Am 1. November 1755 ereignete sich in Lissabon eine der bis dato gravierendsten Naturkatastrophen in der europäischen Geschichte. Das Erdbeben von Lissabon zerstörte nicht nur große Teile der portugiesischen und damit einer christlichen Hauptstadt, sondern auch das Welt- und Gottesbild des 18. Jahrhunderts. Die neuen Gedanken der Aufklärung und der daraus resultierende Pantheismus schwächte die Kirche als Institution und den Glauben an einen biblischen Gott.
Die Theodizee-Frage widmet sich nun der Frage, warum ein Gott das Böse und Leid zulässt, wenn er doch, nach
christlicher Vorstellung, die höchste Macht besitzen müsste und gleichzeitig barmherzig sei. Vordenker und Begründer des Begriffes "Theodicee" war der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz. Er leitete diesen Begriff von den griechischen Nomen theós (Gott) und díke (Gerechtigkeit) ab und versuchte in seinem 1710 veröffentlichten Essay "Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels" zu beweisen, dass das Bösen nicht der Güte Gottes widerspreche und dass die bestehende Welt die beste aller möglichen Welten sei.
Nicht nur von Kants Schriften, sondern auch vom Erdbeben in Lissabon, sowie der entstandenen Debatte beflügelt schrieb Kleist 1806 die Novelle "Erdbeben in Chili", welches im September 1807 erstmals im Tübinger "Morgenblatt für gebildete Stände " unter dem Titel "Jeronimo und Josephe" veröffentlicht wurde. Den späteren, uns bekannten, Titel wählte Kleist weil er den Fokus nicht mehr auf die Liebesgeschichte der Protagonisten, sondern auf die Naturkatastrophe legen wollte.
Im Folgenden wird zunächst der Theodizee-Diskurs unter besonderer Beachtung von Leibnitz, Voltaire und Kant betrachtet um im Anschluss die Gedanken dieser Philosophen auf die Novelle zu beziehen. Dabei liegt der Fokus auf der Interpretation des Erdbebens, sowie der des Massakers. Diese Thematik ist wohl die meist erforschte in der Sekundärliteratur zu Kleists Das Erdbeben in Chili. Trotzdem und auch gerade deshalb werde ich mich seltener auf eine bestimmte Interpretation stützen. Zum Schluss soll das Erklärungsmuster des Zufalls dem gegenübergestellt werden. Dabei wird in dieser Hausarbeit auch die Existenzfrage Gottes nicht ausgelassen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Theodizee-Debatte nach dem Erdbeben von Lissabon
- Die verschiedenen Deutungen des Erdbebens
- Die Utopie des Paradieses
- Das finale Massaker
- Die Bedeutung des Zufalls
- Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ im Kontext der Theodizee-Debatte des 18. Jahrhunderts, ausgelöst durch das Erdbeben von Lissabon 1755. Sie analysiert die verschiedenen Deutungen des Erdbebens im Werk und setzt diese mit den philosophischen Positionen von Leibniz, Voltaire und Kant in Beziehung. Der Fokus liegt auf der Darstellung von Gerechtigkeit, Zufall und dem Verhältnis von Mensch und Gott in der Novelle.
- Die Theodizee-Debatte und ihre Relevanz für Kleists Novelle
- Die Interpretation des Erdbebens als göttliches Eingreifen oder Naturereignis
- Die Darstellung von Glaube, Zweifel und dem menschlichen Umgang mit Leid
- Die Rolle des Zufalls und die Frage nach der menschlichen Verantwortung
- Die Gegenüberstellung von Utopie und Realität in der Novelle
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung: Die Einleitung führt in die Thematik ein und beschreibt das Erdbeben von Lissabon 1755 als Auslöser der Theodizee-Debatte und als Hintergrund für Kleists Novelle. Sie skizziert die zentralen Fragen der Arbeit, die sich mit der Interpretation des Erdbebens und den philosophischen Positionen von Leibniz, Voltaire und Kant auseinandersetzt.
Die Theodizee-Debatte nach dem Erdbeben von Lissabon 1755: Dieses Kapitel analysiert die unterschiedlichen Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon, insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Leibniz' optimistischer Theodizee und den kritischen Positionen von Voltaire und Kant. Voltaires "Kandide" wird als Gegenentwurf zu Leibniz' Vorstellung von der "besten aller möglichen Welten" betrachtet, während Kant die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit im Hinblick auf metaphysische Fragen betont. Die Kapitel zeigt auf, wie diese Debatte die philosophischen und religiösen Überzeugungen des 18. Jahrhunderts prägte und Kleists Novelle beeinflusste.
Die verschiedenen Deutungen des Erdbebens: Die Kapitel untersucht die mehrschichtigen Deutungen des Erdbebens in Kleists Novelle. Das Erdbeben wird als ein Ereignis beschrieben, das sowohl als göttliche Strafe für die Sünden der Menschen als auch als Ausdruck der unberechenbaren Macht der Natur interpretiert werden kann. Die ambivalenten Reaktionen der Figuren auf die Katastrophe spiegeln die Komplexität der Theodizee-Frage wider.
Die Utopie des Paradieses: Dieses Kapitel analysiert die kurze Phase der scheinbaren Harmonie und des Glücks, die Jeronimo und Josephe nach dem Erdbeben erleben. Diese Idylle wird als eine trügerische Utopie dargestellt, die den Kontrast zur Realität der Zerstörung und des Leids verstärkt. Die Beschreibung des Paradieses in der Natur kontrastiert mit dem bevorstehenden erneuten Einbruch von Gewalt und Ungerechtigkeit. Die naive Hoffnung des Paares wird als Gegenpol zur kritischen Perspektive Donna Elisabeths gesehen.
