Zivilreligion "Made in the U.S.A." - (K)ein Modell für Europa?


Diplomarbeit, 2008

98 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Geschichte und Entstehung des Begriffs „Zivilreligion“
2.1. Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika als Vorgeschichte der „civil religion“
2.2. „Religion civile“ bei Jean Jacques Rousseau
2.3. “Civil religion” bei Robert N. Bellah
2.3.1. Zur Person Robert N. Bellahs
2.3.2. Zur These einer „civil religion“ in den USA
2.4. Sidney E. Meads „Religion Of The Republic“
2.5. Die Demokratie als Religion und der „American Way Of Life“ John Dewey und Will Herberg
2.6. Zusammenfassung und Überleitung

3. Die moderne Gesellschaft als System und die Funktion der Religion
3.1. Talcott Parsons als Vordenker Robert N. Bellahs
3.1.1. Handlungssysteme und soziale Systeme
3.1.2. Die Religion im kulturellen Subsystem als Motivationsfaktor für das soziale System
3.1.3. Das hierarchische Symbolsystem des religiösen Systems
3.1.4. Aus L wird LL: Das Religionssystem als Subsystem des Kultursystems
3.1.5. Die Civil Religion als gelungene Evolution der Religion in der Moderne
3.1.6. Überleitung
3.2. Gesellschaftliche Säkularisierung und die Religion bei Niklas Luhmann
3.2.1. Zur Person Niklas Luhmanns
3.2.2. Gesellschaftliche Evolution und funktionale Differenzierung
3.3. Zusammenfassung und Überleitung

4. Die US-Zivilreligion im amerikanischen Alltag
4.1. Hinführung und Überleitung
4.2. Die Flagge der USA und der Treueschwur
4.3. Das allzeit gegenwärtige Vertrauen der USA auf Gott
4.4. Staatliche Feiertage mit zivilreligiösem Hintergrund
4.4.1. Abend-Mahl der Dankbarkeit: Thanksgiving
4.4.2. „Eine Nation unter Gott“: Memorial Day
4.5. Zusammenfassung und Überleitung

5. Funktioniert das Modell der Zivilreligion auch in Europa?
5.1. Staat und Zivilreligion bei Hermann Lübbe
5.1.1. Zur Person Hermann Lübbes
5.1.2. Die Zivilreligion als Fundament des liberalen Staates
5.2. Zivilreligion bei Rolf Schieder
5.2.1. Zur Person Rolf Schieders
5.2.2. Verträgt Deutschland eine Zivilreligion?
5.3. „Das Gespenst einer Zivilreligion“ bei Jürgen Moltmann
5.3.1. Zur Person Jürgen Moltmanns
5.3.2. Die politische Theologie und ihr prophetischer Auftrag

6. Zusammenfassung und Resümee

7. Literaturliste

8. Bildnachweis

9. Danksagungen

1. Einleitung

Vieles von dem, was man als „made in the U.S.A.“ bezeichnet, wird zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika hergestellt oder hat von dort aus seinen Siegeszug rund um die Welt angetreten, stammt aber ursprünglich aus Europa. Aus keinem anderen Teil der Welt strömten so viele Einwanderer in die Neue Welt, um eine ihrer Meinung nach hoffnungslose Gegenwart in ihrer Heimat hinter sich zu lassen und in eine bessere Zukunft in einem neuen Land aufzubrechen: 35 Millionen Menschen machten sich insgesamt auf die lange und beschwerliche Reise mit dem Schiff über den Atlantik. Rund 8.5 Millionen Einwanderinnen und Einwanderer kamen von den Britischen Inseln und aus Irland, ebenso viele aus Osteuropa, weitere 11 Millionen aus Zentraleuropa, davon alleine 5 Millionen aus Italien.[1] Auch wenn die Mehrzahl von ihnen Bäuerinnen und Bauern waren, die in materieller Hinsicht nur wenig in die Neue Welt mitbrachten, so kamen sie doch nicht mit leeren Händen[2]. Sie wussten nicht nur ihre Arbeitskraft und ihre handwerklichen Fähigkeiten einzusetzen, sondern sie brachten auch ihre eigene Religion und deren Bräuche nach Amerika mit. Dieses ambitionierte Projekt der Pilgerväter (und wohl auch –mütter), eine Gesellschaft zu errichten, in der jede und jeder frei ist, zu leben, zu arbeiten und seine bzw. ihre Religion auszuüben, brauchte einige Zeit und hatte mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, ehe knapp vor dem Ende des 18. Jahrhunderts schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika gegründet wurden. Bis zum heutigen Tage funktioniert diese neben dem italienischen Zwergstaat San Marino älteste aktive Demokratie der Welt auf der Basis einer Verfassung, die eine klare Trennung zwischen Staat und Religion bei gleichzeitiger Sicherstellung völliger Religionsfreiheit vorsieht.

Wer jedoch glaubt, dass die USA ein säkularer Staat wären, in dem die Religion reine Privatsache ist und ausschließlich in den persönlichen Bereich des einzelnen Individuums gehörte, hat sich getäuscht. In den USA hat sich eine besondere „religiöse Dimension der politischen Kultur“[3] entwickelt, in der die Uhren anders ticken als in Europa. Wer in Europa eine politische Karriere anstrebt, wird gut beraten sein, seine bzw. ihre religiösen Überzeugungen tunlichst für sich zu behalten und eine etwaige Bitte um Gottes Segen für das Land und die Menschen, die in ihm wohnen, kirchlichen Vertretern überlassen. Wer in den USA Präsident werden will, braucht abseits einer erstaunlichen Spesenkassa auch die nötige Portion Religion in seinen Ansprachen und wird gut beraten sein, nie auf das obligatorische „God bless America!“ am Ende des jeweiligen Auftrittes zu vergessen. In diesem kurzen Ausruf stecken aber für eine/n kritische/n Beobachter/in gleich zwei nicht unbedeutende Fragen, die bereits eine erste Spur darauf legen können, worum es in dieser Arbeit in weiterer Folge gehen soll. Die beiden Fragen lauten: „Welcher Gott?“ und „Welches Amerika?“. Wie schon eingangs bereits kurz skizziert, entstanden die USA als demokratisch-säkularer Staatenbund aus Einwanderinnen und Einwanderern aus nahezu allen Teilen der Welt. Dazu kommt auch noch die amerikanische Urbevölkerung mit ihren vielfältigen und kulturell reichen Naturreligionen. Anfangs konnten sich die indianischen Völker mit den Weißen noch auf dem Handelswege einigen bzw. gingen sie den Weißen aus dem Weg, um Konflikte zu vermeiden. Die unstillbare Macht- und Profitgier der Entdecker aus Europa führte aber bald zur gewaltsamen Unterdrückung und Ausbeutung der Ureinwohner, sodass sie, denen das Land eigentlich immer gehört hatte, in die statistische Bedeutungslosigkeit abgedrängt wurden.

