Paulo Freire "Pädagogik der Unterdrückten". Eine Analyse


Hausarbeit, 2003

49 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Kontexte
2.1 Zur Person Paulo Freire
2.2 Historisch: Ökonomie und Politik in Latein- und Süd- amerika
2.3 Ideologisch: Befreiungsbewegungen und Cuba 1959

3 Theorie der Pädagogik Freires
3.1 Erziehung und Bewusstseinsbildung
3.1.1 SchülerIn-LehrerIn-Verhältnis
3.2 Die Methodik
3.2.1 Dialogischer Prozess und Befreiung als wechselseitiger Prozess
3.2.2 Generative Themen und deren Ermittlung
3.3 Kulturelle Aktion
3.3.1 Merkmale der antidialogischen Aktion
3.3.2 Merkmale der dialogische Aktion
3.4 Zusammenfassung

4 Sozialarbeiterische und pädagogische Anwendungen
4.1 Alphabetisierung
4.2 Arbeit mit Straßenkindern und Educación Popular
4.2.1 Arbeit mit Straßenkindern
4.2.2 Educación Popular
4.3 Theater der Unterdrückten nach Augusto Boal

5 Kritik und abschließende Gedanken

6 Literaturverzeichnis

Anhang 1 Ernesto Cardenal: ÖKONOMIE VON TAHUANTINSUYU

Anhang 2 Interview mit Paulo Freire von 1997

1 Einleitung

In Zeiten neoliberaler Globalisierung und dem Niedergang des realexistierenden Sozialismuszum Ende des 20. Jahrhunderts waren gesellschaftliche Utopien weitestgehend diskreditiert. Die Herrschafts- gewalt des Kapitalismus weltweit schien mehr oder minder durchgesetzt, so dass die Gesellschaft offener denn je “den Charakter eines riesigen Warenhauses annimmt, in dem die angebotene Waren- und Dienstleistungspalette einzig über das Kriterium der Vermarktung bestimmt.”1 In diese Richtung tendiert zunehmend auch die Soziale Arbeit, die sich nun verstärkt unter dem Begriff ‘Sozialmanagement’ ökonomischen Kategorien zuwendet und privatwirtschaftliche Elemente in ihre Arbeit aufnimmt, ausbeuterische Gewaltstrukturen somit adaptiert. Allerdings anzunehmen, dass sich das Elend der Welt mit dem Wegfall der Staaten des realexistierenden Sozialismus und dem ungehin- derten nunmehr völlig aller Fesseln befreiten Kapitalismus vermindert haben würde, spricht den aktuellen weltwirtschaftlichenEntwicklungenHohn: “In vielen Ländern der Dritten Welt waren die realen Gehälter im modernen Sektor bereits Anfang der 90-er Jahre um mehr als 60% gefallen. Im informellen Sektor sah es sogar noch kritischer aus. In Nigeria z.B. fiel das Mindestein- kommen unter der Militärregierung von General Ibrahim Babandinga im Verlauf der 80-er Jahre um 85%. Die Löhne in Vietnam lagen unter zehn Dollar im Monat, während der Preis für Reis infolge des von der Regierung in Hanoi durchgeführten Programms des IWF auf das Weltmarktniveau anstieg. (...) In Peru stiegen über Nacht der Brotpreis um das 12fache und die Kraftstoffpreise um das 31fache, Folge des von IWF und Weltbank unterstützten ‘Fujisch- ocks’, den Präsident Fujimori im August 1990 durchführte. Die realen Mindestlöhne sanken in Relation zu ihrem Niveau Mitte der 70-er Jahre um mehr als 90%.”2 Nicht von ungefähr mani- festierte sich in den letzten Jahren eine, zwar heterogene, aber immer stärker agierende Antiglobalisie- rungsbewegung, die durch große öffentliche Aktionen und Demonstrationen, wie u.a. in Seattle, Prag (2000) oder Genua (2001) auf sich aufmerksam machen konnte. Einig sind sich die AktivistInnen trotz aller Unterschiedlichkeit in der Verurteilung einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, die einseitig die Interessen der reichen westlichen Industrieländer stützt, während große Teile der Welt weiter verarmen.