Das finale Massaker: Dieses Kapitel beschreibt den zweiten Schock, der den naiv gefassten Glauben an göttliche Gerechtigkeit und Rettung zerstört. Der Auftritt des Dominikanerpriesters und die darauffolgende Massaker sind grausam und demonstrieren die ungebrochene Religiösität in Form von Intoleranz und Verfolgung. Diese Szene widerspricht deutlich Leibnitz' Theodizee und unterstreicht die Brutalität des gesellschaftlichen und religiösen Kontextes.
Schlüsselwörter
Theodizee, Erdbeben von Lissabon, Heinrich von Kleist, „Das Erdbeben in Chili“, Leibniz, Voltaire, Kant, Optimismus, Pessimismus, Glaube, Zweifel, Gerechtigkeit, Zufall, Naturkatastrophe, Utopie, Gott, Leid, Sünde, Strafe, menschliche Verantwortung.
Häufig gestellte Fragen zu Heinrich von Kleists "Das Erdbeben in Chili"
Was ist der Hauptfokus dieser Arbeit?
Diese Arbeit analysiert Heinrich von Kleists Novelle "Das Erdbeben in Chili" im Kontext der Theodizee-Debatte des 18. Jahrhunderts, die durch das Erdbeben von Lissabon 1755 ausgelöst wurde. Der Fokus liegt auf der Darstellung von Gerechtigkeit, Zufall und dem Verhältnis von Mensch und Gott in der Novelle und deren Beziehung zu den philosophischen Positionen von Leibniz, Voltaire und Kant.
Welche Themen werden in der Novelle behandelt und wie werden sie untersucht?
Die Arbeit untersucht verschiedene Themen, darunter die Interpretation des Erdbebens als göttliches Eingreifen oder Naturereignis, die Darstellung von Glaube, Zweifel und dem Umgang mit Leid, die Rolle des Zufalls und die Frage nach der menschlichen Verantwortung, sowie die Gegenüberstellung von Utopie und Realität. Die verschiedenen Deutungen des Erdbebens innerhalb der Novelle werden im Detail analysiert und mit den philosophischen Positionen der genannten Denker in Beziehung gesetzt.
Welche Rolle spielt die Theodizee-Debatte in der Analyse?
Die Theodizee-Debatte, ausgelöst durch das Erdbeben von Lissabon, bildet den zentralen Hintergrund der Analyse. Die unterschiedlichen Reaktionen auf das Erdbeben, insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Leibniz' optimistischer Theodizee und den kritischen Positionen von Voltaire und Kant, werden untersucht und ihre Relevanz für Kleists Novelle herausgearbeitet. Voltaires "Kandide" und Kants Philosophie werden als wichtige Bezugspunkte herangezogen.
Wie werden die einzelnen Kapitel der Novelle zusammengefasst?
Die Zusammenfassung der Kapitel beschreibt die Einleitung, die die Thematik einführt und die zentralen Fragen der Arbeit skizziert. Weitere Kapitel analysieren die Theodizee-Debatte, die verschiedenen Deutungen des Erdbebens in der Novelle, die Utopie des scheinbaren Glücks nach dem Erdbeben, das finale Massaker und dessen Bedeutung im Kontext der Debatte. Jedes Kapitel beleuchtet spezifische Aspekte der Novelle und deren philosophischen Implikationen.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit am besten?
Schlüsselwörter, die die Arbeit prägnant beschreiben, sind: Theodizee, Erdbeben von Lissabon, Heinrich von Kleist, "Das Erdbeben in Chili", Leibniz, Voltaire, Kant, Optimismus, Pessimismus, Glaube, Zweifel, Gerechtigkeit, Zufall, Naturkatastrophe, Utopie, Gott, Leid, Sünde, Strafe, menschliche Verantwortung.
Welche philosophischen Positionen werden in der Analyse berücksichtigt?
Die Arbeit bezieht sich explizit auf die philosophischen Positionen von Gottfried Wilhelm Leibniz, Voltaire und Immanuel Kant. Ihre unterschiedlichen Ansichten zur Theodizee und zum Problem des Leids werden mit Kleists Darstellung in der Novelle verglichen und kontrastiert.
Wie wird die Utopie in der Novelle dargestellt und welche Bedeutung hat sie?
Die kurze Phase der scheinbaren Harmonie und des Glücks nach dem Erdbeben wird als trügerische Utopie dargestellt, die den Kontrast zur Realität der Zerstörung und des Leids verstärkt. Diese Idylle wird analysiert und ihre Bedeutung im Kontext der gesamten Erzählung herausgearbeitet.
Welche Rolle spielt das "finale Massaker" in der Novelle?
Das "finale Massaker" wird als ein Ereignis beschrieben, welches den naiv gefassten Glauben an göttliche Gerechtigkeit und Rettung zerstört. Es unterstreicht die Brutalität des gesellschaftlichen und religiösen Kontextes und widerspricht deutlich Leibniz' Theodizee.
- Arbeit zitieren
- Fabian Hirschfeld (Autor:in), 2019, Die Theodizee-Debatte des 18. Jahrhunderts am Beispiel von Kleists Erzählung "Das Erdbeben in Chili". Unter genauerer Betrachtung von Leibniz, Kant und Voltaire, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1211356