Aus alldem lässt sich erahnen, dass es innerhalb der USA eine Vielzahl von religiösen Überzeugungen und damit von Gottesbildern gibt. Jede allgemeine, öffentliche Rede von einem Gott, der Amerika schützen soll, provoziert daher die Rückfrage, welcher Gott hier eigentlich gemeint ist. Allerdings würde eine darauf antwortende Definition dann gleichzeitig immer den Teil der Bevölkerung, der sich nicht genau zu diesem Gott bekennt, ausklammern, und damit jenes Anliegen, im Namen aller Amerikanerinnen und Amerikaner zu sprechen, verfehlen.

Wen oder was meinen die US-Politiker/innen also, wenn sie um Gottes Segen bitten und außerdem: für wen? „Amerika“ umfasst eigentlich einen ganzen Kontinent, einen größeren Teil der Erdoberfläche als nur die Fläche der Vereinigten Staaten. Brauchen Kanada, Mexiko oder die Staaten Südamerikas keinen Segen von Gott? Oder betrachten sich die US-Amerikanerinnen und Amerikaner als die einzigen Bewohnerinnen und Bewohner ihres Kontinents oder sehen sie für ihre „Nation unter Gott“, wie es in der US-Verfassung heißt, einen so besonderen Auftrag in der Welt, dass sie auch einen ganz besonderen Draht zu Gott haben?

Sich in der Öffentlichkeit als religiös zu zeigen, ein Gebet zu sprechen oder Gottes Segen für sich oder für jemand anderen herab zu rufen, wird in den USA relativ selbstverständlich akzeptiert und löst sicher weniger verwunderte Blicke aus, als wenn man das Gleiche in Graz am Hauptplatz täte. Ein Präsident, der in aller Öffentlichkeit von seinem religiösen Bekehrungserlebnis berichtet, würde sich hierzulande schnell in ein politisch zweifelhaftes Licht gerückt wieder finden und wohl kaum für keine zweite Amtsperiode gewählt werden. Was hat es also mit den US-Amerikanerinnen und –Amerikanern auf sich? Sind sie religiöser als die Bevölkerung Europas? Haben sie gar die Trennung von Kirche und Staat nur auf dem Papier vollzogen? Oder aber hat sich in den U.S.A. eine ganz besondere Form von Religion entwickelt, die losgelöst von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft funktioniert und die quasi die Quadratur des Kreises schafft, indem sie die Trennung von Kirche und Staat aufrecht erhält und sie gleichzeitig wieder unterläuft und dadurch genau jene Grundübereinstimmung liefert, derer der Staat für sein Funktionieren und seine Stabilität bedarf, die er sich selbst aber nicht geben kann?[4] Woher kommt also diese zivile Religion, wie lässt sie sich beschreiben, welche Funktion erfüllt sie innerhalb des Systems „Gesellschaft“ nach westlichem Zuschnitt und könnte sie auch in Europa die Brücken zwischen den Konfessionen und Volksgruppen bauen helfen, die sich viele so sehr wünschen und die zu bauen dem Projekt der Europäischen Union bisher nicht gelungen ist?

Nach einem Überblick über die Entwicklung des Begriffs „Zivilreligion“ soll anhand der soziologischen Systemtheorie Talcott Parsons gezeigt werden, dass die Religion in einer demokratischen Gesellschaft wesentliche Funktionen erfüllt. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, die USA als eine säkulare und demokratische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts näher unter die Lupe zu nehmen. Schließlich werde ich mit Hermann Lübbe und Rolf Schieder zwei Verfechter und mit Jürgen Moltmann einen überzeugten Gegner der Tauglichkeit eines Modells einer Zivilreligion nach US-Vorbild für Europa vorstellen und in der Schlussrunde zu guter Letzt meine eigene Position anhand des bisher Ausgeführten darstellen.

Noch eine Anmerkung zum Schluss: Innerhalb dieser Arbeit kommen ausschließlich Männer zu Wort. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Soziologinnen gäbe, die sich mit der Religion in westlichen Gesellschaften auseinander gesetzt hätten. Ein Beispiel dafür wäre die Britin Grace Davie, die mit ihrer Theorie einer „vicarious religion“ in England eine sehr detaillierte Untersuchung der gesellschaftlichen Rolle der englischen Staatskirche vorgelegt und darin festgestellt hat, dass es dort eine im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung kleine Gruppe gibt, die religiöse Aufgaben stellvertretend (vicarious) für die Gesamtbevölkerung ausführt[5].

Dennoch findet sich zum Thema „Zivilreligion“ bzw. im speziellen zur Genese der amerikanischen „civil religion“ derzeit nur Literatur von Soziologen. Deren Ausführungen beziehen sich naturgemäß immer auf die gesamte Gesellschaft, die von Frauen und Männern als Entscheidungsträgerinnen und –trägern, als Politikerinnen und Politikern gestaltet wird und in der sie als Menschen leben, die sich mit ihrer Religion, ihrem Land und ihrer Stellung innerhalb der Gesellschaft auf unterschiedliche Weise identifizieren, assoziieren und auch kritisch auseinander setzen. Daher gelten die Ausführungen in dieser Arbeit natürlich sowohl für Männer als auch für Frauen. Wann immer möglich, werde ich dies auch durch inklusive Formulierungen zum Ausdruck bringen. Zitate aus wissenschaftlichen Publikationen, die auf den Aspekt einer geschlechtergerechten Formulierung zum Zeitpunkt ihres Entstehens noch nicht in dieser ausdrücklichen Form eingegangen sind, belasse ich jedoch in ihrer jeweiligen Form. Die betreffenden Textpassagen sind aus dem Zusammenhang ihrer Aussagen also sofern zutreffend als inklusiv zu betrachten.

