Krise der Demokratie? Ein Vergleich der Ansätze von Colin Crouch und David van Reybrouck


Hausarbeit, 2021

39 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung:

2. Begriffs(er)klärungen: Demokratie und Krise
2.1 Was bedeutet moderne Demokratie?
2.2 Was ist eine Krise der modernen Demokratie?
2.3 Ursachen, Voraussetzungen oder Bedingungen für eine Krise der Demokratie

3. Krise der Demokratie bei Colin Crouch
3.1 Verursachende Elemente der Postdemokratie und Maßnahmen zur Krisenbekämpfung bei Colin Crouch

4. Krise der Demokratie bei David van Reybrouck
4.1 Verursachende Elemente der Krise der Demokratie und Maßnahmen zur Krisenbekämpfung bei van Reybrouck

5. Krise der Demokratie bei Crouch und van Reybrouck im Vergleich

6. Schlussfolgerungen und zusammenfassende Bewertung

8. Literaturangaben

9. Annexes
9.1 Annex 1: Überblick über die wesentlichen Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden gegenwärtigen Demokratie:
9.2 Annex 2: Historische Etablierung der Demokratie nach Crouch
9.3 Annex 3: Tabellarischer Vergleich der Krisenphänomene

1. Einleitung:

Seit längerem wird in der Wissenschaft und in der (interessierten) Öffentlichkeit über Herausforderungen und Krisenerscheinungen der modernen Demokratie (kontrovers) diskutiert. In dem Buch ‚Postdemokratie‘ beschreibt Colin Crouch auf der Basis einer idealtypischen, modellhaft übertriebenen Definition die aktuelle Demokratie als zwar noch formal funktionierendes Gemeinwesen, das weiterhin Wahlen durchführt und diese auch mit dem Resultat eines Regierungswechsels enden (können). Einschränkend erwähnt Crouch aber auch dass „konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja apathische Rolle … Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.“ ( Crouch, 2008, S. 10 ). Diesen Zustand bezeichnet Crouch als ‚Postdemokratie‘ und spricht von einer “Krise des egalitären, an politischer und ökonomischer Gleichheit ausgerichteten Projekts“ (ebd., S 13).1

David van Reybrouck konstatiert in seiner Schrift ‚Gegen Wahlen‘ ebenfalls eine Krise der Demokratie (Vgl. van Reybrouck, 2016, S. 12-19). Er beschreibt eine doppelte Herausforderung für die Demokratie: Einerseits eine Krise der Legitimität und andererseits stellt er auch eine Krise der Effizienz der Demokratie fest.

Beide Veröffentlichungen haben unter dem Stichwort ‚Krise der (repräsentativen) Demokratie‘ ein erhebliches Echo in den Medien sowie in wissenschaftlichen und politischen Debatten gefunden. Im Rahmen dieser Hausarbeit werden Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen beider Autoren diskutiert. Zuerst werden dazu die Begrifflichkeiten ‚Demokratie‘ bzw. ‚Krise der Demokratie‘, deren deskriptive Dimensionen, die Funktionsweisen oder -störungen beschrieben. (vgl. dazu Teile 2.1 und 2.2). Danach werden Ursachen und Bedingungen für eine Krise diskutiert. (vgl. dazu Teil 2.3). Zur genaueren Herausarbeitung der autorenbezogenen Berührungspunkte und Unterschiede wird in diesem Kontext ein Referenzmodell der wesentlichen Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden modernen Demokratie erarbeitet (vgl. dazu Teil 2.1, sowie ausführlich Annex1). Darauf aufbauend werden dann die Krisenanalysen von Crouch und van Reybrouck dargestellt (vgl. dazu Teil 3 und 4). Außerdem werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Krisenbearbeitung sowie die jeweiligen Schlussfolgerungen der Autoren gegenübergestellt. ( vgl. dazu Teil 5, unten ). Abschließend wird eine vergleichende Einordnung beider Autoren in das moderne (empirische bzw. beschreibende oder normative bzw. präskriptive) Verständnis von (politischer) Demokratie in der Philosophie bzw. der modernen Demokratietheorie versucht sowie eine eigene Bewertung der Ansätze von Crouch und van Reybrouck vorgestellt (vgl. dazu Teil 6). Bevor näher auf die Analysen von Crouch und van Reybrouck eingegangen wird, wird noch ein kurzer Blick auf die hier genutzten Begrifflichkeiten von Demokratie und Krise geworfen.

2. Begriffs(er)klärungen: Demokratie und Krise

In diesem Kapitel werden grundsätzlich die Begriffe ‚Krise‘ und ‚Demokratie‘ (im philosophischen Kontext) erörtert. Wir beginnen mit der Beschreibung des (modernen) Verständnisses von Demokratie2.

2.1 Was bedeutet moderne Demokratie?

Demokratie „meint eine politische Ordnung, in der die große Masse an Staatsbürger das letzte Wort hat“. (Schmidt, 2019, S. 1) So leitet Manfred G. Schmidt seinen umfassenden Studienband zu Demokratietheorien ein. Er meint damit zwar eingeschränkt auch die klassischen Demokratien, aber zuvorderst die Demokratien der neueren Geschichte, die modernen Formen3 der repräsentativen Herrschafts- und Machtausübung. Die Optionen der Wahl und Abwahl der politischen Führung, also der Akzeptanz von Opposition sind für ihn zentral, aber er geht auch darüber hinaus: „Die Demokratie ist eine Staatsverfassung, in der die Herrschaft- bzw. Machtausübung auf der Grundlage politischer Freiheit und Gleichheit sowie weitreichender politischer Beteiligungsrechte erwachsener Staatsbürger4 erfolgt“ (ebd., S. 2). Die Staatsbürger bilden den Demos, den stimmberechtigten Teil des männlichen, weiblichen oder diversen Volkes, der seinen Willen in allgemeinen, freien und fairen Wahlen zum Ausdruck bringt. Dabei muss aber die berühmte Definition von Demokratie von Abraham Lincoln ‚ government of the people, by the people and for the people’ präzisiert werden. Es muss geregelt sein, „wer zum Volk zählt“, also wie der „alleinberechtigte Ursprung der Staatsgewalt“ sich zusammensetzt. Die Regelung öffentlicher Bestimmungen muss „in nennenswertem Umfang konkret und in möglichst intakten Legitimationsketten von den Bürgern hergeleitet und ihnen gegenüber verantwortet werden“. (ebd., S. 3) Offen ist grundsätzlich auch die Form der Rekrutierung der Regierung aus dem Volk. Grundsätzlich ist neben der Wahl auch ein Losverfahren oder eine Form der Kooptation möglich. Auch die Regierungsmacht selbst kann auf unterschiedliche Weise , z. B. direkt- oder repräsentativdemokratisch bewerkstelligt werden. In diesem Kontext muss immer auch ausreichend Transparenz vorhanden sein, um nachvollziehen zu können, ob und inwieweit Politik im Interesse der Gesamtheit oder mindestens der Mehrheit erfolgt. Dabei sind auch (nationale, inter- und supranationale) intermediäre Einrichtungen wie Parteien, Verbände oder Massenmedien zu beachten, die auch zur Beobachtung der Einhaltung der verfassungs- und gesetzgebundenen Souveränitätsrechte beitragen.

Schon auf dieser Basis kann festgehalten werden, dass die begriffliche Bestimmung der Demokratie eine erfahrungswissenschaftliche, empirisch und systemfunktionale Basis oder eine primär wertgebundene, normative Dimension umfassen muss. Die Erstgenannte ist oft mit dem Vorwurf der normativen Leerstellen konfrontiert, während der Letztgenannten eine Realitätsferne vorgehalten wird. Eine unangefochtene, abschließende Definition von Demokratie ist also nicht bzw. allenfalls auf einem sehr abstrakten Niveau vorhanden ( vgl. auch Christiano, 2018, Guggenberger, 2021; S. 143-144; Prechtl, 2008; S. 2-3; Richter, 2020, S. 315ff ).

Im Rahmen dieser Hausarbeit ist der Fokus auf den Vergleich der kritischen Ansätze von Colin Crouch und David van Reybrouck5 gegenüber der gegenwärtigen Qualität der Demokratie. Dabei stehen der jeweilige Krisenbegriff und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen im Vordergrund. Um hier eine transparente Bewertung vorzunehmen, werden beide Ansätze mit einem ad hoc entwickelten Katalog oder Inventar von relevanten Elementen des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden repräsentativen Demokratie konfrontiert.6 Das hat den Vorteil, dass auf der Basis eines solchen nicht nur die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Crouch und van Reybrouck diskutiert werden, sondern auch Berührungspunkte und Abweichungen zum Main-Stream der Forschung zur Krise der Demokratie (in Deutschland). Dies zumal z. B. Crouch selbst das „ idealtypische Modell, das sich nie vollkommen verwirklichen lässt“ benutzt, um „zu bestimmen, an Punkt unsere Demokratien stehen und welche Fortschritte von dort aus möglich sind“. (CCR, 2021, S.12) Van Reybrouck bezieht sich argumentativ auf das prinzipielle sowie auf das athenische oder aristotelische Ideal der Demokratie (vgl. DvR, 2016, S. 7, 74, 76, 78, 92 und 122) Die Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden Demokratie werden hier aus Platzgründen nur gelistet.7 :

1. Demokratisches Wahlregime
2. Politische Partizipationsrechte
3. Bürgerliche Freiheits- und Abwehrrechte
4. Institutionelle Sicherung der Gewaltenkontrolle
5. De Jure und de facto garantierte effektive Regierungsgewalt via gewählter Repräsentanten
6. Relevanter externer Einbettungsrahmen (u. a Verbindung von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, Soziökonomischer Kontext , Internationale Integration, u. a. m)

Eine typische (politikwissenschaftliche) Schlussfolgerung aus dieser Listung ist, dass die Demokratie mit immer mit Herausforderungen konfrontiert ist. „Aber Herausforderungen sind noch keine Krisen. Sie werden es erst dann, wenn Politik und Gesellschaft keine demokratieangemessenen Antworten finden. Hierfür braucht Demokratie Zeit, Pluralismus und Dissidenz.“ (Merkel, 2021, S.11; vgl. auch Forst, 2022). Beide, Crouch und van Reybrouck bewerten aber die gegenwärtige Situation als Krise. Bevor aber deren Krisenanalysen vorgestellt werden (siehe Kapitel 3 und 4 ) , wird Krisenbegriff der modernen Demokratie kurz erörtert.