Die extrem ungleichen Lebensverhältnisse in Brasilien und seine Arbeit mit den Ärmsten der Armen waren für Paulo Freire anfang der 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts der Ausgangspunkt dafür, eine Theorie der Pädagogik der Unterdrückten zu entwickeln, in der er sich positiv einer utopischen gesellschaftlichen Veränderung verschrieb: “Die Bewusstseinsbildung fordert uns auf, der Welt gegenüber eine utopische Haltung einzunehmen, die denjenigen, der ein Bewusstsein entwickelt hat, zu einem ‘utopischen’ Faktor werden lässt.”3 So führt er folgerichtig aus, dass seine Sache die der Sache der Armen wäre und er sich für die Revolution entschieden hätte4. Marx/Engels kritisieren diejenigen als Utopisten, die “politische Formen von ihrer gesellschaftlichen Unterlage trennen und sie als allgemeine abstrakte Dogmen hinstellen.”5, verweisen aber darauf, dass “von dem Moment an, da die Bewegung der Arbeiterklasse Wirklichkeit wurde, (...) die phantasti- schen Utopien (schwanden), nicht weil die Arbeiterklasse das Ziel aufgegeben hatte, das diese Utopisten anstrebten, sondern weil sie die wirklichen Mittel gefunden hatte, sie zu verwirkli- chen(...).”6Im letzteren Sinne wird sich Freire mit seiner Pädagogik der Unterdrückten verstanden haben.

Diese Hausarbeit befasst sich also mit der Utopie Freires. Grundsätzliches Ziel soll sein, sie zum einen in ihremEntstehungskontext darzustellen und zum anderen sie einer Prüfung zu unterziehen, inwieweit sie auch noch heute praktisch angewendet wird und wie sie zu bewerten ist.

Zunächst soll der biographische, ökonomische und zeithistorische Kontext der Entstehung seiner Theorie angerissen werden um in dem darauffolgenden Kapitel diese Theorie und dessen Merkmale im Einzelnen vorzustellen, die ausgehend von seiner Kritik der herkömmlichen Lehrmethoden, dem von ihm so genannten ‘Bankiers’ Konzept, seine Alternativen wie Dialogischer Prozess und der Dialektik von Aktion und Reflexion aufzeigen sollen um mit einer Zusammenfassung zu schließen. Im nächsten Kapitel geht es um die Anwendung seiner Theorie in der Praxis, insbesondere am Beispiel seiner berühmten Alphabetisierungskampagnen in den 60-er Jahren in Brasilienund anderen Ländern, aber auch die Einbeziehung Freire’scher Ansätze in der Arbeit mit Straßenkindern oder in der ‘Educación Popular’. Im weiteren wird das Theater Augusto Boals, welches sich auf Freires Pädagogik stützt, dargestellt. Eine ideologiekritische Auseinandersetzung mit Bezug auf jetzige gesellschaftliche Verhältnisse und abschließende Gedanken folgen um die Arbeit mit dem Literatur- verzeichnis und dem Anhang abzuschließen.

Für mich war die maßgebliche Motivation diese Hausarbeit schreiben zu wollen, der Umstand, dass ich die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und das damit verbundene massenhafte Elend als un- erträglich empfinde und in Paulo Freire jemanden sehe, der mit seinen pädagogischen Konzepten versucht hat, die Welt und die Menschen in eine ‘humanere’ Richtung zu verändern. Dies verdient nach meinem Dafürhalten eine intensiverenAuseinandersetzung auf der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen. Auf der anderen Seite hat mich das Engagement und die Art und Weise des Engage- ments vieler SozialarbeiterInnen beeindruckt, das ich während einer Studienreise in die Türkei im Jahre 2001, kennen lernen durfte.

2 Kontexte

In diesem Kapitel sollen die biographischen, politischen wie ökonomischen Kontexte zur Zeit der Entstehung der Pädagogik der Unterdrückten dargestellt werden.