2. Geschichte und Entstehung des Begriffs „Zivilreligion“

2.1. Die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika als Vorgeschichte der „civil religion“

Die USA sind die zweitälteste[6] Demokratie der Welt. Sie besteht in unveränderter Form seit ihrer Gründung im Jahre 1787. Ihre Verfassung wurde zwar bisher mit 26 Änderungen versehen[7], besitzt aber nach wie vor ihre Gültigkeit. Präsidenten wurden gewählt, leiteten die Geschicke des Landes für eine oder auch zwei Perioden und gingen anschließend in die Geschichte ein. Manche von ihnen legten ihre Amtsgeschäfte schon vor dem eigentlichen Ende zurück oder wurden (was bisher aber nur vier Mal vorkam[8]) Opfer eines Attentates. Im Geschichtsunterricht gehört es zum Grundwissen der Schulkinder, die wichtigsten Präsidenten im Verlauf der Geschichte ihres Landes zu kennen. Wer in die Hauptstadt Washington kommt, kann dort die monumentalen Denkmäler z.B. für Franklin D. Roosevelt, Thomas Jefferson oder auch für Abraham Lincoln bewundern, jener Präsident, in dessen Amtszeit der Bürgerkrieg zwischen Nord- und konföderierten Südstaaten fällt und dem hinsichtlich der Abschaffung der Sklaverei in den USA eine bedeutende Rolle zukommt. Lincoln ist zweifellos einer der berühmtesten Präsidenten und hat sich große Verdienste um die USA erworben, für die er großes Ansehen genießt. Dieses reicht sogar bis zu einer fast religiösen Verehrung als Erlöser, der durch die Anfechtungen der Kriegsjahre geläutert wurde, wie wir etwas später (vgl. Abs. 1.3) noch erfahren werden.

Die Geschichte Amerikas ist aber eine noch viel ältere als jene der Vereinigten Staaten von Amerika.

Lange bevor Christopher Columbus Ende des 15. Jahrhunderts mit seinen Schiffen die Neue Welt erreichte, hatten es bereits die Wikinger geschafft, in Neufundland an der heutigen kanadischen Atlantikküste anzulegen. Anders als Columbus, der bis heute als der offizielle Entdecker Amerikas gilt, hatte ihre Landung keine weiteren Auswirkungen auf die Kultur der Neuen Welt und es kam, soweit man heute weiß, zu keinerlei Kontaktaufnahme mit den Ureinwohnern, deren Vorfahren den amerikanischen Kontinent zwischen 23.000v.Chr. und 8.000 v.Chr. von Nordostasien kommend über das Gebiet der Beringstraße besiedelt hatten.[9]

Columbus brachte die erste große Wende in der Geschichte des Kontinents, als nach seiner Ankunft die systematische Erkundung der Neuen Welt begann, mit dem Ziel, neues Hoheitsgebiet für die europäischen Monarchinnen und Monarchen zu erobern und die dortigen Bodenschätze für die jeweilige Krone in Besitz zu nehmen und den aus der Sicht der Eroberer „wilden“ Ureinwohnern die europäische Kultur und Zivilisation zu vermitteln. Hand in Hand mit der Kolonialisierung, die in Nordamerika vorwiegend durch die Briten, in Mittel- und Südamerika durch die Spanier und die Portugiesen erfolgte[10], ging die (öfter gewaltsame als friedliche) Verbreitung der (katholischen) Religion vor sich.

Während der Kolonialzeit zwischen 1607 und 1776 entwickelten sich die Kolonien der Neuen Welt (aus denen später die USA entstehen sollten) in drei großen Regionen: Im Norden (in Neuengland) hatten sich ab 1620 die Pilgerväter (britische Puritaner, die mit einem Schiff namens „Mayflower“ den Atlantik überquert hatten) niedergelassen und betrieben dort Handel, Fischerei und Schifffahrt. Ein anderer Teil der Bevölkerung bewirtschaftete eine eigene Farm. Weiter südlich hatten sich die mittelatlantischen Kolonien (Neu Amsterdam, das später New York wurde, Maryland, Pennsylvania) einen hohen Grad von Religionsfreiheit und Lebensstandard geschaffen. Ganz im Süden schließlich wurde in Plantagenwirtschaft auf großen Monokulturen und mit Sklavenarbeitern Tabak, Reis und Getreide angebaut.[11] Die Abhängigkeit vom Mutterland England brachte jedoch im Laufe der Zeit immer mehr Spannungen mit sich und führte schließlich aus wirtschaftlichen und politischen Gründen zum Bruch mit England und mündete in der Gründung des neuen, unabhängigen Staatenbundes der USA.

Auf der Suche nach den Ursprüngen der „civil religion“ in den USA spielen die im Jahre 1620 aus ihrer Heimat England ausgewanderten Pilgerväter im Norden des Landes eine wesentliche Rolle, denn ihre religiösen Überzeugungen und ihre puritanischen Ideen lieferten neben jenen der französischen Aufklärung den Nährboden für die weitere Entwicklung der „civil religion“ in den USA.

Wer waren diese Leute und warum hatten sie ihr Land verlassen? Ausgangspunkt war ihre oppositionelle Haltung gegenüber der anglikanischen Kirche, in der sie sich gegen deren Kultusfrömmigkeit wandten und die persönliche Heiligung jeder und jedes Einzelnen propagierten.[12] Außerdem bevorzugten sie eine presbyterianische Kirchenverfassung bzw. völlige (kongregationale) Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden.[13] Nachdem sie zuhause vergeblich versucht hatten, ihre Anliegen durchzusetzen, wanderten sie zum Teil ab dem Jahre 1620 in die Neue Welt aus. Jene, die das nicht taten, verbündeten sich mit der politischen Opposition und erreichten schließlich im Jahre 1689 die Gleichberechtigung.