2.2 Was ist eine Krise der modernen Demokratie?

Der Begriff der Krise ist sicher nicht leicht einzugrenzen. Angeblich wird der Begriff in mehr als 23 600 englischsprachigen Publikationen des 20. Jahrhunderts bereits im Titel angeführt. (Vgl. Przeworski, 2020, S. 11) Eine Krise im Allgemeinen oder auf Erfahrungen aller Lebensbereiche bezogen, benennt eine gefährliche Lage, Situation, Zeit, bzw. den Gipfel- und Wendepunkt einer gefährlichen bzw. konfliktbeladenen Entwicklung. Krise im modernen Sinne8 „bezeichnet eine über einen gewissen (längeren) Zeitraum anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Krisen bergen gleichzeitig auch die Chance zur (aktiv zu suchenden qualitativen) Verbesserung“ (Schubert/ Klein, 2020, Stichwort ‚Krise‘; vgl. auch Dreher, 2021). Eine prozessbezogene Beschreibung kann schon bei Antonio Gramsci in seiner Interregnums-Definition von Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts nachgelesen werden9. Habermas ging über den rein ökonomischen Krisenbegriff hinaus und beschrieb auch Rationalitäts-, Motivations- und Legitimitätskrisen. ( vgl. Habermas, 1973).

Was unter die Rubrik Krise der Demokratie fällt, hängt davon ab, was unter Demokratie verstanden wird. Eine immer mögliche Ausdehnung des Begriffs der ‚vollständigen‘ Demokratie mit korrespondierenden Adjektiven wie ‚führer‘- oder ‚marktorientiert‘ ‚elektoral‘, ‚(il)liberal‘, ‘konstitutionell‘, repräsentativ‘, ‚sozial‘, pluralistisch‘, ‚partizipativ‘ ‚deliberativ‘, ‚komplex‘ u. a. m. führt zur Verlängerung der Bedingungen für eine Demokratie10 und damit steigt dann auch die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung von Krisenerscheinungen. Um eine solche ‚Kriseninflation‘ zu vermeiden, wurde im obigen Teil 2.1 bei der Bestimmung der Begrifflichkeit im Anschluss an Przeworski auf einen gewissen „definitorischen Minimalismus“11 orientiert.

Für Adam Przeworski sind Krisen „Situationen, in denen die Bedingungen im Rahmen der bestehenden Institutionen katastrophal sind; es findet keine Veränderung statt, aber sie ist möglich“ (Przeworski, 2020, S. 21). Die Krise der Demokratie bringt er auf folgenden Punkt: „Angesichts exogener Schocks erzeugt die Demokratie bestimmte Ergebnisse, die von Menschen mit heterogenen Präferenzen in Bezug auf diese Ergebnisse und auf die demokratischen Institutionen selbst positiv oder negativ beurteilt werden. Ergebnisse, welche den Bestand der traditionellen demokratischen Institutionen bedrohen, sind Katastrophen. Ob eine bestimmte Situation als Krise einzustufen ist, hängt vom Vorhandensein klarer Anzeichen dafür ab, dass die demokratischen Institutionen bedroht sind.“ (ebd., S. 27) Es kann also Anhaltspunkte einer „graduellen Zersetzung der Demokratie.“ (ebd.) geben. Manfred G. Schmidt spricht von „ Krisenzonen der Demokratie “. Diese beginnen dort „wo mindestens eine der folgenden Konstellationen gegeben ist“ (Schmidt, 2019, S. 280) :

- Ein Staat ohne demokratische Parlamentsmehrheit, aber mit einer starken Anti-System-Partei
- Ein hoher und wachsender Anteil von Nichtwähler/innen
- Eine Situation, in der der politische Gestaltungsspielraum hinter den Erwartungen (der Wählerschaft) zurückbleibt.12

Wolfgang Merkel unterscheidet zwei Formen der Krise der Demokratie: Die akute Krise 13, eine existentielle Bedrohung die zu grundlegender Entscheidung nötigt und die latente Krise, ein schleichender Niedergang, d. h. die Versprechen der Demokratie werden nicht erfüllt bzw. eine Erosion, gewissermaßen eine Qualitätsverschlechterung durch chronische Defizite der Demokratie, führt zu defekten, illiberalen bzw. exklusiven Demokratien.14 Aber, „eine solche existenzielle Krise der Demokratie haben wir in den vergangenen fünf Dekaden in Westeuropa nicht erlebt“. Denn: „ eine Krise ist erst dann eine Krise, wenn die Menschen mehrheitlich glauben, dass es eine Krise ist, auf die durch politisches Handeln zu reagieren ist.“ (Merkel, 2021, S.4 und 7).15

2.3 Ursachen, Voraussetzungen oder Bedingungen für eine Krise der Demokratie

Als mögliche Ursachen, Voraussetzungen oder Bedingungen für eine Krise der Demokratie werden in der Literatur16 unterschiedliche Faktoren genannt:

1. Die parlamentarisch-repräsentative Variante der Demokratie - ist „jung und immer noch selten“ (Przeworski, 2020, S. 27) . Przeworski notiert den ersten Regierungswechsel aufgrund einer Wahl auf das Jahr 1801 (USA). Zwischen 1788 und 2008 gab es 544 Machtwechsel durch Wahlen, aber auch 577 durch einen Umsturz, nur ca. jede fünfte Wahl endete mit einem Machtwechsel und in 68 Ländern gab es nie einen Regierungswechsel nach einer Wahl.17
2. Unterschiedliche strukturelle Bedingungen für Krisen der Demokratie werden diskutiert: Hier geht es v. a. um das Spannungsverhältnis zwischen politischer Gleichheit und wirtschaftlicher Ungleichheit (im Kapitalismus). Für die marxistischen Klassiker galt das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus als inhärent instabil, aber in 13 Ländern gibt es eine Koexistenz von Demokratie und Kapitalismus von der Dauer von mindestens einem Jahrhundert und weitere Länder hatten und haben lange Zeiträume dieses Nebeneinander. Arbeiterparteien und Gewerkschaften erzielten mit bürgerlichen Parteien und Arbeitgeberverbänden Kompromisse, die (einkommensbezogene) Umverteilungsprozesse umfassten. Dieses Vorgehen ist ins Rutschen gekommen (vgl. dazu Merkel, 2021; Przeworski,2020, S. 31; Streeck, 2021). Aber die Ursachen der empirisch feststellbaren Daten zu Wachstumsratenverringerungen18, zur Zunahme der Einkommensungleichheit sowie zur Reduktion der Lohnquote sind umstritten und die Maßnahmen zur Behebung der Wohlstandseinbußen sind „nicht durch sozialstaatliche Umverteilungsmaßnahmen oder andere Eingriffe ausgeglichen worden“ (vgl. Przeworski, 2020, S. 131) oder zumindest in den wirtschaftlich entwickelten Ländern ist die Demokratie bis dato gegenüber solchen Symptomen der „Deregulierung des Arbeitsmarktes“ ( Wolfgang Merkel ) widerstandsfähig. Richter weist darauf hin, „dass es den Ärmsten in liberalen Demokratien weltweit am besten geht“ (Richter, 2020, S. 322).
3. Das Streben nach (politischer) Macht und der politische Wettbewerb, also Macht erlangen und langfristig sichern sind elementare Bestandteile des politischen Wettbewerbs. Parlamentsmehrheiten und deren regierungsbeteiligte Parteien unterliegen deshalb der Verlockung sich während der Regierungszeit Wettbewerbsvorteile zu sichern. Dazu werden erfolgsversprechende Rechtsstrukturen (z. B: Anpassung des Wahlsystems, der Wahlkreise, etc.) – trotz Kontrollfunktionen unabhängiger Gerichte – geschaffen, die staatliche Bürokratie eigennützig funktionalisiert oder Gefälligkeitsstrategien mit bestimmten gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Organisationen etabliert. Neuerdings spielt auch das ‚Problem der Zustimmung des Wahlverlierers ( Loser’s consent-Problem ) wieder eine zunehmende Rolle.
4. Außerdem wird die Digitalisierung und die dadurch vereinfachte Verbreitung von Verschwörungstheorien und Hass als struktureller Krisenfaktor diskutiert. Jedoch sind hier mit einer skeptischen (Gefährdung der Privatsphäre und Menschenwürde) und einer optimistischen (angepasste Regelungen ermöglichen eine Übereinstimmung mit den Werten der Demokratie) widersprüchliche Sichtweisen vorhanden.
5. Die Globalisierung und insbesondere die Europäische Integration kreieren Konflikte zwischen national-staatlichen und supranationalen Institutionen und damit die Gefahr der Aushöhlung der nationalen Demokratie, die als Rahmen und Kern der gesellschaftlichen Identitäten dient. (vgl. bes. Schmidt, 2019, Kap. 26 und 27) Hedwig Richter hält dazu fest: „Demokratien sind nahezu immer in Nationen geboren und mit Nationen gewachsen, und vermutlich werden Partizipation und Sozialstaat noch lange auf diese Grundlage angewiesen sein. (Richter, 2020, S. 320).
6. Schließlich sind die Demokratie herausfordernden, empirisch nachweisbaren Entwicklungsprozesse, die eine Erosion und nachlassenden Rückhalt für die etablierten (Volks-) Parteien zur Folge haben, zu nennen:

i. Wähler- und Mitgliederrückgang (bei den politischen Parteien)
ii. Vertrauensschwund: Es kann nicht nur eine (EU-weite) tendenzielle Abnahme der Wahlbeteiligung festgestellt werden, auch die lange Zeit im 20. Jahrhundert stabil in Abwechslung dominierenden Formationen der (sozialdemokratischen) Mitte-links bzw. der (liberalen und konservativen) Mitte-rechts Parteien ist ausgelaufen. Eine hohe „Volatilität der Parteipräferenzen“ (Przeworski,2020, S. 104) korrespondiert mit einer sichtbaren Zunahme der Parteienanzahl in den Parlamenten.
iii. Auch demokratieskeptische Meinungsumfragen werden erwähnt. „Ob die Demokratie auf Demokraten angewiesen ist, ob ihr Überleben von den individuellen Einstellungen abhängt, ist umstritten. Selbst wenn es so wäre, führen die in Umfragen gegebenen Antworten nur dann zu einer Erosion der Demokratie, wenn organisierte politische Gruppen entsprechend handeln.“ (ebd., S. 123)
iv. Es gibt eine zunehmende soziale Selektivität: Sozioökonomische Ungleichheit führt zu politischer Ungleichheit und dies zum Ausstieg des unteren Drittels der Gesellschaft aus dem Wahlregime.
v. Verursacht durch diese Repräsentationslücke ergibt sich eine starke Polarisierung durch zunehmenden Rechtspopulismus, der mit einer signifikanten Erhöhung des Stimmenanteils bei Wahlen in allen OECD-Ländern und v. a. in osteuropäischen Demokratien korrespondiert. (Vgl. Przeworski, 2020, S. 106-121; Richter, 2020, S. 317-319). Auch die zunehmenden kulturelle Konfliktlinien, v. a. Kosmopoliten gegenüber Kommunitaristen oder Rechtspopulisten, oft im Rahmen der Migrations-, Klima- und Coronakrisen werden thematisiert ( Vgl. Merkel, 2021; Richter, 2020, S.317-319) ).
vi. Das Spannungsfeld der Mehrheits- vs. der liberal-rechtsstaatlichen Demokratie führt zu Verlusten des Vertrauens in die Politik und zu offenen Konflikten über die demokratischen Institutionen (und Politiker): Ein Machtverlust des Parlaments gegenüber der Exekutive wird festgestellt.
VII. „Das auffälligste Symptom einer Krise ist der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung…“ ( Przeworski, 2020, S.23-24)

Sowohl Crouch als auch van Reybrouck rekurrieren auf diese Phänomene. Ob aber ein solcher ‚Ereignis-Katalog‘ über Ursachen, Voraussetzungen oder Bedingungen der (liberalen) Demokratie hinreicht um eine krisenhafte Zuspitzung der Entwicklung festzustellen ist umstritten. Es ist nicht deutlich festzustellen, „ob diese Faktoren zusammenhängen und welche den größeren Einfluss haben“. (ebd., S. 156) Auch die Unfähigkeit der Regierung, die öffentliche Ordnung ohne Repressionsmaßnahmen aufrechtzuerhalten ist in den liberal-demokratischen Staaten im 21. Jahrhundert nicht gegeben. Insofern kann Hedwig Richter nur zugestimmt werden, wenn sie Demokratie als „eine spannungsgeladene Affäre, eine brenzlige Angelegenheit,…“ bezeichnet und schlussfolgert „nichts ist garantiert, ihr Modus ist die Krise“ bzw. die „Geschichte der Demokratie ist die Geschichte ihrer Krisen und ihrer Neuorientierung“ (Richter, 2020, S. 11 und 324; vgl. auch Richter 2021). Aber sowohl Crouch als auch van Reybrouck verwenden den Begriff der Krise um die Beschaffenheit der heutigen Demokratie zu beschreiben.

3. Krise der Demokratie bei Colin Crouch

Crouch will in seiner Analyse feststellen, wo wir auf dem Kontinuum zwischen den Polen der liberalen und der Post-Demokratie stehen und in welche Richtung sich die Politik entwickelt. Dazu benutzt Crouch als Bild die geometrische Form der Parabel des politischen Einflusses, d. h. demokratische Institutionen sind formal weiterhin vollkommen intakt, aber die politischen Verfahren und die Regierungen entwickeln sich zurück in Richtung vordemokratische Zeiten19 Crouch verweist dabei auf die Macht der Wirtschaftseliten und eine falsch verstandene Fokussierung der Interpretation der Bürgerrechte als vorrangig negative Rechte, - d. h. das Individuum vorrangig gegen den Staat zu positionieren sowie Eigentumsrechte schützen - und dem Hintenanstellen der positiven Rechte, also der Fähigkeiten sich am Gemeinwesen aktiv zu beteiligen. Damit korrespondiert, dass für Crouch die (liberale) „Politik im wesentlichen eine Angelegenheit von Eliten“ ist. (CCr, 2008, S. 23).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Parabel des politischen Einflusses nach CCR, 2021, S.20

Das Entstehen und Wachsen neuer Interessengruppen, den sozialen Bewegungen (NGOs) und den Möglichkeiten sich über moderne Kommunikationsmittel in einer liberalen Gesellschaft zu engagieren ist für ihn nicht dasselbe wie eine starke Demokratie: „Demokratie erfordert ein gewisses Maß an Gleichheit, was die tatsächlichen Möglichkeiten der Bürger angeht, auf die politischen Entscheidungen einzuwirken“.20 (ebd., S. 26; vgl. auch Allen, 2020; Christiano, 2018, S. 35-36 ). Crouch schlussfolgert: „Die Welt der Interessengruppen, sozialen Bewegungen und Lobbys passt besser zum liberalen Modell als zum demokratischen …“ ( ebd., S. 27 ) Die Basisthese von Crouch lautet entsprechend: „Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin vollkommen intakt sind … entwickeln sich politische Verfahren und die Regierungen immer weiter in eine Richtung zurück, die typisch war für vor demokratische Zeiten: Der Einfluss privilegierte Eliten nimmt zu. In der Folge ist das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert“. ( ebd., S. 13 ) Zwölf Symptome der ‚negativen Utopie‘ der Postdemokratie konnten bei Crouch identifiziert werden21 :

1. Die Herrschaft des Volkes wird durch Infragestellung der Herrschaft überhaupt ersetzt, d. h. Politiker/innen degradieren zum transparenten Wesen.
2. Politik bedient sich der Techniken der politischen Manipulation aus dem Bereich des Showbiz und des Marketings.
3. Der Wohlfahrtsstaat wird (in vielen Ländern) zum Minimum abgebaut.
4. Die Gewerkschaften werden marginalisiert.
5. Das wirtschaftsliberale Staatsverständnis (Schutz gegen Gewalt, Diebstahl und Betrug sowie der vorrangige Schutz des Eigentums) wird wiederbelebt.
6. Das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich wächst.
7. Das Steuersystem ist nicht mehr auf Umverteilung ausgerichtet.
8. Politik kümmert sich fast ausschließlich um eine Handvoll Wirtschaftsführer.
9. Es ergibt sich sukzessive eine Neu-Konzentration privater Macht, einst Kennzeichen vordemokratischer Gesellschaften.
10. Der Charakter der politischen Kommunikation verkümmert: durch Kommunikationsprofis und geschulte Politiker verwenden im ‚ Geschäft der Überredung ‘ aalglatte Statements .
11. Parteiprogramme dienen nicht der Aufklärung, sondern der Vermarktung eines Produktes.
12. Wachsende Personalisierung der Politik und der Wahlen und damit Niedergang der demokratischen Diskussionskultur.