2.1 Zur Person Paulo Freire

Paulo Freire wurde am 19. Februar 1921 in Recife (Brasilien), der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco, geboren. Er wuchs in kleinbürgerlicher Umgebung auf, lernte aber in den Jahren der Weltwirtschaftskrise 1929 Hunger und Armut am eigenen Leib kennen.7 Seinen Vater beschrieb er als einen außergewöhnlich offenen Menschen; ein Mensch der immer auf der Suche war und wo jeder das Recht hatte ‘Nein’ sagen zu dürfen.8 Auch hatte er schon in der Kindheit und Jugend Kontakte zu den Ärmsten der Armen, die für ihn wichtige Erfahrungen waren: “Erfahrungen mit Land- arbeiterkindern, mit Stadtkindern, mit Kindern von Industriearbeitern, die in Rinnsteinen und Favelas [Anm. Elendssiedlungen] wohnten, Erfahrungen aus einer Zeit, in der wir selbst in der Nähe von Recife wohnten. Die Erfahrung mit ihnen gewöhnte mich an eine andere Form des Denkens und des Ausdrucks. Ich lernte die Syntax des Volkes (...).”9 Freire studierte zunächst Jura an der Bundesuniversität von Pernambuco. Er schloss das Studium zwar ab, arbeitete jedoch nur kurzzeitig in diesem Beruf. Schon mit 16/17 Jahren begann er Portugiesisch zu unterrichten und wurde schließlichLehrer für die Sprache an der Sekundarstufe I. Er interessierte sich seinerzeit insbesondere für sprachphilosophische und -psychologische Fragestellungen.10 1944, mit 23 Jahren, heiratete Freire seine Frau Elza Maria Olioviera, eine Primarschullehrerin. 1946 begann seine 10-jährige Tätigkeit bei der SESI, einem Sozialdienst der Industrie. Dort leitete er den Erziehungsbereich und hatte mit Grundschulen für die Kinder der Arbeiterfamilien zu tun. In dieser Zeit sammelte er ent- scheidende praktische Erfahrungen, die sich in seiner späteren Theorie niederschlagen sollten. Er entlarvte sein eigenes Verhalten in dem Halten von Vorträgen über Dinge als “eine elitäre Haltung, nach der derjenige, der mehr weiß, der eine bestimmte Art von ‘exaktem’, ‘genauem’ Wissen hat, sich allein für den Wissenden hält .”11 Es entlarvte ebenso seine Ausbildung und die Bürde einer autoritären Vergangenheit aus der brasilianischen Geschichte. Freire beendete diese Tätigkeit, weil er Probleme mit seinem Arbeitgeber bekam, der mit seiner demokratischen Arbeitsmethode nicht einverstanden waren. Freire war einer von vielen Vertretern in Süd-und Lateinamerika, die das Christentum mit dem Marxismus in der Theologie miteinander verbanden. Er selbst gibt an sich mit Marx beschäftigt zu haben, als er in seiner Jugendzeit das dramatische Elend der LandarbeiterInnen kennen gelernt hatte und zum Verhältnis von Marx zu Christus führt er aus, “dass es Christus war, der mich zu Marx schickte. Christus war einer der größten Erzieher aller Zeiten. Er beein- flusste mich als Pädagoge stark. Bei ihm gab es eine Übereinstimmung zwischen seinen Worten und Taten. Marx begeisterte mich, er gab mir die Werkzeuge, um die Widersprüche der Gesell- schaft zu erkennen.”12 In der Folgezeit engagierte sich Freire in der ‘Bewegung für Volkskultur’. Dort konnte er Fragen systematisieren und vertiefen, die sich ihm schon seit 15 Jahren stellten.13 Zeitgleich entwickelte er seine Alphabetisierungsmethode und promovierte 1959 an der Universität von Recife mit einer Dissertation über das Unterrichten von Analphabeten.14 1962 wurde Freire Leiter einer großangelegten Alphabetisierungskampagne von Präsident Goulart, die jedoch zwei Jahre später, nach dem Putsch von Militärs abgebrochen werden und Freire das Land verlassen mußte, nachdem er zuvor 75 Tage Haft über sich hat ergehen lassen müssen. Bis 1969 lebte er in Chile im Exil, arbeitete dort in der Erwachsenenbildung und betreute Alphabetisierungskurse. Nach einem zehnmonatigem Intermezzo als Gastprofessor an der Harvard University wirkte er für zehn Jahre im Weltkirchenrat und beriet verschiedene Länder des Südens mit sozialistischer Orientierung. Seine Arbeit war in dieser Zeit hauptsächlich theoretischer Natur. Erst 1980 kehrte er aus dem Exil nach Brasilien zurück. Dort lehrte er an der Universität von Campinas sowie an der Katholischen Uni- versität von Sao Paulo und betätigte sich politisch. Er stand der PT (Arbeiterpartei) nahe und wurde für kurze Zeit Bildungsreferent der Stadt Sao Paulo, was ihn konkreter mit schulischer Bildung Erziehung in Verbindung brachte. In seinen letzten Lebensjahren setzte sich Freire mit den Aus- wirkungen der Globalisierung auseinander.1997 starb Freire, 75-jährig, in Sao Paulo.15