Für die Entwicklung der amerikanischen „civil religion“ ist die Zeit, zu der die Puritaner in England lebten, insofern wichtig, als dass sich dort im 16. und 17. Jahrhundert bereits die Vorstellung einer von Gott auserwählten Nation entwickelt hatte.[14] Man dachte, Martin Luther wäre ohne den Theologen John Wycliffe, der ihrer Meinung nach die reine Wahrheit über Gott verkündet hatte, wohl für immer ein (katholischer) Mönch geblieben und Gott wäre England von Heinrich VIII. bis hin zu seiner Tochter Elisabeth I. stets beigestanden. Der Sieg über das Papsttum und die Vormachtstellung Englands auf den Weltmeeren wurden als Beweise dafür angesehen. Ähnlich dem jüdischen Volke hatte auch England offenbar einen Bund mit Gott geschlossen. Bei aller Bevorzugung bedeutete dieser Bund aber auch gleichzeitig eine besondere Verantwortung gegenüber Gott.[15] Aus dieser Überzeugung heraus brachten die Pilgerväter (und praktisch sicher auch –mütter, wenngleich der historische Terminus nur männlich existiert) den Gedanken eines neuen Israel mit nach Amerika. Der Umsturz in ihrer Heimat und ihr Aufbruch nach Amerika wurden als Exodus gesehen, die Fahrt über den Atlantik mit der biblischen Durchquerung des Roten Meeres verglichen. Später dann, als in den USA die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung verkündet wurden, sahen viele darin Parallelen zu den beiden Tafeln des Dekalogs und verglichen George Washington mit Moses, der sein Volk ins Gelobte Land führt.[16] (Aus einem exegetischen Blickwinkel hinkt vor allem der letzte Vergleich deshalb sehr, weil Mose am Ende des Buches Deuteronomium in der Bibel zwar das Land im Blick hat, es aber nicht mehr erreicht und stirbt.)

Innerhalb der Literatur zur Debatte rund um die Existenz einer „civil religion“ bzw. deren Entstehung scheiden sich die Geister daran, ob eher puritanische oder eher aufklärerische Ideen den entscheidenden Zündfunken geliefert hätten. Sidney E. Mead (von dem wir etwas später noch hören werden) wollte seine „Religion der Republik“ ausschließlich auf das geistige Fundament der Aufklärung gegründet wissen, Robert D. Linder wiederum sieht angesichts der in den USA weit verbreiteten Überzeugung, eine auserwählte Nation zu sein, eher puritanische Wurzeln .[17] Andere wiederum argumentieren, dass gerade deshalb, weil die Puritaner ein dualistisches Weltbild vertreten (also: hier die Guten, dort die Bösen, dazwischen gibt es nichts), könnten sie mit einer solchen Konsensreligion, wie es die „civil religion“ ja in gewisser Weise ist, nichts anfangen.[18] Es war aber nicht nur das dualistische Konzept oder ihr Bewusstsein der Erwählung, das die Puritaner anfällig für Intoleranz gegenüber anderen Religionen machte, sondern auch der Millennialismus, der, folgt man der These von Ernest Lee Tuveson[19], im 19. Jahrhundert in den USA religiöser Konsens gewesen war. Tuveson interpretiert das letzte Buch der Bibel, die Johannesoffenbarung, als historischen Prozess, der im Sinne einer realen Eschatologie verstanden wurde, die Ereignisse beschreibt, die kurz bevorstünden, der neu entdeckte Kontinent, die Neue Welt wurde als Realisierung des Neuen Jerusalems der Offenbarung gedeutet.

Wie Rolf Schieder in seiner Dissertation, die dieser Arbeit über weite Strecken als Leitfaden dient, heraus streicht, gibt es aber zwischen den weitestgehend gegensätzlichen Ansätzen der Aufklärung und des Puritanismus doch auch Gemeinsamkeiten[20], die es nicht zu übersehen gilt: Da wäre zum einen die Ablehnung der alten Ordnung in Europa und die prinzipielle Einigkeit darüber, dass es eine neue, bessere Gesellschaft zu errichten gelte. Diese neue, bessere Gesellschaft sollte auch die Eigenverantwortung stärker betonen.

Die Geburtswehen der USA (Loslösung vom Kolonialdasein, Revolution und Bürgerkrieg) brachten schließlich zwei Persönlichkeiten zur Welt, die bis heute quasi als Nationalheilige verehrt werden: George Washington und Abraham Lincoln. Washington, als der erste Präsident der USA, wurde manchmal mit Mose verglichen und um seine Person ranken sich zahlreiche Mythen. Lincoln bewahrte das Land vor einer drohenden Spaltung in einen Nord- und Südteil und setzte sich für die Abschaffung der Sklaverei ein. Sein Tod nach einem Attentat an einem Karfreitag wurde bald als Opfer für die Nation verstanden. Die Analogie zu Jesu Kreuzestod lag für viele auf der Hand. Auch wenn seine Rolle im Civil War unter Historikerinnen und Historikern zwiespältig beurteilt wird, ist er doch eine ganz zentrale Persönlichkeit in der amerikanischen Geschichte. Für Robert N. Bellah sogar so zentral, dass er Lincoln als Repräsentanten von „civil religion at its best“ bezeichnet hat.[21]

Soweit also ein kurzer Überblick über einige wichtige Stationen in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, die für die Entstehung der „civil religion“ von Bedeutung sind. Im folgenden Kapitel wollen wir uns näher mit der Entstehungsgeschichte des Begriffs an sich befassen.

2.2. „Religion civile“ bei Jean Jacques Rousseau

Der englische Begriff „civil religion“ geht zurück auf den französisch-schweizerischen Philosophen Jean Jacques Rousseau. Rousseau lebte von 1712 bis 1778 und wurde somit noch ganz knapp zum Zeitzeugen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, der 1775 begann. Mit seiner Philosophie gilt er als einer der wichtigsten Wegbereiter der französischen Revolution. Eines seiner wohl bekanntesten Werke zur Staatstheorie ist „Der Gesellschaftsvertrag“, im französischen Original „contrat social“. Dort, im achten Kapitel des letzten von insgesamt 4 Büchern, setzt er sich auch mit der Rolle der Religion in den verschiedenen Staatssystemen der Menschheitsgeschichte kritisch auseinander.[22] Diese bestimmt er als anfänglich theokratische Religion, deren Einfluss- und Machtbereich auf jenen der jeweiligen Gesellschaft begrenzt war, was dazu führte, dass es so viele Götter wie Völker gab.[23] Jeder Staat hatte also seine eigenen Gesetze und seine eigene Religionsverfassung und machte zwischen seinen Gesetzen und seinen Göttern keinen Unterschied. Der Gott des einen Volkes hatte keine Macht über das andere Volk, die Grenze des eigenen Staatsgebietes war gleichzeitig die Grenze seines Machtbereiches.[24] Diese Deckungsgleichheit zwischen Politik und Religion führte dazu, dass jeder politische Krieg automatisch auch ein Religionskampf war.[25]. Besiegte Völker wurden unterjocht, deren Gott bzw. deren Götter wurden als nichtig betrachtet, der eigene Gott hatte die Schlacht gewonnen.