„Eine Postdemokratie kann nur auf der Grundlage einer über längere Zeit stabilen Demokratie entstehen, deren Praktiken und Institutionen so wertvoll sie für sich genommen sind, durch ihren Fortbestand den Anschein erwecken, es stehe alles zum Besten. Denn postdemokratische Verhältnisse setzen einen auf Ermüdung beruhenden Unwillen voraus, seinen Pflichten als politische Bürger weiterhin gerecht zu werden.“ (CCr, 2021, S.39) Die Krise der Demokratie, der Übergang zur Postdemokratie wird nicht aktiv wahrgenommen. (vgl. CCr, 2008, S.15) Jörke resümiert: „Postdemokratische Systeme zeichnen sich durch ein komplexes und widersprüchliches nebeneinander von demokratischen und expertokratischen, von staatlichen und privaten, von nationalen und globalen Formen des Regierens aus. Damit ist diesen politischen Regimes eine grundlegende Ambivalenz eingeschrieben...“ ( Jörke, 2011, S. 17 ).

Crouch war noch 2003 überzeugt, dass wir nicht bereits in einer Postdemokratie leben, uns aber dem postdemokratischen Pol immer mehr annähern und viele Errungenschaften des 20. Jh. rückgängig gemacht werden. Aber: „Da die demokratischen Institutionen und Haltungen weiterhin existieren merken wir nicht, dass die Demokratie geschwächt und die Macht innerhalb des politischen Systems auf eine kleine Elite aus Politikern und Konzernen übergegangen ist, die eine Politik nach den Wünschen letzterer betreiben.“ (CCr 2021, S. 20) In seiner jüngsten Publikation zur Postdemokratie untermauert Crouch diese qualitative Bewertung des Zustands der Demokratie mit empirischen Hinweisen (vgl. dazu Kapitel 2.3, oben ). „Ein noch größerer Anschlag des Neoliberalismus auf die Demokratie war die Liberalisierung der Finanzmärkte.“ (ebd., S. 235). Der historische Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit, die „Verbindung von Modernisierung und der Verringerung der sozialen Ungleichheit,… zerbrach“ [22] (CCr, 2008, S.19/20). Eine steigende Abhängigkeit der demokratischen Staaten von Krediten markiert den Übergang vom Steuerstaat zum Schuldenstaat (Vgl. CCr, 2021, S.94f) und Crouch schlussfolgert, dass der Beginn der Postdemokratie nicht rückgängig gemacht werden kann und wir lernen müssen damit zu leben. Entsprechend entwickelte er ein Analyseraster der verursachenden Elemente der Postdemokratie.

3.1 Verursachende Elemente der Postdemokratie und Maßnahmen zur Krisenbekämpfung bei Colin Crouch

Crouch sieht fünf wesentliche Ursachenzusammenhänge zum Übergang zur Postdemokratie:

1 Die ökonomischen Faktoren der Globalisierung: Weil die Demokratie mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus nicht mithalten kann können Nationalstaaten die großen Unternehmen nicht mehr kontrollieren.
2 Die Politik reagiert mit dem Aufbau von regionalen Vereinigungen von Staaten. Aber die wichtigste dieser Vereinigungen, die EU, ist im Vergleich mit den globalen Unternehmen „ein unbeholfener Pygmäe“ ( CCr, 2008, S. 42 ) und deren demokratische Qualität ist gering ( vgl. dazu auch Schmidt, 2019. Kap.26 und 27 ).
3 Die Stärkung der Unternehmen (als Institution) und gleichzeitige Schwächung der Rolle der Arbeitnehmer, d. h. der Niedergang des Keynesianismus und der Massenproduktion. „Der Konsument hat über den Staatsbürger gesiegt“ ( Crouch, 2008., S. 67 )
4 Zurück bleibt eine fragmentierte23 und passive Bevölkerung, ohne Organisationen, die ihre Forderungen formulieren könnten.
5 Politische Parteien haben im Aufstieg der Demokratie geprägte und heute ‚veraltete‘ Strukturen und degenerieren deshalb zur postdemokratischen Partei (vgl. dazu CCr, 2008, S. 91-100).

Ergo kann die Spannung zwischen den egalitären Forderungen der Demokratie und den Ungleichheiten, die aus dem Kapitalismus resultieren, nie vollkommen beseitigt werden. Allerdings sind mehr oder weniger konstruktive Kompromisse möglich. (vgl. ebd., S.67 ) Crouch sieht drei

Ebenen für Möglichkeiten, die krisenhafte Entwicklung zur Post-Demokratie zu beeinflussen .

Zum einen verweist Crouch auf die Beschränkung der Dominanz ökonomischer Eliten. Die Abschaffung des Kapitalismus ist heute nicht mehr möglich. Deshalb gilt es Instrumente zu finden, die dessen Dynamik und Unternehmergeist bewahren, aber auch die undemokratische politische Macht der (Spitzen-) Manager begrenzen.24 Crouch spricht in diesem Zusammenhang von einem Paradox, dass unregulierte Liberalisierung, statt zu perfekten Märkten zu (US-dominierten) Oligopolen führt. Auch das Argument, dass Aktionäre dem Management durch Schaffung von Transparenz eine bessere Kontrolle als staatliche oder verbandsinterne Kontrolle ermöglichen, wird durch zahlreiche Bilanzskandale konterkariert. Dies auch deshalb, weil Wirtschaftsprüfer dieser Unternehmen gleichzeitig Dienstleistungen für dieselben Unternehmen erbringen, die sie im Auftrag der Aktionäre überwachen25. Das Shareholder-Modell der Unternehmenskontrolle muss attackiert werden. Er spricht vom „Gegenangriff“. ( vgl. ebd., S. 136f ). Zum anderen diskutiert Crouch - beispielhaft für die inter- bzw. transnationale Ebene - die EU und deren technokratischen Aufbau, die langsame und schwache interne Demokratisierung sowie die effektivitätsmindernden einzelstaatlichen Interessen innerhalb der EU. Jedoch kann die EU durch Behauptung ihrer Präsenz, ihrer unverwechselbaren Prinzipien, die Dominanz der USA in Frage stellen und eine wichtige Rolle bei der „Revitalisierung der Demokratie spielen“. ( vgl. ebd., S. 137 ) Schließlich verweist Crouch auf die nationale Ebene : Die Angriffe auf die „Übermacht der Wirtschaft“ müssen „in einer großen Zahl einzelner Staaten gelungen“ sein, sonst sind „wirkungsvolle Aktivitäten auf der internationalen Ebene“ nicht möglich ( vgl. ebd., S. 138 ). Crouch identifiziert deshalb unterschiedliche

Bereiche für konkrete Maßnahmen26:

1. Gesetzliche Regelungen, zu Geld- und Personalbewegungen in Parteien, Beratergremien und Lobbyeinrichtungen.27.
2. ‚Rechtlich verbindliche Verhaltenskodizesin Unternehmen um globale Operationen der Wirtschaft mit sozialen Interessen zu versöhnen.
3. Dabei will Crouch sich nicht nur auf NGOs oder Bürgerinitiativen verlassen, sondern auch die politischen Parteien miteinbeziehen. D. h. Crouch will eine Beeinflussung von außen auf die Parteien durch soziale Bewegungen verstärken. Der „Fortbestand der Demokratie … wird nicht zuletzt davon abhängen, ob neue radikal umgebaute alte Parteien in der Lage sind, einen Meinungsaustausch mit den Wählern auf Augenhöhe herzustellen“. (CCr, 2021; S. 171).
4. Maßnahmen zur Bekämpfung des Paradox der politischen Klasse - einerseits abhalten der Bürger/innen sich mit den Geheimnissen der Politik zu befassen, aber andererseits passive Unterstützung zu erwarten -, das zu „Apathie der Wählerschaft führt: Beispielsweise erwähnt er
- Statt Parteienfinanzierung nach Wahlerfolgen, können steuerzahlende Bürger/innen selbst entscheiden welche Partei einen Teil ihrer jährlichen Steuerschuld bekommen.
- Vergleichbar zum direktdemokratischen Verfahren in der Schweiz v. a. auf kommunaler oder regionaler Ebene Bürgerversammlungen etablieren, also. z. B., mit zufällig ausgewählten Personen Gesetzesvorschläge diskutieren, ggf. mit Recht auf Verabschiedung oder Verwerfung.
5. Engagement in den Parteien qualitativ verändern : Parteimitglieder knüpfen ihre Zustimmung explizit an Bedingungen, d. h. Mitglieder werden „die Partei belohnen, wenn sie in ihrem Sinn handelt, und bestrafen, wenn sie dies nicht tut“. ( CCr, 2008, S. 146; vgl. dazu auch Hermann/Schwegler-Rohmeis,1989 )
6. Neue soziale Identitäten mobilisieren : „Daß es im Inneren des demos immer einen neuen Bereich der Kreativität und der Irritation gibt, ist für egalitaristische Demokraten die größte Hoffnung für die Zukunft.“ ( CCr, 2008, S. 148 ) Es gilt dabei stets zu fragen: „ob sie einen „Beitrag zur demokratischen Vitalität darstellt und ob sie hilft, die Politik davor zu bewahren, zu einem manipulativen Spiel unter Eliten zu verkommen“. ( Ebd., S. 150 ).
7. Feministische und ökologische sowie globalisierungskritische (Schüler-) Bewegungen intervenieren zunehmend – vergleichbar mit den Lobbyisten der Wirtschaft – zwischen den Wahlterminen und die Politik muss darauf reagieren.28
8. Deshalb – ähnlich wie große Unternehmen tragfähige Existenzgründungen aufkaufen – „sollte es einen offenen Markt für jene politische Identitäten geben, die zwar außerhalb der oligopolistischen Arena der etablierten Parteien liegen, aber nicht allzu weit von dieser entfernt sind. Individuen aus diesen Parteien müssen sich bei solchen Aktivitäten engagieren, wenn diejenigen, die schließlich Erfolg haben, in die Partei einbezogen werden sollen“. ( Ebd., S.153 )