2.2 Historisch: Ökonomie und Politik in Latein- und Südamerika

“1682, Accra

Ganz Europa handelt mit Menschenfleisch

In der Nähe des englischen und der holländischen Forts steht in Schussweite die nagelneue kurbrandenburgische Faktorei. Eine neue Fahne flattert damit an den hiesigen Küsten, über dem Blockdach des Sklavenlagers und den Masten der randvoll auslaufenden Schiffe. Dank ihrer Afrikanischen Handelsgesellschaft sind die Deutschen in das einträglichste Geschäft der damaligen Zeit eingestiegen.

Die Portugiesen betreiben die Sklavenjagd über ihre Companhia de Guinea. Die Royal African Company ist zum Nutzen der englischen Krone tätig. Das französische Banner weht auf den Schiffen der Compagnie du Sénégal. Die Nederlands West-Indische Kompagnie blüht und gedeiht. Die auf den Sklavenhandel spezialisierte dänische Firma heißt ebenfalls Westindische Handelsgesellschaft, und Südseekompanie, diejenige, an der die Schweden verdienen.

Spanien hat kein Sklavenhandelsunternehmen. Aber die Casa de Concentratación in Sevilla, das Handelshaus für Amerika, hat dem König vor einem Jahrhundert einen mit Belegen untermau- erten Bericht geschickt, in dem sie feststellt, dass die Sklaven von allen nach Amerika einge- führten Artikeln die lukrativsten sind; und das ist auch noch heute so. Für das Recht, in Spaniens Kolonien verkaufen zu dürfen, zahlen die ausländischen Firmen Unsummen in die Königlichen Schatztruhen. Mit diesen Geldern werden unter anderem die Schlösser von Madrid und Toledo gebaut. Und die Junta de Negros tagt im größten Saal des Indienrats.”16

Die Geschichte Latein- und Südamerikas ist Ausdruck kolonialer Unterdrückung, massenhafter Tötungen der indigenen Bevölkerung und des jahrhundertelangen Imports von SklavInnen aus Schwarzafrika. Ökonomisch betrachtet hatten diese Länder einen abhängigen Status zu den jeweiligen kolonialen Mächten wie Spanien oder Portugal. Sie dienten zur bloßen Vernutzung zur Förderung des Reichtum an den europäischen Höfen.

