser. Die Schlussanrede wurde wieder durchgestrichen, ist aber ein Hinweis dafür, dass die Entstehung des dritten Werkteils in den Zeitraum der Ankunft von Kaiser Sigismund auf dem Konzil am 11. Oktober 1433 fällt.[21]
Auf Sextern 2 Folio 10 beginnt der Text in dem Basler Kodex mit einer eigenen Vorrede (prohemium) und den Worten: „Der Traktat, der folgt, hat jene Vorrede, die sofort folgt und ist eine Schrift über die kirchliche Eintracht“[22]. Dies zeigt, dass Nikolaus von Kues ursprünglich nur ein Werk über die Kirche, also nur Buch I und (teilweise) Buch II geschrieben hat.[23] Er titulierte das Werk Libellus de ecclesiastica concordantia und schrieb eigens hierfür eine Einleitung. Weiter enthält die Basler Handschrift den Text von Buch III, jedoch nicht das Prooemium.[24] Es stellt sich damit als sehr spät verfasster Zusatz heraus[25], da es im ersten Reinentwurf, der dem Schreiber der Basler Abschrift als Grundlage diente, offensichtlich noch nicht enthalten war.
Für De concordantia catholica lassen sich demnach folgende Entstehungsstufen rekonstruieren[26]:
1. Nikolaus von Kues verfasst Libellus de ecclesiastica concordantia.
2. Erweiterung des Kirchenwerkes um das dritte Buch über das römisch-deutsche Reich und dessen Reform.
3. Später schreibt Cusanus für Buch III ein eigenes Prooemium mit staatstheoretischen Überlegungen.
Wie die Entstehungsgeschichte zeigt, wurde die allgemeine Staatsphilosophie dem nachfolgenden Text von Buch III aufgepfropft. Es ist ja gerade nicht der Fall gewesen, dass Cusanus aus staatstheoretischen Axiomen seine Ansichten bezüglich der Herrschaft des Kaisers und der Verfassung des Reiches ableitete, woraus sich eine gemeinschaftliche Auslegungsmaxime ergeben würde. Gemäß dieser Textgenese kommt dem Prooemium von Buch III vielmehr eine unabhängige Eigenständigkeit zu. Für eine Interpretation resultiert daraus die Regel, dass das Prooemium zuerst einmal aus sich selbst heraus auszulegen ist. Für diese textliche Selbständigkeit spricht auch die im Rahmen der Quellenuntersuchung noch herauszuarbeitende Tatsache, dass dem für einen Prolog verhältnismäßig langen Prooemium eine eigene Hauptquelle zugrunde liegt, die Cusanus erstens ausschließlich für diesen Teil des Werkes verwendet und die er zweitens als Grundlage seiner nur im Zuge der Staatstheorie vorgenommenen politischen Aristoteles-Rezeption nutzt.
1.2.2 Erläuternde Inhaltsangabe
Cusanus kirchenpolitisches Hauptwerk De concordantia catholica (Von der allgemein Eintracht) besteht aus drei Einzelbüchern. Das erste enthält eine Ekklesiologie, das zweite eine Konzilstheorie samt Reformentwurf für die Kirche. Im dritten Teil des Werkes befasst sich Nikolaus von Kues mit der Situation des Reiches. Diesem Buch III hat er ein Prooemium vorangestellt, ein Vorwort, das sich nach der eben dargestellten Abfassungsgeschichte als theoretischer Zusatz herausstellt, in welchem die Frage nach der Begründung und Reform des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durch allgemeine Staatslehren unterbaut werden soll.
Oberstes Prinzip aller Überlegungen sind gewisse natürliche Rechte: Schutz der physischen Existenz, Bewahrung vor Schaden, Erlangung von allem Lebensnotwendigen.[27] Lebewesen sind zuerst dazu bestimmt zu existieren.[28] Als erforderliche Existenzgrundlagen erweisen sich Instinkt, Bestreben und Vernunft.[29] Dank ihnen kann das Lebewesen durch künstliche Mittel sowie Wissenschaften natürliche Mängel ausgleichen.[30] Durch Vernunftgebrauch erkennen die Menschen, dass eine Gemeinschaft zur individuellen Selbsterhaltung notwendig ist.[31] So haben sie infolge einer angeborenen Anlage, dem natürlichen Instinkt, Dörfer und Städte gebaut, um zusammenzuleben.[32] Um den Frieden zu wahren, haben sie Regeln festgelegt.[33] So sind die Grundlagen einer einträchtig-geordneten Gemeinschaft die Vereinigung von Menschen, die per Zustimmung aller erlassenen Gesetze und die Bestimmung von Hütern dieser Rechtsordnung.[34] Nikolaus von Kues pointiert an dieser Stelle zu Beginn, dass die Menschen zwar kraft eines natürlichen Instinktes beieinander wohnen, die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens stellt hingegen eine Vernunfterkenntnis dar. Wenn eine einträchtige Genossenschaft also aus einer Einsicht in die Notwendigkeit resultiert, der Mensch diesbezüglich nicht von Natur aus determiniert ist, dann ist der Mensch ein von Natur aus gemeinschaftsbezogenes[35] und auch freies Lebewesen.