Fazit : Wichtigste Ursache für den „Niedergang der Demokratie“ ist nach Crouch das „Ungleichgewicht zwischen der Rolle der Interessen der Unternehmen und denen aller übrigen Gruppen der Gesellschaft“ ( Ebd. ). Zusammen mit der gegebenen Entropie der Demokratie ergibt sich eine vordemokratische Form der Politik, externer Druck auf Regierungen und Parteien durch Wirtschaftslobbyisten und internationale Großkonzerne (und nicht umgekehrt). Interne Veränderungen in den Prioritäten der Regierungen und innerhalb der Struktur der politischen Parteien, lassen die Politik zu einer Angelegenheit „geschlossener Eliten werden. ( CCR, 2008, S. 133 ) Aber: wir sind nicht ins 19. Jahrhundert zurückgefallen: Die Bewegung war parabel- und nicht kreisförmig. Auf der Zeitachse ergaben sich Erfahrungen und Errungenschaften, die nicht widerstandslos aufgegeben werden dürfen. Weigern sich die etablierten politischen Parteien, diesen Identitäten Ausdruck zu verleihen, „schneiden sie die Quellen ihrer eigenen Vitalität ab“. Es müssen „in einer ambivalenten Situation … widersprüchliche Lehren“ gezogen werden (ebd., S. 152f ) :

1. Aufmerksame Beobachtung neuer sozialer Bewegungen auf mögliches Vitalisierungspotenzial für die Demokratie.
2. Einfluss der Lobbys etablierter und neuer Initiativen nutzen, da postdemokratische Politik über Lobbys funktioniert.
3. Weiter auf politische Parteien setzen, da keine der postdemokratischen Alternativen ein vergleichbares Potenzial zur Zielorientierung an politischer und sozialer Gleichheit anbieten.
4. Ein Kompromiss mit den herrschenden Wirtschaftseliten ist bzw. war aber nur erreichbar,

- wenn der Kapitalismus über längere Zeit hinweg wirtschaftliche Stabilität nicht garantieren konnte.
- wenn Bedingungen der unkontrollierten Gewalt vorherrschen (manchmal Nähe zum Faschismus, manchmal Konfrontation mit dem Kommunismus).
- wenn es weitgehend gewaltfreie Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften gab
- wenn die soziale Infrastruktur zu sehr vernachlässigt wurde und
- in Phasen der steigenden Glaubwürdigkeit sozialdemokratischer und anderer politischer Alternativen.

Crouch schlussfolgert : „Die Wissenschaft und die sozialen Bewegungen müssen die nötigen Alternativen und Wahlmöglichkeiten hervorbringen. Die Demokratie wird sich im 21. Jahrhundert nicht mehr auf stabile Parteibindungen stützen können, ... Sie kann jedoch neue Grundlagen finden.“ (CCr, 2021, S. 254)

4. Krise der Demokratie bei David van Reybrouck

Zur Krise der Demokratie29 beschreibt David van Reybrouck als Ausgangspunkt seiner Analyse ein Paradoxon der Demokratie: Obwohl weiterhin an starkes Interesse an der Politik sowie eine hohe Zustimmung zur Demokratie vorliegt und trotz zunehmender Verbreitung der liberal-geprägten Volksherrschaft30 nimmt die Begeisterung für demokratische Herrschaft ab, ja wird der ‚Ruf nach starken Führern‘ stärker und das Vertrauen in die Volksherrschaft sinkt (in Zentraleuropa). Auch das Zutrauen in öffentliche Einrichtungen wie Post, Bahn, und das Gesundheitswesen schwindet. Ja, selbst das Vertrauen zwischen Regierenden und Regierten ist gestört. Das gilt besonders für politische Parteien31. Aber wenn das politische Interesse ansteigt und gleichzeitig das Vertrauen sinkt entsteht ein Konfliktpotential. Van Reybrouck identifiziert deshalb zwei sich gegenseitig verstärkende Krisenelemente der Demokratie westlicher Nationalstaaten32. Zum einen erkennt er eine Krise der Legitimität und darüber hinaus eine

Krise der Effizienz .

Diese bringt er mit drei ‚Symptomen‘ in Verbindung: - Zum ersten die Dauer des Zeitraums, bis Koalitionsregierungen gebildet sind. Außerdem das Abstrafen der Regierungsparteien bei Folgewahlen sowie schließlich die erhebliche Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität und die damit korrespondierende Durchsetzungsschwäche bei der Implementation von politischen Projekten. Er bemängelt also die Verlangsamung der Umsetzung politischer Entscheidungen, insbesondere bei (größeren) Infrastrukturprojekten. Auch unübersichtliche Rahmenbedingungen, v. a. über- oder supra-nationale Einbindungen schaffen eine Souveränitätseinschränkung und damit eine Kette der gefühlten Machtlosigkeit der Bürgerschaft gegenüber der Regierung, der Regierung gegenüber Europa und Europas gegenüber der Welt. ( vgl. auch Winkler, 2021 ) Darüber hinaus ermittelt van Reybrouck eine

Krise der Legitimität.

Diese misst er an der Akzeptanz politischer Entscheidungen durch das Volk. Als Indikatoren zieht er die Abnahme der Wahlbeteiligung, die Volatilität der Wahlentscheidungen, zunehmende ‚Bestrafung‘ der Regierungsparteien durch den Demos mit Verlust von Stimmenanteilen bei den Wahlen nach der Regierungsübernahme, langanhaltende Verhandlungen um Regierungskoalitionen mit immer detaillierteren Koalitionsverträgen sowie eine generelle Abnahme der Parteibindung bei den Wähler/innen heran. Aktualität dominiert und schafft eine Wechselwirkung zwischen Politik und Medien, in der sich täglich ändernde Interessen der Medien an Sachvorgängen mit Interessen von Politikern und Parteien, auf diesen medialen Hype aufzuspringen zum "Inzidentialismus" steigert und dabei einen hohen “Verschleiß” von Politikern bewirkt33. Im Kern bedeutet dies, dass die „Demokratie immer zahnloser geworden“ ist. ( DvR, 2016, S. 18 ) Beide von van Reybrouck beschriebenen Krisenphänomene werden zum ‚ Demokratiemüdigkeitssyndrom ‘ zusammengefasst, das er wiederum in vier Diagnosemöglichkeiten einteilt.

4.1 Verursachende Elemente der Krise der Demokratie und Maßnahmen zur Krisenbekämpfung bei van Reybrouck

Zum Verständnis dieser diskutiert van Reybrouck vier mögliche krisenverursachende Elemente bzw. er spricht von .Diagnosen34. Zum einen analysiert er eine Ursache Krise der Demokratie als eine

„Krise des politischen Personals ( DvR, 2016, S.22 )

Die politische bzw. herrschende Klasse hat sich elitär von der Durchschnittsbevölkerung verabschiedet, eine Tendenz die zusätzlich durch das Aufkommen von sog. Populisten verstärkt wird. Letztere sind politische Unternehmer, die nach zusätzlichen Marktanteilen suchen. Doch mit vermeintlich größerer Volksnähe ist für die Demokratie nichts gewonnen, denn „die heutige Volksvertretung hat tatsächlich ein Legitimationsproblem“ ( DvR, 2016, S.23 ): Es gibt einen Überhang an Akademikern in den Parlamenten (Stichwort: ‚Diplomdemokratie‘) und die starke Tendenz zum ‚Berufspolitiker‘, oft mit Hang zur Familiendynastie. Lediglich ausgetauschtes Politikpersonal wäre bestenfalls ein Versuch die „Legitimität der Repräsentation zu überwinden“, aber der Effizienz würde das nichts nützen, zumal gerade für die Populisten „das Problem nicht das Personal der Demokratie, sondern die Demokratie selbst“ ist ( ebd., S.24 ). Zum anderen diskutiert er, als weitere Ursache für die zunehmenden krisenhaften Herausforderungen, die

Demokratie als solche

„Technokratie ist dann schnell die Antwort“, d. h., die öffentlichen Angelegenheiten werden besonders in Krisenzeiten nichtgewählten Expert/innen überlassen, die sich keine Sorgen um Wiederwahl machen müssen35. Dieses effiziente “civic engineering” kommt auch häufig zur Anwendung in trans- und supranationalen Organisationen wie z. B. die EZB, EU-Kommission, Weltbank, IWF, und viele andere mehr. Die Technokratie ist für van Reybrouck ein Überbleibsel vom ‚Postpolitischen Denken‘ des sog. Dritten Weges der 90er Jahre.36 Aber „Effizienz erzeugt nicht automatisch Legitimität“ ( ebd., S.27 ) und deshalb ist ein technokratisches Regime allenfalls eine kurzfristige Notwendigkeit, aber keine langfristige Lösung, denn „Demokratie ist nicht nur Government for the people, sondern auch by the people“. ( ebd. ) Darüber hinaus problematisiert er als dritte Möglichkeit die

Diagnose der direkten Demokratie .