Die Geschichte Latein- und Südamerikas ist eine blutige und brutale wie Eduardo Galeano in seinem Buch “Die offenen Adern Lateinamerikas’ eindrucksvoll dargestellt hat. Mit der Ankunft der Con- quistadoren im 15. Jahrhundert begann eine der größten Völkermordaktionen der Geschichte. Von den 50 Millionen Menschen, die seinerzeit schätzungsweise in Süd- und Lateinamerika lebten waren um 1650 nur noch 5 Millionen übrig geblieben.17 Sie “erlebten die erbarmungslose Zerstörung ihrer Zivilisation und wurden einem sozialökonomischen Regime unterworfen, das auf Groß- grundbesitz - den Latifundien - dem Bergbau, (...) und der Ausbeutung der eingeborenen Bevölkerung unter der Sklaverei ähnlichen Bedingungen basierte.”18 Zwar erreichten die meisten Länder im19. Jahrhundert einen nominell unabhängigen Status, standen nun jedoch direkt unter der Knute einer ausbeuterischen Oligarchie, welche die Pfründe der Länder unter sich aufteilte. Sie installierten autoritäre Regimes und Diktaturen, in denen das Militär oftmals zum politischen Akteur gerierte, da es der Oligarchie oft an Einigkeit und politischer Legitimität mangelte. Im20. Jahrhundert setzten Industrialisierungsschübe ein, die bedeutende gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachten; es bildeten sich gefestigte Mittelschichten und die ArbeiterInnen konnten sich größere Freiräume erobern. In den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Gesellschaften Latein- und Südamerikas voller Unruhe:die Bevölkerung vieler Länder schienen nicht mehr bereit zu sein, die Herrschaft der alten Diktaturen der Oligarchie zu akzeptieren. Die USA, die die neue Wirtschafts- ordnung (z.B. Bretton Woods 1948), die sie nach dem 2.Weltkrieg installierenkonnte und die Länder des ‘Vorhofs Amerikas’ in ökonomischer Abhängigkeit hielt, sah dadurch ihre Interessen gefährdet und befürchtete ein Überspringen des revolutionären Funkens auf verschiedene Länder, sodass sie mehrfach in lateinamerikanischen Ländern (wie Guatemala 1954) intervenierte oder Militärregierungen stützte, welche die ‘alte Ordnung’ aufrecht erhalten sollten.

Freire merkte an, dass die “Menschen (...) von der Macht der Grundbesitzer, der Gouverneure, der Hauptleute und Vizekönige erdrückt (wurden). Das Volk verinnerlichte diese äußere Autorität und entwickelte ein Bewusstsein, das Unterdrückung ‘beherbergte’, aber nicht jenes freie und schöpferische Bewusstsein, auf das wahrhaft demokratische Staatsformen nicht verzichten können.” 19 Und um mit Albert Memmi zu ergänzen, der in den 50er Jahren das Verhält- nis des Kolonisierten zum Kolonialisten untersuchte: “Er [Anm. der Kolonialisierte] ist in keiner Hinsicht mehr das Subjekt der Geschichte; selbstverständlich trägt er deren Lasten, die ihn häufig noch härter drücken als die anderen, aber immer als Objekt. Er hat sich schließlich jede aktive Teilnahme an der Gesellschaft abgewöhnt und beansprucht sie nicht mehr. Wenn die Kolonisation lange genug dauert, verliert er sogar die Erinnerung an die Freiheit; er vergisst, was sie kostet oder wagt nicht mehr, den Preis dafür zu zahlen.”20

Das Brasilien der 50-er und 60-er Jahre war zum einen von einer ökonomischen Krise, welche durch die Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investoren die Inflation ansteigen ließ und einer auf- kommenden Volkbildungsbewegung, die sich wieder verstärkt zum Subjekt der Geschichte machen wollte, in dem es versuchte das Bewusstsein über Ausbeutungsstrukturen und der eigenen Subjekthaf- tigkeit zu fördern, geprägt. Die Oligarchie antwortete letztlich nur noch repressiv auf diese Entwick- lung mit dem Staatsstreich vom April 1964.

3.2 Ideologisch: Befreiungsbewegungen und Cuba 1959

Die 50-er und 60-er Jahre standen weltweit im Zeichen des Aufbruchs der unterdrückten Menschen gegen ihre Unterdrücker. Die letzten Kolonien kämpften um ihre Unabhängigkeit:so führte Frankreich bspw. einen grausamem Krieg gegen die Bevölkerung Algeriens (1954 - 62)21.