Mit der Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus Christus sieht Rousseau den Beginn der Trennung zwischen theologischem und politischem System. Die Ausrichtung auf eine Vollendung des eigenen Lebens bei Gott und die Verbindung aller Christen untereinander, die sogar den Tod überdauert, betrachtet Rousseau aber höchst zwiespältig. Für ihn liegt in genau dieser Abwendung der Aufmerksamkeit vom irdischen in ein jenseitiges Leben die Ursache für den Verlust der Einheit des Staates und der Ausgangspunkt für genau jene inneren Spannungen, „welche nie aufhörten, die christlichen Völker zu beunruhigen.“[26] Außerdem wirft er den Christen vor, sie würden sich nur zum Schein so lange unter Verweis auf die Nachrangigkeit des irdischen Daseins angesichts der eschatologischen Vollendung der weltlichen Autorität unterwerfen, bis sie die Chance bekämen, selbst die Macht zu ergreifen und anstelle eines „überirdischen Reiche[s] entstand in kurzer Zeit unter einem sichtbaren Oberhaupte der gewaltsamste Despotismus auf der Erde selbst.“[27] Durch diese doppelte Gerichtsbarkeit zwischen weltlicher Gewalt samt deren bürgerlichen Gesetzen und der kirchlichen Macht in Bezug auf das Reich Gottes geraten die Staatsbürgerinnen und –bürger in einen ständigen Konflikt, wem sie nun Gehorsam schuldig wären.[28]

Ohne Religion wäre, so räumt Rousseau dann doch ein, noch kein Staat gegründet worden, es gelte aber zu unterscheiden, welchen Begriff von Religion man verwendet.

Er unterscheidet drei Religionen:[29]

1. die Religion des Menschen (die innere, individuelle Verehrung Gottes als höchstem Wesen durch jeden bzw. jede Einzelne/n)
2. die Religion des Staatsbürgers (ist beschränkt auf ein Land, gibt ihm seine Glaubenssätze und Gebräuche und hat einen gesetzlich vorgeschriebenen Gottesdienst. Alle anderen Völker gelten als ungläubig, fremd und barbarisch.) und
3. die Priesterreligionen (geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit, zwei Oberhäupter).

Letztere sind für ihn aus staatstheoretischer Sicht „so offenbar schlecht, dass es Zeitverlust wäre, dies ausführlich zu beweisen“[30], weil sie zwei Gesetzgebungen (eine himmlische und eine irdische) entwerfen, die die Staatsbürger einander widersprechenden Pflichten unterwerfen und es „ihnen daher unmöglich machen, gute Bürger zu sein. […] Alle Einrichtungen, die den Menschen in Widerspruch mit sich selbst setzen, sind nichts wert.“[31].

Die Religion des Staatsbürgers verbindet zwar die Liebe zu Gott mit der Liebe zu den Gesetzen und motiviert die Menschen dadurch, dass sie treuen und gewissenhaften Dienst am Staat mit dem Dienst an Gott gleichsetzen, sie ist jedoch letzten Endes eine Theokratie, in der die Gottesverehrung schnell zu reinem Formalismus verkommt und das Volk überdies anfällig macht für Unduldsamkeit anderen gegenüber. Eine solche Unduldsamkeit äußert sich rasch darin, zu glauben, all jene, die den eigenen Glauben nicht teilen, zu vertilgen, wäre ein heiliges Werk.[32]

Die einzige dann noch verbleibende Religion des Menschen, in der es um die individuelle Beziehung zu Gott geht, eignet sich aber ebenso wenig als staatstragende Religion, weil sie mit der bürgerlichen Verfassung in keiner besonderen Beziehung steht.[33] Sie lenkt nämlich die Aufmerksamkeit und die Herzen der Menschen von der irdischen Gemeinschaft weg auf die eschatologische Gemeinschaft mit Gott hin. Gerade weil das Reich Gottes des Evangeliums nicht von dieser Welt ist, gibt es keinen Grund, sich hier und jetzt für den Staat anzustrengen oder sich innerhalb eines blühenden Staatswesens von Herzen wohl zu fühlen.

Schließlich bringt Rousseau seine Theorie, wie ein Staat konstruiert sein muss, damit er ein solides Fundament aufweist, auf den Punkt: Der Souverän hat über seine Untertanen nur soviel Macht, wie es „der Zweck des allgemein Besten erfordert.“[34] Die Meinungen seiner Bürger gehen ihn nur soweit etwas an, wie sie auf das Gemeinwesen Bezug haben. Eine solche Meinung ist für Rousseau auch die Religion, so lange sie sich auf Bereiche bezieht, die seinen Einflussbereich (also das Irdische) überschreiten. Innerhalb des gemeinschaftlichen Bereiches gibt es jedoch sehr wohl Lehrsätze, die der Herrscher bestimmen kann. Solche Vernunftwahrheiten sind keine religiösen Lehren im klassischen Sinne, sondern Richtlinien, die festlegen, welches Verhalten jemand zu einem guten Bürger bzw. einer guten Bürgerin macht. Wiewohl der Souverän nicht das Recht hat, jemandem diese Werte aufzuzwingen, so hat er doch das Recht, jemanden, der sich weigert, diese anzunehmen, des Landes zu verweisen, weil er bzw. sie nicht in die Gesellschaft passt.[35]