In diesem Kontext werden zahlreiche Beispiele von Interventionen „für eine bessere Demokratie“ der jüngeren Vergangenheit aufgeführt.37 Dabei geht es nicht um ‚Führerkult‘ wie bei den Populisten und auch nicht um technokratische Effizienzsteigerung, sondern es geht vorrangig um die Korrektur und Erneuerung des Aspekts der Legitimität durch ein Mehr direkter Demokratie38. Van Reybrouck kritisiert, dass die „Diagnose der repräsentativen Demokratie stimmte, aber die Alternative war schwach“ ( ebd., S. 34 ). Sie blieb praktisch in der Parlamentarismuskritik stecken und hat Tendenzen zum Antiparlamentarismus.

Zwischenfazit

Populismus ist gefährlich für die Minderheit, die Technokratie für die Mehrheit und der Antiparlamentarismus für die Freiheit. Trotz gewisser Erfolge39 wird auch der Anti-Parlamentarismus es nicht schaffen das Demokratiemüdigkeitssyndrom zu beseitigen, weil alle bisherigen Gegenvorschläge den Fehler machen, zu glauben, dass die Vertretung des Volkes „untrennbar mit Wahlen verbunden ist“. ( ebd., S. 36 ). Dies führt schließlich zur

vierten Diagnose der Verursachung der Demokratiemüdigkeit :

Die Krise der Demokratie liegt an der elektoral-repräsentativen Demokratie, also, bei der Form von Demokratie, bei der die Volksvertretung (ausschließlich) durch Wahlen zustande kommt“.40 Hier kritisiert van Reybrouck, dass eine Methode der Demokratie - nämlich Wahlen - zum eigentlichen Ausdruck der Demokratie geworden sind.41 Es wird übergangen, dass Wahlen erst seit gut 200 Jahren im demokratischen Prozess langsam etabliert wurden und das allgemeine Wahlrecht sich erst in der Periode von 1870 bis 1920 gemeinsam mit dem Erstarken von politischen Parteien durchsetzte. Mit dem Aufkommen von Meinungsumfragen ausgangs des 20. Jahrhunderts und dem Durchsetzen der kommerziellen Medien büßt das System Wahlen aber wieder an Stabilität ein42. Spätestens seit dem Durchbruch der sozialen Medien und der Finanzkrise verliert die Zivilgesellschaft erheblich an Einfluss und es entsteht „eine Lücke zwischen Staat und Individuum“. Die Folge, der „Bürger wurde zum Konsumenten, der Urnengang zum Abenteuer“: Langfristigkeit und das Gemeinwohl müssen hinter „Kurzfristigkeit und Parteiwohl zurückstehen“. ( ebd., S. 46 und 49 ) Wahlen werden zum stark medienorientierten Kampf um Wahlstimmen und damit büßt die elektoral-repräsentative Demokratie erheblich an Reputation beim Demos ein. Van Reybrouck schließt insgesamt daraus, dass Wahlen heute die Demokratie nicht befördern, sondern behindern, weil „die Demokratie auf die repräsentative Demokratie reduziert wurde und die repräsentative Demokratie auf Wahlen“. Er spricht gar von „einer Diktatur der Wahlen“ (ebd., S. 50). Sich auf Jan Rotmans43 beziehend, argumentiert er, dass die repräsentative Demokratie als vertikales Modell zu charakterisieren ist. Der Trend im 21. Jahrhundert geht aber in Richtung horizontale Anordnungen. Deshalb, sollte ausschließlich an Wahlen festgehalten werden, droht der Demokratie eine ‚immense oder dramatische Systemkrise‘ (Vgl. ebd., S. 51 und 126).

Der Lösungsansatz

Aufbauend auf eine detaillierte Beschreibung der Nutzung in der Antike und der Renaissance sowie eines kurzen Rekurses auf die elitär-verdienstbasierte Differenz zwischen Regierenden und Regierten, also aristokratisch begründete Einführung vom elektoral-repräsentativen System im Zusammenhang mit den Revolutionen in Amerika und Frankreich, schlägt er als Akt der Krisenbekämpfung oder als Demokratiemüdigkeitstherapie das Losverfahren vor.44 Das „demokratischste aller politischen Verfahren“ (ebd., S. 88), das Losverfahren und (schnelle) Ämterrotation ermöglichten im antiken Athen direkte Partizipation (der männlichen) Bürger bei der Zuteilung der meisten Ämter45 und eine Neutralisierung des persönlichen Einflusses durch Zufallsauswahl und damit praktische im aristotelischen Sinne freiheitliche Demokratie, also einen Wechsel zwischen Regieren und Regiertwerden.46 DvR nennt dies ‚ aleatorisch-repräsentative Demokratie, bei der „der Unterschied zwischen Regierten und Regierenden durch Auslosung statt durch Wahlen entsteht“ (ebd., S. 60). Während der Römischen Kaiserzeit war das Losverfahren nicht mehr gebräuchlich, aber sowohl in norditalienischen Städten im Mittelalter als auch in den großen Renaissancestädten wurde das Losverfahren praktiziert. Trotz der Ausweitung des Wahlrechts auf alle Erwachsenen, wurde aber in der modernen Demokratie der fundamentale Unterschied zwischen Regierenden und Regierten nicht angetastet. Erst mit den Debatten um Aspekte der deliberativen Demokratie47 und im Rahmen der theoretischen und praktischen Arbeiten von James Fishkin rückten wieder „zwei Aspekte der athenischen Demokratie“ (DvR, 2016, S. 92) ins Rampenlicht der Debatten: die Auslosung und Vergütung von politisch befugten Personen für konkrete politische Zwecke.48. Van Reybrouck zielt darauf ab, „das Losverfahren institutionell und konstitutionell in der Demokratie zu verankern“ (ebd., S. 108). Per Losverfahren zusammengestellte gesetzgebende Volksversammlungen sind für ihn wegen der idealen Verteilung politischer Chancen legitimer und auch effizienter, weil die geloste Volksvertretung sich nicht auf medienfixierte ‚Parteispielchen‘ einlassen muss und eine Verbesserung des Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Bürgerschaft ermöglicht und damit auch deren Korruptionsanfälligkeit senkt49 . Das Losverfahren soll aber nicht die Wahlen ersetzen, sondern diese ergänzen. Vorrangig sollte dies im nationalen Rahmen erfolgen, aber auch auf supranationaler Ebene ist eine Erweiterung des Wahlsystems vorstellbar.

Ergebnis der Überlegungen van Reybroucks

Bei angemessener Vergütung, unterstützender fachlicher Expertise50 und in der Form eines birepräsentativen Systems, d.h. mit gewählten Körperschaften bzw. in Erweiterung bereits erprobter deliberativer Elemente, ist eine auf dem Losverfahren basierende Demokratie denkbar und machbar. Nicht nur die Besten regieren (Aristokratie), aber geloste Menschen, regieren nicht, weil sie „besser wären als der Rest, sondern weil die Umstände das Beste aus ihnen herausholen“ . Das ist ‚ Government of, for and by the people.’ Es geht heute nicht mehr um das Wahlrecht, sondern derzeit geht es um das Rederecht. Über das Losverfahren will er „die Demokratie „dekolonisieren“ und „demokratisieren“. (ebd., S. 122-123, 126 sowie 136)

5. Krise der Demokratie bei Crouch und van Reybrouck im Vergleich

Im Rahmen dieser Arbeit geht es nicht um eine grundsätzliche Kritik51, sondern um einen spezifischen Vergleich zwischen den beiden Beiträgen von Colin Crouch und David van Reybrouck mit dem besonderen Fokus auf den (jeweiligen) Krisenbegriff der Demokratie. Es geht deshalb um die um den jeweiligen Demokratiebegriff, um „empirische und normative Bezugsysteme“ sowie um Aussagen der Ansätze beider Autoren über „Entwicklung, Funktionsvoraussetzungen und Funktionsweise der Demokratie“ ( Schmidt, 2019, S. 507, 522 ) Als erster Schritt dazu wird auf das oben entwickelte Referenzmodell des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden Demokratie zurückgegriffen. Die ausführliche, vergleichende Zuordnung der zentralen Standard-Elemente dieses Referenzmodells mit den Aussagen der beiden Autoren wird in Annex 3 ausführlich dokumentiert. Auf dieser Grundlage ergeben sich folgende Schlussfolgerungen:

Viel Gemeinsamkeiten im empirisch- phänomenologischen Bereich der Krisenbeschreibung