Ein wichtiger ideologischer Vordenker für die Befreiungsbewegungen war der Arzt Frantz Fanon, der, selbst im Algerien-Krieg mitgekämpft, mit seiner Schrift “Die Verdammten dieser Erde” eine Theorie begründete, warum der Befreiungskampf notwendig sei, warum bewaffnete Gewalt gegen die Kolonialisten hierin legitim wäre und wie die Organisierung nach seinen Vorstellungen vor sich zu gehen hätte (Sartre: “.., in dieser Stimme entdeckt die Dritte Welt s i c h und spricht zu s i c h

.”22) Fanon formulierte das neue Selbstbewusstsein, welches sich allenthalben formierte und trug es in die Welt: ”Der Kolonisierte entdeckt also, dass sein Leben, sein Atmen, seine Herzschläge die gleichen sind wie die des Kolonialherrn. Er entdeckt, dass die Haut eines Kolonialherrn nicht mehr wert ist als die Haut eines Eingeborenen. Diese Entdeckung teilt der Welt einen ent- scheidenden Stoß mit. Jede neue und revolutionäre Sicherheit des Kolonisierten rührt daher.”23 Für den amerikanischen Kontinent prägend für die damalige Zeit war der Sieg der cubanischen Revolutionvon 1959, die Vertreibung des Diktators Batistas unter der Führung von Fidel Castro und Ernesto Che Guevarra.24 Die revolutionären Kräfte hatten damals bewiesen, dass ein Sieg möglichist und der ‘Che’ wurde zur Ikone vieler revolutionärer Guerillagruppen. Der Kontinent war nach dem Fühlen vieler Menschen in einem vorrevolutionärem Zustand oder wie Guevarra schrieb: “Amerika ist heute ein Vulkan; er ist nicht im Ausbruch, aber er erbebt wegen der ungeheuren unter- irdischen Unruhe, die seinen Ausbruch ankündigen.”25 Insgesamt kann konstatiert werden, dass der ganze amerikanische Kontinent von gesellschaftlicher Unruhe zu der Zeit geprägt war und die Bevölkerungsteile, die nach grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen strebten, einen Dyna- mikschub erlebten. In Brasilien äußerte sich dies, wie schon erwähnt, u.a. in einer breiten ‘Bewegung für Volkskultur’, an der sich Paulo Freire beteiligte.

Allerdings wurden alle diese Bewegungen unter dem Vorzeichen des ‘Kalten Krieges’ Repressionen ausgesetzt. Die Oligarchien und die USA fürchteten (zurecht), dass ihre Interessen durch die revolu- tionären Bewegungen eingeschränkt werden könnten. Die USA versuchten 1961 eine Intervention Cubas in der Schweinebucht zu erlangen, die allerdings scheiterte. In der Cuba-Krise 1962 schlitterte die Welt knapp an einem Atomkrieg vorbei. Die USA errichteten damals eine Flottenblockade um Cuba um zu erreichen, dass die in Cuba von der Sowjetunion stationierten Raketen wieder demon- tiert würden.26 In Vietnam begann sich der Krieg gegen die Vietkong zu erweitern und zu brutalisieren und Che Guevarra wurde am 09. Oktober 1967 in einer Aktion unter der Führung des US-amerika- nischen Geheimdienstes in La Higuera (Bolivien) brutal hingerichtet.27