Damit eine solche bürgerliche Religion als Fundament eines Staates taugt, sollen sich ihre Lehrsätze auf wenige beschränken, die einfach, aber bestimmt formuliert sein müssen, sodass sie nicht ausgelegt werden müssen, sondern von allen ohne Vermittlung durch Dritte verstanden werden können: der Glaube an eine Gottheit, die weise, allmächtig, allwissend und wohltätig ist, die Überzeugung, dass es ein Leben nach dem Tode gibt, dass die Gerechten belohnt und die Bösen bestraft werden und dass der Gesellschaftsvertrag und seine Gesetze heilig sind.[36] Die Zustimmung zu diesen Grundsätzen ist nicht verhandelbar und auch nicht kompromissfähig. Wer diese Grundsätze nicht anerkennt, wird von der Gesellschaft ausgestoßen. Die individuelle Entscheidung wird zur Kenntnis genommen und geduldet. Eine Unduldsamkeit ihnen gegenüber ist dem Konzept von Rousseau fremd. Sie wird den anderen Religionen überlassen. Bürgerliche und kirchliche Unduldsamkeit könne man dabei nicht voneinander trennen, denn jede Bürgerin und jeder Bürger des Staates im Sinne von Rousseau ist automatisch auch ein Mitglied der religiösen Gemeinschaft, die sich zu den Grundsätzen der „réligion civile“ bekennt. Mit jenen, die sich nicht zu allen Grundsätzen bekennen, könne man nicht zusammenleben. Für Rousseau ist eine duldende Akzeptanz jener Fremdlinge innerhalb der Gemeinschaft undenkbar.

Wie sich hier sehr deutlich zeigt, unterscheidet sich das Konzept Rousseaus von späteren Konzepten dadurch, dass es bekenntnispflichtig ist. Das bedeutet, dass sich jede Bürgerin und jeder Bürger diesem Grundkonsens unterwerfen und sich aktiv zu ihm bekennen muss. Anderenfalls wird er bzw. sie ausgestoßen, weil er bzw. sie sich dem allgemeinen Willen der Gesellschaft als Einheit nicht unterwirft. Dieser unzerstörbare allgemeine Wille lässt alle Menschen innerhalb des Staates wie ein einziger handeln und erzeugt mangels einander widersprechender Interessen Friede, Einigkeit und Gleichheit.[37]. Und um diesen Willen aufrecht zu erhalten braucht es eine gemeinsame bürgerliche Religion, die dazu dient, die Moral der Staatsbürgerinnen und –bürger zu transportieren.[38] Gerade aber weil nach der Aufklärung unter den Bedingungen der Religionsfreiheit ein solches Bekenntnis gerade nicht einklagbar ist, konnte sich in weiterer Folge die ganze Diskussion rund um das Thema Zivilreligion überhaupt entwickeln.

2.3. “Civil religion” bei Robert N. Bellah

2.3.1. Zur Person Robert N. Bellahs

Robert Neely Bellah wurde im Jahre 1927 in Altus, Oaklahoma (USA) geboren. Er erwarb sich seine wissenschaftliche Ausbildung an der Harvard Universität in den USA, wo er 1950 den Bachelor und im Jahre 1955 den Doktortitel erwarb. Danach verbrachte er einige Zeit in Japan, um mit einem Fulbright Stipendium soziologische Untersuchungen durchzuführen, bevor er 1961 nach Harvard zurückkehrte und dort bis 1966 lehrte. 1967 schließlich wurde er als ordentlicher Professor für Soziologie und vergleichende Studien an die Universität von Berkeley in Kalifornien berufen, an der seither lehrt[39]. Im Dezember 2000 wurde ihm vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton eine hohe Auszeichnung in Form der „ United States National Humanities Medal“[40] verliehen. Clinton bezeichnete Bellah in seiner Laudatio als einen bedeutenden Soziologen und Lehrer, dessen Forschungsarbeit stets „die Wichtigkeit von Gemeinschaft innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu erleuchten“[41] hervorhob.

2.3.2. Zur These einer „civil religion“ in den USA

Unter den demokratischen Staaten der Welt nehmen die USA eine Sonderstellung ein. Nicht nur, weil sie nach San Marino die älteste Demokratie der Welt sind, sondern auch, weil sich dort im Hinblick auf die Rolle der Religion in der Gesellschaft eine Sonderform heraus gebildet hat. Der amerikanische Soziologe Robert N. Bellah brachte mit seinem Essay „Civil Religion in America“ aus dem Jahre 1967 den Begriff der „civil religion“ in gewisser Weise auf die Welt, sprich: auf das Parkett der öffentlichen Diskussion.

Robert Bellah war von der Resonanz seines Essays überrascht, denn eigentlich hatte er lediglich einen Vortrag überarbeitet, den er einige Zeit zuvor vor einer Gruppe von japanischen Studenten gehalten hatte, um ihnen den Zusammenhang von Politik und Religion in den USA zu erklären.[42] Bellahs Theorie basiert auf der soziologischen Systemtheorie seines Lehrers Talcott Parsons, die im nächsten Kapitel ausführlich behandelt werden wird. Dabei geht es vereinfacht gesagt darum, dass die Religion innerhalb der Gesellschaft eine ganz besondere Funktion erfüllt und damit auf einen bestimmten Problemlösungsbedarf reagiert. Der Zusammenhang zwischen Funktion und dem Bedarf einer Problemlösung ist in Parsons Systemtheorie untrennbar, weil er die analytische Arbeit erst in Gang bringt.[43] Je nachdem, welches Problem man unter die Lupe nimmt, erhält man die entsprechende Funktion von Religion dazu. Wie sich im Verlauf dieser Arbeit bei Niklas Luhmann noch zeigen wird, sieht sich das Individuum in einer modernen Gesellschaft einer Vielzahl von funktional differenzierten Bereichen gegenüber, in die es sich unterschiedlich stark integriert, aber quasi auf jedem dieser gesellschaftlichen Inselbereiche nur mit einem halben Fuß steht. Eine insgesamt integrierende und ausgleichende Instanz fehlt. Die Religion kann in diesem Fall eine solche integrierende Funktion erfüllen, indem sie eine Brücke zwischen diesen einzelnen funktional differenzierten Segmenten schafft.