Bemerkenswert ist, dass van Reybrouck auf die Publikation zur ‚Postdemokratie‘ direkt Bezug nimmt ( vgl. DvR, 2016, S. 47 ), während Crouch – auch 2021 - die Analyse von van Reybrouck nicht diskutiert. Trotzdem gibt es einige gemeinsame Ausgangsannahmen: Zum einen geht ihr indirekter, fast medizinisch-psychologischer Krisenbegriff auf einen auf ‚Ermüdung beruhenden Unwillen‘ (CCr) oder ein ‚Müdigkeitssyndrom‘ (DvR) zurück. Es entsteht das Bild, dass Gesellschaften unbewusst in die Krise schliddern, weil über die Zeitläufte die Wachsamkeit und das Vertrauen der Bürger/innen in die Politik sinkt. Zum zweiten beschreiben beide ein Paradox der Demokratie: Die Wählerschaft soll sich nicht groß einmischen in das politische Geschäft, aber trotzdem in genügende hoher Anzahl sich am Wahlvorgang beteiligen. Die daraus resultierende Verengung der Demokratie auf den medial-dominierten Kampf um Wahlstimmen wird von Crouch den Zwecken der politischen und wirtschaftlichen Eliten zugeschrieben, während van Reybrouck dies einem falschen (elektoral-repräsentativen) Demokratieverständnis zuordnet. Außerdem argumentieren beide im Hinblick auf (zeit-) geschichtliche Ereignissen und empirische Daten. Inwieweit aber solche Erfahrungen tatsächlich Schlussfolgerungen auf die Krisenbearbeitung der Demokratie zulassen, wird von beiden nicht thematisiert. „Doch die Geschichte sagt uns nichts über die Zukunft, wenn die gegenwärtigen Bedingungen ohne Präzedenz sind.“ ( Przeworski, 2020, S.157 )52. Beide Autoren sind optimistisch und gehen davon aus, dass die zunehmende Bildung in der Bevölkerung die Tendenz zur Postdemokratie verlangsamt oder gar die Revitalisierung der Demokratie ermöglicht53. Allerdings haben beide Autoren auch eine gemeinsame Leerstelle: Sie haben den Fokus auf innergesellschaftliche politische und ökonomische Herausforderungen für die Demokratie. Bedrohungen von außen durch Interventionen unterschiedlichster Art dauerhaft autokratischer Regime, die zur Transition einer Demokratie oder zum Anhalten von Entwicklungen der Demokratisierung führen können, werden nicht thematisiert, obwohl – unabhängig von unterschiedlichen Messmethoden die „Zahl und das politische Gewicht autoritärer und totalitärer Staaten“ groß ist. ( Schmidt, 2019, S. 523; vgl. dazu auch ebd., Kapitel 18 )

Unterschiede in der Bestimmung der Krisenursachen

Die von Crouch herangezogenen Beispiele und (wenigen) empirischen Belege sind häufig zusammenfallend mit den ‚Symptomen‘, die van Reybrouck zu seiner Begründung der doppelten Krise der Demokratie präsentiert: Letztgenannter erkennt zum einen eine Krise der Effizienz, die v. a. durch Dauer des Zeitraums zur Bildung von Koalitionsregierungen, das Abstrafen der Regierungsparteien bei Folgewahlen sowie durch erheblichen Einschränkungen der nationalstaatlichen Souveränität gekennzeichnet ist. Dazu kommt die Krise der Legitimität, der Akzeptanz politischer Entscheidungen durch das Volk, angezeigt durch Abnahme der Wahlbeteiligung und der Parteibindung, Volatilität der Wahlentscheidungen, langanhaltende Verhandlungen zur Bildung von Regierungskoalitionen. Van Reybrouck verortet die Krisenursachen phänomenologisch sehr stark in den Bereich der politischen Beteiligung, d. h. hier dem System der Wahlen. Dieses ist defizitär und bedarf einer verfahrenstechnischen Ergänzung.

Crouch ist stark orientiert auf den Einfluss der (global agierenden) Wirtschaft als Hauptursache der krisenhaften Entwicklung der Demokratie. Er identifiziert zahlreiche weitere systembedingte strukturelle Ursachen der Krise der Demokratie54 : Es entsteht deshalb eine komplex bedingte Krise des egalitären, an politischer und ökonomischer Gleichheit ausgerichteten Projekts sowie ein Substanzverlust der Demokratie‘, der an vordemokratische Zeiten erinnert. Beide Ursachendimensionen werden nicht aktiv wahrgenommen. ( vgl. CCr, 2008, S. 13-15 ) Crouch orientiert klar an einem auf Gleichheit der Person und der Prozesse sowie Freiheit bezogenen normativen Theorieansatz. ( vgl. dazu auch Christiano,2018, S. 1-3, 9-18 und 34-40) Es geht um eine Rückgewinnung eines umfassenden Ausmaßes an Beteiligung in politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen.

Insgesamt spielen für van Reybrouck die defizitäre Partizipation (bes. bei Wahlen oder im Engagement in politischen Parteien) und die daraus sich ergebenden Mängel in der Repräsentation und Legitimität eine zentrale Rolle in der Krisenbeschreibung. Für Crouch spielen die schwindenden Möglichkeiten zur politischen aktiven Gestaltung der Bürger/innen und zunehmenden Einflussmöglichkeiten der politischen und wirtschaftlichen Eliten eine bedeutende Rolle bei der Feststellung des Krisenzustands der Demokratie. Van Reybrouck ist mit seinem Fokus auf die unmittelbar empirisch gegebenen Erscheinungen, den Krisenbegriffsdefinitionen von Przeworski (Stichwort: Bedrohung von Institutionen) und Schmidt (Stichworte: keine Parlaments Mehrheit, starke Anti-System-Partei, viele Nichtwähler/innen, geringer Gestaltungsspielraum für die Politik) näher, während Crouch doch deutlich mehr Übereinstimmungen mit dem komplex-strukturellen Krisenverständnis von Merkel (insbesondere im Bereich der Annahme einer latenten Krise bzw. eines schleichenden Niedergangs) und Habermas55 (Stichworte: multiple ökonomische Krise sowie Rationalitäts-, Motivations- und Legitimationskrise) hat.

Erhebliche Differenzen bei der Bearbeitung der Krise

Van Reybrouck vergleicht zwar zwischenstaatlich empirische Phänomene verbleibt aber bei der ‚Therapie‘ vorrangig auf der politischen Ebene des Nationalstaates. Er geht davon aus, dass das politische Personal sich elitär von der Durchschnittsbevölkerung verabschiedet hat und sich vornehmlich auf den medialen Hype, den Inzidentialismus konzentriert, um im politischen Wettstreit zu überleben. Van Reybrouck sieht die Rolle von politischen Parteien anders als Crouch: „Politische Parteien bündeln nicht mehr die Stimmen aus der Gesellschaft, sondern werden von ihnen auseinandergenommen. Ihr klassisches, patriarchales Modell der Interessenvertretung funktioniert nicht mehr in einer Zeit, da der Bürger mündiger ist als je zuvor.“ ( DvR, 2016; S. 50 ) Parteien bewertet er als „korrupteste Institution auf Erden“ ( ebd., S. 136 ) und sieht auch deshalb die Volkssouveränität, v. a. wegen der nicht repräsentativen Zusammensetzung der Parlamente und Parteien in Frage gestellt. Er schlussfolgert, dass Populismus (elitenbezogener Personalaustausch) für die Minderheit und die Technokratie (Expertenregierungen) für die Mehrheit gefährlich sind und, dass der Antiparlamentarismus (direkte Demokratie) die Freiheit einschränkt. Diese Interventionen können aber das Demokratiemüdigkeitssyndrom nicht verjagen, weil sie davon ausgehen, dass die Vertretung des Volkes, die Legislative untrennbar mit Wahlen, also der elektoral-repräsentativen Demokratie verbunden ist. Wahlen haben sich historisch spät etabliert und das allgemeine Wahlrecht wurde erst mit der Erstarkung von politischen Parteien durchgesetzt verlor aber auch erheblich an Einfluss und Reputation ( vgl. Kapitel 4.1, oben ). Deshalb behindern Wahlen heute die Demokratie, weil diese auf ein veraltetes vertikales Modell, die repräsentative Demokratie, reduziert wird und diese wiederum auf Wahlen. Die Alternative ist für ihn, eine horizontale Anordnung, das Losverfahren, also die ‚ aleatorisch-repräsentative Demokratie ‘. Zusammen mit der (schnellen) Ämterrotation ermöglicht Zufallsauswahl direkte Partizipation und Neutralisierung des persönlichen Einflusses und damit Demokratie im aristotelischen Sinne, ein Wechsel zwischen Regieren und Regiertwerden56. Per Losverfahren zusammengestellte gesetzgebende Volksversammlungen sind wegen der idealen Verteilung politischer Chancen legitimer und auch effizienter. Das Losverfahren soll aber die Wahlen nicht ersetzen, sondern - vorrangig im nationalen Rahmen – ergänzen und kann so „die Demokratie dekolonisieren“ und „demokratisieren“. Das Problemlösungsmodell von van Reybrouck entspricht – obwohl er auch auf den eher direkt-demokratischen Ansatz von Rousseau Bezug nimmt – damit dem normativen Modell der liberalen Demokratie, wonach politische und gesellschaftliche Konflikte durch Regularien und durch adäquate Repräsentation (Wahl und Losverfahren) erfolgreich gelöst werden. Inwiefern aber selbst ein vollständig repräsentatives Parlament staatlich-international oder ökonomisch-transnational bedingten Herausforderungen begegnen kann, wird nicht problematisiert und ist auch schwer vorstellbar. Seine Lösung der Krise der Demokratie ist auf ein Verfahren , der Reform der Legislative, konzentriert und wird den komplexen Herausforderungen sicher nicht ganz gerecht.