Cusanus führt weiter an, dass die Menschen aufgrund eines göttlichen Gesetzes erkennen, dass eine Gemeinschaft zu ihrem Nutzen dient.[36] Ein einträchtiges Zusammenleben ist also für die Existenz nützlich und entspricht daher Gottes Wille. Nur die gottgewollte Ordnung verhindert gesellschaftliche Konflikte. Diese Ordnung bewahren Gesetze, die mit der Zustimmung aller erlassen werden.[37] Zumindest müssen solche Gesetze auf dem Konsens der außergewöhnlich Weisen, die ihrerseits die Anerkennung der anderen Gemeinschaftsmitglieder genießen, beruhen.[38] Nach seiner Ansicht muss demnach Herrschaft an Kompetenz und Einsichtsfähigkeit gekoppelt sein.[39] Indem die Weisen die Anerkennung der anderen Gemeinschaftsmitglieder genießen, ist die Zustimmung des größeren Teiles des Volkes zu den Gesetzen gegeben, da jene in rechtsgültiger Stellvertretung die Gesetze erlassen.[40] Etwas später im Prooemium charakterisiert Cusanus einen Weisen: „Der Weise wird nicht durch Angst gebrochen, nicht durch Macht verändert, nicht durch Wohlstand verführt, nicht durch Schicksalsschläge ins Verderben gestürzt. Wo nämlich Weisheit, dort ist Tugend der Seele, dort ist Beständigkeit und Tapferkeit.“[41]
Für das Ausreichen eines Mehrheitsbeschlusses der Weisen, die Anerkennung genießen und jene Charaktereigenschaften aufweisen, für Gesetze, die Einheit und Eintracht bewahren, führt der Kueser ein Analogieargument an: Wie die Majorität der Priester gemäß der Verheißung Christi nicht vom gottgefälligem Weg abweichen kann, so wird nicht vom rechten Weg abgewichen, wenn mit der Maßgabe der Übereinstimmung aller das behandelt wird, was der Erhaltung des Gemeinwesens dient. In diesem Fall wird auch die Mehrheit der Bürgerschaft oder der anerkannten Weisen den richtigen Weg beschreiten.[42] Zweitens kann das Bestreben des Menschen, der von Natur aus auf Gemeinschaft bezogen ist, unmöglich fehlgerichtet sein.[43] Daher ist es notwendig, dass der qualitativ gewichtigere Teil zur Erhaltung des Wohls eines einträchtigen Gemeinschaftswesens hinreichend geeignet ist.[44] Dieses Urteil untermauert Cusanus mit der These, der allmächtige Gott habe den Einfältigen und Törichten ein gewisses Maß an natürlichem Gehorsam beigegeben.[45] Dadurch sollen sie den Weisen leicht glauben, so dass sie durch deren Wohlmeinen gelenkt werden und ihre Erhaltung ermöglicht wird.[46] Diese Unterordnung besteht nicht von Natur aus, sondern resultiert aus deren Torheit[47], infolge derer sie sich nicht selbst regieren können[48]. Der Törichte ist ein Knecht, denn er gehorcht Furcht, Leidenschaft, Neid, Trieb, Bosheit, Zorn und obwohl er sich gerade dabei für frei hält, ist es doch eine Art der Unfreiheit.[49] Dennoch meint Nikolaus von Kues, kann eine Unterordnung unter die allgemeinverbindlichen Gesetze aus dieser Notwendigkeit heraus nur freiwillig erfolgen - aus dem Wollen des Einzelnen in der Einsicht um diese Notwendigkeit.[50] Vorherrschaft kann nur aufgrund einer freiwilligen Unterwerfung durch Zustimmung bestehen. Eine Über-Unter-Ordnung ist Cusanus zufolge nicht in der Natur angelegt: Unterordnung ergibt sich aus mangelnder Einsicht und Disziplin, Überordnung „durch ein besonderes Können“[51]. An dieser Stelle wird deutlich, dass er von einem natürlichen Gleichheitsrecht aller ausgeht. Für die menschliche Existenz ist Herrschaft von Nutzen, sie ist funktional, hat ihren Sinn.[52] Herrschaft gewährleistet Existenzsicherung durch jene, die das aufgrund ihrer Kompetenz am besten können. Regieren ist damit eine Dienstleistung[53] ; Cusanus nennt die Weisen sowohl „Lenker“[54] als auch „Diener“[55]. Er pointiert hier, dass die von Herrschaft Betroffenen deren Notwendigkeit einsehen können müssen, damit sie ihr zustimmen werden. Politische Über-Unter-Ordnung gibt es nur, wenn und soweit sie gewollt ist. Legitime Herrschaft bedarf eines sachlichen Grundes. In der Zustimmung zu ihr manifestiert sich die natürliche Freiheit des Menschen. Cusanus schreibt, dass „das Gute schöner ist, das nicht aus Notwendigkeit geschieht, sondern kraft des Willens“[56]. Gute Herrschaft gewährleistet damit auch Freiheit, denn sie ist von der Zustimmung aller getragen.