In seinem Essay macht Bellah deutlich, dass seiner Ansicht nach ein demokratisches, pluralistisches und sozialen Veränderungen aufgeschlossenes Land eine Ideologie mit einer transzendenten Dimension braucht.[44] Diese, so Bellah weiter, könne nicht gleichgesetzt werden mit einer Vergöttlichung der Bürgerinnen und Bürger, denn genau diese habe seiner Ansicht nach im 20. Jahrhundert zu Verbrechen geführt, die den Vergleich mit jenen, die aus der Vergöttlichung eines absoluten Herrschers heraus entstanden sind, nicht zu scheuen brauchen.[45] Er ist überzeugt, dass es in den USA neben den Kirchen eine deutlich von ihnen unterschiedene und trotzdem stark institutionalisierte Zivilreligion gibt.[46]

Darin liegt eigentlich ein Widerspruch: Wie kann diese Zivilreligion, die er weiter hinten in seinem Essay als „religiöse Dimension“ bezeichnet, von den Kirchen deutlich unterschieden und gleichzeitig gut institutionalisiert sein? Rolf Schieder interpretiert Bellahs Ausführungen dahingehend, dass er für die „civil religion“ keinen empirischen Status einfordert, sondern sie auf der gleichen theoretischen Ebene wie die etablierten Religionen behandeln möchte.[47] Er räumt ein, dass das Christentum einen großen Einfluss auf diese von ihm bezeichnete Zivilreligion gehabt habe, eine Gleichsetzung lehnt er jedoch ab. Religion in einem solchen funktional definierten, soziologischen Sinne ist mehr als kirchlich verfasste Religion.[48]

Als Beispiel für seine These führt Bellah in seinem Essay die Angelobungsansprache von Präsident John F. Kennedy im Jahre 1961 an. In dieser feierlichen Rede hatte der neu gewählte Präsident drei Mal das Wort „god“ verwendet: wie seine Vorgänger habe er vor den Amerikanerinnen und Amerikanern und „vor Gott dem Allmächtigen“[49] seinen Eid geleistet. Außerdem leiten sich seiner Ansicht nach die Rechte aller Menschen nicht von der Großzügigkeit eines Staates, sondern von der „Hand Gottes“[50] ab. Er verspricht, „aufzubrechen, [um] das Land, das wir alle lieben, zu führen und dabei Seinen Segen und Seine Hilfe zu erbitten, wissend, dass Gottes Werk zu tun wahrhaftig unser aller Aufgabe ist.“[51] Dass sich der Präsident hier demütig Gott unterwirft, ist mehr als eine bloße rhetorische Instrumentalisierung Gottes, um bei den Wählerinnen und Wählern gut anzukommen. Sie bringt vielmehr jene tief sitzenden Wertvorstellungen der Menschen im Lande und deren Hingabe zum Ausdruck, die sie in ihrem Alltagsleben nicht artikulieren.[52] Diesem Standpunkt liegt ein Verständnis von Religion zugrunde, das über bestehende dogmatische Differenzen hinausgeht und Religion in einem breiteren als einem nur kirchlich verfassten Sinne gesellschaftlich zu verorten versucht.[53]

Um diese Antrittsrede Kennedys richtig verstehen zu können, muss man sich laut Bellah bewusst machen, dass es in den USA eine strikte Trennung von Kirche und Staat gibt. Deshalb muss der Katholik John F. Kennedy in seiner Rede auch seine persönliche kirchliche Zugehörigkeit hintan stellen und sich als Präsident aller Amerikanerinnen und Amerikaner präsentieren. Dies bedeutet aber nicht, dass die Politik deshalb keine religiöse Dimension habe.[54] Vielmehr bezeichnet Bellah diese öffentliche religiöse Dimension, die sich in einem Set von Glaubensrichtungen, Symbolen und Ritualen ausdrückt, als „die Amerikanische Zivilreligion“[55]. Als erster und bisher einziger katholischer Präsident der USA praktizierte John F. Kennedy die Trennung von Kirche und Staat, wie sie die Verfassung vorsieht, dadurch, dass er religiöse Begriffe wie z.B. Gott, Glaube oder die Vorsehung so verwendete, dass man daraus nicht ablesen konnte, ob er ein Protestant oder ein Katholik war. Dieses Appellieren an einen religiösen Grundkonsens ermöglicht es jeder und jedem, seinen Aussagen zuzustimmen, ganz egal, welcher Konfession man angehört.[56]

Wie sieht er nun aus, dieser religiöse Grundkonsens der USA bei Robert Bellah? Da wären zum einen die Überzeugung, dass die politische Macht vom Volke ausgeht und zum anderen das Festhalten an den Rechten der Bürgerinnen und Bürger, die eine unabhängig von der politischen Struktur grundlegende Basis der Gesellschaft bilden. Alle, die Verantwortung in der Politik übernehmen, werden vom Volk eingesetzt und legitimiert, sind aber im Sinne des transzendenten Zieles, Gottes Willen auf Erden auszuführen, in letzter Konsequenz auch Gott gegenüber verantwortlich.[57] Mit dieser Verantwortung gegenüber Gott betont Bellah die Notwendigkeit eines transzendenten Charakters der Zivilreligion. Anderenfalls könnte nämlich die Überzeugung, es gäbe so etwas wie ein von Gott vorherbestimmtes Schicksal, sehr schnell für imperialistische Zwecke missbraucht werden und es ist ihm auch bewusst, dass in der Vergangenheit damit bereits viel Unrecht angerichtet worden ist.[58] Bellah ist sich also durchaus bewusst, dass eine Zivilreligion nicht gänzlich ungefährlich ist, bleibt aber dennoch zuversichtlich, dass sich eines Tages sogar eine weltweite Zivilreligion nach amerikanischem Vorbild etablieren könnte. Und mehr noch: Er sieht darin sogar die „eschatologische Hoffnung der Civil Religion von Anfang an“[59], beeilt sich dann aber gleich anzumerken, dass es unter dem Deckmantel, den Willen Gottes zu erfüllen, auch im Namen der Zivilreligion Missbrauch gegeben hat. Die Vereinigten Staaten seien eben auch nur ein Volk von beinahe auserwählten Leuten.[60] Trotz aller Ambivalenz ist er aber davon überzeugt, dass die Welt von der Zivilreligion der USA trotzdem sehr viel lernen könne, weil sie eine moralische und religiöse Erfahrung sei.[61]

Wie Rolf Schieder in seiner Analyse des Daedalus-Artikels feststellt, hat Bellah darin keine wissenschaftliche Theorie einer Civil Religion erstellt, sondern diese nach einem trinitarischen, dogmatischen Muster entworfen. Nach der vorhin kurz skizzierten Analyse der Angelobungsansprache von Präsident John F. Kennedy beschreibt Bellah im weiteren Verlauf seines Artikels eine an biblischen Motiven orientierte Struktur der Civil Religion:[62] von der Schöpfung der Republik über den Exodus der Gründerväter (und –mütter?) als auserwähltem Volk und dessen Verheißung vom Gelobten Land bis hin zur symbolischen Gleichsetzung von Präsident Abraham Lincoln mit Jesus Christus. Was bei Rolf Schieder unter den Tisch fällt, zeigt eine nähere Analyse der Quellen des Daedalus-Artikels auf: Es war nämlich nicht Bellah, der diese Parallele als Erster zog, sondern William Henry Herndon.