3 Theorie der Pädagogik Freires

3.1 Erziehung und Bewusstseinsbildung

Freire drängte in seinem ganzen Wirken darauf, dass sich die Menschen ihrer Situation bewusst und dazu befähigt werden, als Subjekte in der Geschichte handeln zu können, statt wie in autoritären Gesellschaften Objekt der Vorstellungen und Interessen herrschender Schichten zu sein. Voraus- schickend sei erwähnt, dass Freire nicht davon ausging, dass es sowas wie einen ‘neutralen Forscher’ respektive Pädagogen gibt, denn “es gibt keine menschliche Handlung, die nicht von einer Intention bestimmt ist, von Vorstellungen, vom Suchen nach Wegen: Es gibt weder eine ahistorische noch eine apolitische Person. Wir dürfen aber die Nicht-Neutralität nicht mit einem Mangel an einem ernsten und wissenschaftlichen Anspruch bei der Suche nach Wahr- heit, die erkannt werden soll, verwechseln.”28 Für Freire heißt dies, dass er sich für die Sache der Revolution einsetzte und die Interessen der untersten Schichten unterstützte. Freire grenzt sich jedoch eindeutig von denjenigen Marxisten ab, die er als dogmatisch und mechanisch empfindet. Er selbst bezeichnete sich als einen dialektischen Marxisten. Seine Unterscheidung erläutert er wie folgt: “Ich mache einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem dialektischen und dem mechanischen Marxisten. Der Marxist, der das Bewusstsein und die Subjektivität von Männern und Frauen auf den Bloßen Reflex der materiellen Wirklichkeit, der Wirtschaft einer Gesellschaft, redu- ziert, solch ein Marxist hat überhaupt nichts mit mir zu tun. Ich bevorzuge die Perspektive eines Marxisten, der die Geschichte als Möglichkeit sieht, der das Morgen nicht als Zeit betrachtet, die kommen muss, sondern als Zukunft, die gestaltet werden muss: durch uns, durch die Veränderung der Gegenwart. Ich stimme mit einem Marxisten überein, der in demokratischen und humanistischen Begriffen denkt, um die Gesellschaft zu verändern.”29

[...]


1 Ribolits, Erich; “Bildung - Ein Wettbewerbsfaktor? Versuch einer ‘linken’ Bildungspolitischen Positionierung”, ohne Zeit- und Ortsangabe im Internet unter: www.tirolkultur.at/gruebi/textsammlung/01-14 am 16.12.2002

2 Chossudovsky, Michel; “Global brutal”; Verlag 2001; Frankfurt/Main; 2002; Originalausgabe: “The Globalisation of Poverty. Impacts of IMF and World Bank Reform” bei Third World Network; Penang (Malaysia); 1997/2001; S.45/46

3 Freire, Paulo in: Stückrath-Taubert, Erika (Hrsg.); “Erziehung zur Befreiung”; Rowohlt Taschenbuch Verlag; Reinbek bei Hamburg; 1975, S. 18

4 vgl . Wagner Christoph; “Paulo Freire (1921-1997) Alphabetisierung als Erziehung zur Freiheit” in: Entwicklung und Zusammenarbeit (Nr. 1, Januar 2001, S. 17-19) aus Internet: www.dse.de/zeitschr/ez101 am 10.12.2002

5 in: Lotter u.a. (Hrsg.); “Marx-Engels Begriffslexikon”; Verlag C.H. Beck; München; 1984, S. 344

6 ebd.

7 vgl. El Alba (Org.); “Paulo Freire - Vision einer befreienden Pädagogik”; 06.09.2002; ohne Ortsangabe aus Internet: www.elalba.de 10.12.2002

8 vgl. Freire, Paulo; “Der Lehrer ist Politiker und Künstler”; Rowohlt Taschenbuch Verlag; Reinbek bei Hamburg; 1981; S. 88

9 Freire, Paulo; “Schule, die Leben heißt”; Kösel-Verlag; München; 1986; S. 9

10 vgl. Bruns, Angélique; “Die Gegenüberstellung zweier pädagogischer Konzepte: Zum Demokratie-Aspekt in den Ansätzen von Célestin Freinet und Paulo Freire”; Magisterarbeit; Berlin; Juli 1999 aus Internet: www.tu-berlin.de/fb2/as3/as3w/mag_bruns/magister am 26.05.2002

11 Freire, Paulo; “Schule, die Leben heißt”; Kösel-Verlag; München; 1986; S. 12

12 Zitiert in: Bruns, Angélique; “Die Gegenüberstellung zweier pädagogischer Konzepte: Zum Demokratie- Aspekt in den Ansätzen von Célestin Freinet und Paulo Freire”; Magisterarbeit; Berlin; Juli 1999 aus Internet: www.tu-berlin.de/fb2/as3/as3w/mag_bruns/magister am 26.05.2002