[...]
[1] De aequalitate, h X/1 N. 2711: „quod tibi vis fieri, alteri fac!“; Cusanus Werke werden soweit nicht anders angegeben nach der Heidelberger Akademieausgabe Nicolai de Cusa opera omnia, zitiert: Abkürzung h, römische Ziffern bezeichnen den Band, arabische die Unterkapitelnummer und tiefergestellte die Zeile.
[2] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, insb. S. 26, 32 u. 79.
[3] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 32.
[4] Angermeier, Die Reichsreform: 1410-1555, S. 90.
[5] Vgl. Hopkins, „Nicholas of Cusa (1401-1464): First Modern Philosopher?“ In: Midwest Studies in Philosophie XXVI, S. 29.
[6] Schwaetzer, „Europa gestalten: das Erbe des Nikolaus von Kues“. In: Schwaetzer/Zeyer (Hrsg.), Das europäische Erbe im Denken des Nikolaus von Kues, S. 20.
[7] Sachverhalt gemäß Acta Cusana, Bd. I Lieferung 1 (1401-1437), Nr. 87.
[8] Als Wittum wird eine Vermögensleistung an die Ehefrau bezeichnet, die Bestandteil der güterrechtlichen Beziehung zwischen den Ehegatten war, die vor allem der Vorsorge der Frau nach dem Tod ihres Mannes diente, vgl. Schulze, Artikel „Wittum“. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, Spalten 1469-1472.
[9] Acta Cusana, Bd. I Lieferung 1 (1401-1437), Nr. 87.
[10] Vgl. Acta Cusana, Bd. I Lieferung 1 (1401-1437), Nr. 41.
[11] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 92.
[12] Vgl. Beuter, Ubi non est ordo, ibi est confusio. Konflikte und Konfliktlösungen im Leben und im Werk des Nikolaus von Kues, S. 17.
[13] Vgl. zu dieser Passage die zusammenfassende Darstellung des Trierer Schismas bei Beuter, Ubi non est ordo, ibi est confusio. Konflikte und Konfliktlösungen im Leben und im Werk des Nikolaus von Kues, S. 17-19.
[14] Vgl. Lücking-Michel, Konkordanz und Konsens, S. 25.
[15] Vgl. Kallen, Die Handschriftliche Überlieferung der Concordantia catholica des Nikolaus von Kues, S. 68.
[16] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 52.
[17] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 68.
[18] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 52.
[19] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 54.
[20] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 54.
[21] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 52.
[22] Kallen, a.a.O., S. 23: „Tractatus, qui sequitur prohemium habet illud, quod statim subditur, et est libellus De ecclesiasti ca concordantia“.
[23] Vgl. Kallen, a.a.O. S. 25 (unter I.).
[24] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 23.
[25] Vgl. Kallen, a.a.O., S. 68.
[26] Darstellung hier reduziert mit Blick auf das Prooemium; vgl. zur vollständigen Übersicht der Textgeschichte Kallen, a.a.O., S. 68; vgl. De concordantia catholica, h XIV/1, S. XV.
[27] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2686-10.
[28] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 26811.
[29] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 26812-13.
[30] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 26816-17.
[31] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2692-4.
[32] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2694-5.
[33] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2695-6.
[34] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2697-10.
[35] So Cusanus ausdrücklich etwas später im Text De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27013.
[36] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2701-3.
[37] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2703-4.
[38] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2704-5.
[39] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 81.
[40] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 81.
[41] De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2725-8 unter Rückgriff auf Brief des Ambrosius, der auf David Bezug nimmt, vgl. App. II.
[42] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2706-10.
[43] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27010-13.
[44] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27013-14.
[45] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2711-2.
[46] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2712-3.
[47] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27237-38.
[48] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2744.
[49] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2733-6.
[50] Vgl. De concordantia catholica, h XIV/3 n. 2744-6.
[51] De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27228: „potentiae specie“.
[52] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 30.
[53] Vgl. Krieger/Thomas (Hrsg.), Nikolaus von Kues über Ethik und Politik, S. 83.
[54] De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27227: „rectores“.
[55] De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27222: „servus“.
[56] De concordantia catholica, h XIV/3 n. 27235-36: „pulchrius est bonum, quod non ex necessitate fit, sed ex voluntate“.
- Arbeit zitieren
- Andreas Wilhelm Lukas (Autor:in), 2009, De concordantia catholica, liber III, prooemium: Nikolaus von Kues Theorie einer politischen Grundordnung und ihre praktische Anwendung auf aktuelle Fragen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120872
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