[...]


[1] Vgl. Herberg, William Henry: Protestant – Catholic – Jew. An Essay in American Religous Sociology. New York: Doubleday 11956, 20.

[2] Vgl. ebenda.

[3] Schieder, Rolf: Art. Civil Religion, in: LThK3 2 (1994), 1207.

[4] Dieser Grundwiderspruch des modernen, wertneutralen und säkularen Staates wurde von Ernst Wolfgang Böckenförde aufgezeigt und seither immer wieder aufgegriffen. Vgl. dazu: Böckenförde, Ernst Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt: Suhrkamp 1976, 60.

[5] Vgl. Davie, Grace: Religion in modern Europe : a memory mutates . Oxford: Oxford Univ. Press, 2005 (=European societies ).

[6] Abgesehen von der Republik San Marino, die seit dem 4. Jahrhundert besteht.

[7] Vgl. Vereinigte Staaten von Amerika. Artikel in: dtv Lexikon. München: Deutscher Taschenbuchverlag 41999 (19) 122 – 133, hier: 122.

[8] Republikaner leben als Präsidenten übrigens gefährlich: drei der vier bisher in Ausübung ihres Amtes ermordeten US-Präsidenten gehörten dieser Partei an.

[9] Vgl. Amerika. Artikel in: dtv Lexikon. München: Deutscher Taschenbuchverlag 41999 (1) 156 – 162, hier: 156.

[10] Vgl. ebenda.

[11] Vgl. Vereinigte Staaten, Artikel, 127.

[12] Vgl. Puritaner. Artikel in: dtv Lexikon. München: Deutscher Taschenbuchverlag 41999 (14) 324.

[13] Vgl. ebenda.

[14] Vgl. Schieder, Rolf: Civil Religion. Die religiöse Dimension der politischen Kultur. Gütersloh: Verlagshaus Mohn 11987, 56.

[15] Vgl. ebenda., 57.

[16] Vgl. ebenda.

[17] Vgl. ebenda.

[18] Vgl. ebenda., 58.

[19] Vgl. Tuveson, Ernest Lee: Redeemer Nation. The Idea Of America’s Millennial Role. Chicago: Midway Reprint Series 1980 (=University Of Chicago Press).

[20] Vgl. Schieder, Civil Religion, 59.

[21] Vgl. ebenda., 62.

[22] Vgl. Rousseau, Jean Jacques: Der Gesellschaftsvertrag. Zürich: Pegasus Verlag 11946, 157 – 170 (=Der Staat als Theorie, Band 1).

[23] Vgl. ebenda., 157.

[24] Vgl. ebenda., 158.

[25] Ebenda.

[26] Rousseau, 159.

[27] Rousseau, 160.

[28] Vgl. ebenda.

[29] Vgl. ebenda., 162f.

[30] Rousseau, 163.

[31] Ebenda.

[32] Ebenda., 164.

[33] Vgl. ebenda.

[34] Rousseau, 167.

[35] Vgl. ebenda., 168.

[36] Vgl. ebenda., 169.

[37] Vgl. ebenda., 125.

[38] Vgl. Schieder, Civil Religion, 52.

[39] Vgl. Bellah, Robert Neely, in: Encyclopedia Britannica online (2. April 2008): http://www.britannica.com/eb/article-9001769/Robert-Neelly-Bellah.

[40] Vgl. Bellah, Robert Neely, in: Robert Bellah online. Biography (2. April 2008): http://www.robertbellah.com/biography.html.

[41] Ebenda., [Übersetzt von M.L.]

[42] Vgl. Schieder, 85.

[43] Vgl. ebenda., 88.

[44] Vgl. ebenda., 123.

[45] Vgl. Bellah, Robert N: Civil Religion in America, in: http://www.robertbellah.com/articles_5.htm [Aufgerufen am 11. März 2008, übersetzt von M.L.].

[46] Vgl. Schieder, Civil Religion, 125.

[47] Vgl. ebenda., 126.

[48] Vgl. ebenda.

[49] Vgl. Kennedy, John F.: Inaugural Address. In: http://www.bartleby.com/124/pres56.html [aufgerufen am 10. März 2008, übersetzt von M.L.].

[50] Vgl. ebenda.

[51] Vgl. ebenda.

[52] Vgl. Bellah, Civil Religion, 2 [übersetzt von M.L.].

[53] Vgl. Schieder, Civil Religion, 126.

[54] Vgl. ebenda.

[55] Bellah, Civil Religion, 2 [übersetzt von M.L.]

[56] Vgl. Schieder, Civil Religion, 127.

[57] Vgl. ebenda., 127 [englische Zitate übersetzt von M.L.]

[58] Vgl. Schieder, Civil Religion, 128.

[59] Vgl. ebenda. [übersetzt von M.L.]

[60] Vgl. ebenda.

[61] Vgl. ebenda.

[62] Vgl. Schieder, Civil Religion, 128 - 131.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Zivilreligion "Made in the U.S.A." - (K)ein Modell für Europa?
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
98
Katalognummer
V121032
ISBN (eBook)
9783640252046
ISBN (Buch)
9783640252121
Dateigröße
7508 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zivilreligion, Made, Modell, Europa
Arbeit zitieren
Mag. Markus Löhnert (Autor:in), 2008, Zivilreligion "Made in the U.S.A." - (K)ein Modell für Europa?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121032

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