13 Vgl. Freire, Paulo; “Schule, die Leben heißt”; Kösel-Verlag; München; 1986; S. 12

14 vgl. Bruns, Angélique; “Die Gegenüberstellung zweier pädagogischer Konzepte: Zum Demokratie-Aspekt in den Ansätzen von Célestin Freinet und Paulo Freire”; Magisterarbeit; Berlin; Juli 1999 aus Internet: www.tu-berlin.de/fb2/as3/as3w/mag_bruns/magister am 26.05.2002

15 vgl. ebd.

16 Galeano, Eduardo; “Erinnerung an das Feuer”; Peter Hammer Verlag; Wuppertal; 1983; S. 323

17 vgl. Bustos, Isidoro; “FünfhundertJahre danach: Lateinamerika - ein Kontinent der Hoffnung? in: Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V. (Hrsg.); “Nach 500 Jahren - Stimmen aus dem Süden”; FDCL; Berlin 1992; S. 86

18 ebda.

19 Freire, Paulo; “Erziehung als Praxis der Freiheit”; Kreuz Verlag; Suttgart; 1974; S. 36

20 Memmi, Albert; “Der Kolonisator und der Kolonisierte”; Syndikat Verlag; Frankfurt/Main; 1980; S. 91

21 vgl. Kinder, Herrmann / Hilgemann, Werner; “dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band II Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart”; Deutscher Taschenbuch-Verlag; München; 15. Auflage August 1980; Originalausgabe: 1966

22 in: Fanon, Frantz; “Die Verdammten dieser Erde”; Rowohlt-Verlag; Reinbek bei Hamburg; Mai 1969; Originalausgabe: 1961 “Les damnés de la terre” bei Francois Maspero; Paris; S. 8

23 ebda. S. 35

24 vgl. Kinder, Herrmann / Hilgemann, Werner; “dtv-Atlas zur Weltgeschichte Band II Von der französischen Revolution bis zur Gegenwart”; Deutscher Taschenbuch-Verlag; München; 15. Auflage August 1980; Originalausgabe: 1966; S. 271

25 Guevarra, Che; “Ausgewählte Werke in Einzelausgaben” (4 bändig); Weltkreis-Verlag; Dortmund; 1986; Band 4; S. 125

26 vgl. Horowitz, David; “Kalter Krieg”; Wagenbach Verlag; Berlin; Auflage 18. - 21 Tausend 1983; Originalausgabe: “From Yalta to Vietnam. American Foreign Policy in the Cold War”; 1965; S. 355 ff.

27 vgl. Taibo II; Paco Ignacio; “Che - Die Biographie des Ernesto Guevara”; Edition Nautilus;; Hamburg; 1997; S. 583 ff

28 Freire, Paulo; “Der Lehrer ist Politiker und Künstler”; Rowohlt Taschenbuch Verlag; Reinbek bei Hamburg; 1981; S. 70

29 zitiert in:Bruns, Angélique; “Die Gegenüberstellung zweier pädagogischer Konzepte: Zum Demokratie- Aspekt in den Ansätzen von Célestin Freinet und Paulo Freire”; Magisterarbeit; Berlin; Juli 1999 aus Internet: www.tu-berlin.de/fb2/as3/as3w/mag_bruns/magister am 26.05.2002

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Details

Titel
Paulo Freire "Pädagogik der Unterdrückten". Eine Analyse
Hochschule
Hochschule Hannover  (FB Sozialarbeit)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
49
Katalognummer
V12135
ISBN (eBook)
9783638180993
ISBN (Buch)
9783638723121
Dateigröße
546 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analyse, Paulo, Freires, Pädagogik, Unterdrückten
Arbeit zitieren
Jens Grünberg (Autor:in), 2003, Paulo Freire "Pädagogik der Unterdrückten". Eine Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12135

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