Crouch dagegen geht davon aus, dass der Übergang zur Postdemokratie zwar nicht rückgängig gemacht werden kann, aber eine Konfliktbearbeitung auf drei Ebenen möglich und nötig ist: Zur Begrenzung der Dominanz ökonomischer Eliten müssen Instrumente gefunden werden, die die Dynamik und den Unternehmergeist bewahren und die undemokratische politische Macht der (Spitzen-) Manager begrenzen. Auf der inter- bzw. transnationalen Ebene rekurriert Crouch auf die wichtige Rolle der EU bei der „Revitalisierung der Demokratie“. Schließlich, auf der nationalen Ebene, muss die Reduktion der Übermacht der Wirtschaft in einer beträchtlichen Zahl einzelner Staaten gelingen, denn sonst sind effektive Aktivitäten auf der zwischenstaatlichen bzw. globalen Ebene nicht möglich. Diese Analyse wird durch ein Bündel von konkreten Maßnahmevorschlägen ergänzt, das u. a. gesetzliche Regelungen, zu Geld- und Personalbewegungen in Parteien, zu Beratergremien und Lobbyeinrichtungen oder rechtlich verbindliche Verhaltenskodizes für Unternehmen umfasst. NGOs (Umweltschutzbewegungen), Bürgerinitiativen, feministische (Gender-) Politik und die politischen Parteien sind als soziale Träger miteinzubeziehen, um beispielsweise die Bekämpfung des Paradox der politischen Klasse durch Schaffung von Einflussmöglichkeiten auf die Parteienfinanzierung oder direktdemokratische Verfahren auf kommunaler oder regionaler Ebene zu ermöglichen. Auch empfiehlt Crouch über das zunächst als befreiende demokratiefördernde Verhältnis der sozialen Medien zu Demokratie bzw. Postdemokratie neu nachzudenken, weil wenige extrem wohlhabende Individuen und Gruppen sich dort populistisch gebärden. Neuerdings erwartet Crouch, dass die Wissenschaft, qualitativer Journalismus und die sozialen Bewegungen die nötigen Alternativen und Wahlmöglichkeiten hervorbringen (CCr, 2021, S. 254). Außerdem sind die Aussichten für die Erneuerung der Demokratie besser als in 2003: die Wahlbeteiligung kann wieder steigen (vgl. USA 2020) und v. a. die Zahl der Gebildeten steigt stetig. Der Ansatz von Crouch ist demzufolge komplexer, er orientiert sich am deliberativen Demokratiemodell und hofft auf eine Ausweitung von Ausmaß und Reichweite der Demokratie, d. h. möglichst viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Bereiche müssen in die politischen Debatte und Prozesse einbezogen werden.

6. Schlussfolgerungen und zusammenfassende Bewertung

Wir haben gesehen, dass van Reybrouck sich auf ein einziges konkretes Verfahren als formalen Zusatz zum vorhandenen System der Wahlen fokussiert, während Crouch stärker prozesshaft orientiert ist und auf gesellschaftliche ‚Aktivistinnen‘ setzt. Beide entwickeln aber keine konkreten landesspezifischen Vorschläge. Das ist schade, denn „Therapien zur Belebung der Demokratie müssen kompatibel sein mit den spezifischen historischen Erfahrungen und kulturellen Tiefenstrukturen der Gesellschaft, in der sie wirksam werden sollen.“ (Bender/Graßl, 2014, S. 6)57

Van Reybrouck 1: Expliziter, aber kontingenter Bezug zu Philosophischen Ansätzen

Gerade der Studie von van Reybrouck hätte – zumindest in einem begrifflich, veranschaulichenden Gedankenexperiment58 – eine Probe auf das Exempel ‚Losverfahren‘ gut getan. Seine zeitgeschichtliche Erfahrungsbasis - bleibt bisher zu stark im akademischen Bereich verankert59 : Interessant ist, dass van Reybrouck direkt Bezug auf philosophische Literatur nimmt.60 Ein Zitat von Rousseau bildet sogar den Einstieg in die Studie ‚ Gegen Wahlen ‘ und war auch Ausgangspunkt seiner ausführlichen Studien zur Lage der Demokratie. Auf die von Aristoteles vorgenommene qualitative Zuordnung des Losverfahrens als demokratisch und die der Wahl als oligarchisch sowie die wechselnde Rolle der Athener als Politiker oder Bürger - auf jeden Fall nicht als Berufspolitiker - nimmt er ebenso wie auf einen aristotelisch geprägten Freiheitsbegriff explizit Bezug: „Freiheit ist das Gleichgewicht zwischen Autonomie und Loyalität, zwischen Regieren und Regiertwerden“ ( DvR, 2016, S.59/60, vgl. auch Anm. 44, oben ) Van Reybrouck begründet damit seine Fokussierung auf seinen einzigen Reformvorschlag zur (Ergänzung der) repräsentativen Demokratie, das Losverfahren. Eine direkte Bezugnahme zu Montesquieu und Rousseau sowie zur Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert aus den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts führte van Reybrouck zum Vorschlag der Mischform aus Losverfahren und Wahlen. ( vgl. ebd., S.67/68 )61 : Andrerseits setzt er sich nicht mit klassischen Ansätzen von Individuen mit unterschiedlichen Interessen, Werthaltungen und Glaubensinhalten, wie z. B. die von Locke, Paine, Jefferson, oder J. St. Mill auseinander. Und obwohl er direkte Demokratie als freiheitsgefährdend einstuft, bezieht er sich auf (die stärker auf deliberative Ansätze fokussierten) Jürgen Habermas und James S. Fishkin zur Rechtfertigung seines aleatorisch-repräsentativen Ansatzes. Eine gewisse Kontingenz des Zugriffs auf philosophische Literatur ist also nicht auszuschließen.

Van Reybrouck 2: Bezug zu modernen beteiligungsfreundlichen Demokratietheorien

Van Reybrouck ist hier, wenn auch nicht eindeutig, modernen beteiligungsfreundlichen Demokratie theorien ( vgl. dazu Schmidt 2019, S. 227-244 ) zugeneigt. Jedoch seine Analyse der doppelten Krise (der Effizienz und der Legitimität) korrespondiert auch mit der komplexen Demokratietheorie und dem dort beschriebenen Effektivitäts-Legitimitäts-Dilemma ( vgl. ebd., S. 245-258, vgl. auch Forst, 2022 ). Er sieht zwar das zentrale Problem, dass besonders über- oder supra-nationale Einbindungen eine Souveränitätseinschränkung und damit eine Kette der gefühlten Machtlosigkeit des Bürgers gegenüber der Regierung, der Regierung gegenüber Europa und Europas gegenüber der Welt entstehen lassen, verbleibt aber trotzdem – wie einst Montesquieu und Rousseau – auf der nationalen Ebene, wenn er konkret nach der Umsetzung gefragt wird. Basierend auf die historische Erfahrung des zeitintensiven Prozesses zur Errungenschaft des allgemeinen Wahlrechts, setzt er auf eine sukzessive nach vorne offene künftige Entwicklung zur Etablierung des Losverfahrens. Das ist keine zwingende Schlussfolgerung, aber sicher ein plausibler Vorschlag. Die Eindimensionalität der Krisenbekämpfung, die van Reybrouck vorschlägt und ihm auch vorgeworfen wird ( vgl. Fliedner, 2017; Walter, 2016 ) könnte sich aber auch als Vorteil herausstellen, wenn für die konkrete Umsetzung der Erneuerung der Demokratie, die Effizienz zum vorrangigen Maßstab des Erfolgs genommen wird.62 Gleichwohl muss bezweifelt werden, ob ein aleatorisch-repräsentatives Demokratieelement das Problem der intransparenten Interventionen in die Politik aus nichtgewählten Institutionen der Wirtschaft und sonstigem Lobbyismus bändigen kann.

Crouch 1: Kein klassisch philosophischer Ansatz, aber Verwandtschaft zur gegenwärtiger Philosophie

Crouch stützt sich nicht direkt auf philosophische Klassiker, sondern rekurriert in beiden der Postdemokratie gewidmeten Veröffentlichungen auf ökonomische oder sozialwissenschaftliche Arbeiten. Dennoch hat er ein auch eigenes Kapitel der Demokratietheorien, das der postmodernen Theorien, (vgl. Schmidt,.2019., S. 267-281 sowie S. 259-266 ) entscheidend geprägt. Indem Crouch zum einen die Auslegung der Bürgerrechte als vorrangig negative Rechte, die das Individuum und die Eigentumsrechte gegen staatliche Übergriffe schützen sowie das Hintenanstellen der positiven Rechte, der Möglichkeiten und Fähigkeiten sich am Gemeinwesen aktiv zu beteiligen kritisiert und zum anderen auch nach einer starken Demokratie mit einem gewissen Maß an Gleichheit tatsächlich auf die politischen Entscheidungen einzuwirken pocht, ist er deutlich gleichheitsorientiert. Auf einem Kontinuums zwischen empirisch deskriptiver und normativer Demokratietheorie ist er deshalb auch deutlich dem letztgenannten Bereich näher.

Crouch 2: Multi-dimensionale Krisenbearbeitung mit hohem normativen Anspruch

Diese Zuordnung zum egalitär-demokratischen Ansatz führt aber – im Gegensatz zu van Reybrouck – zu einer breitgestreuten Listung korrespondierender Krisenphänomene. Es ergibt sich die Notwendigkeit einer multi-dimensionalen Konfliktbearbeitung via Wissenschaft und sozialen Bewegungen, das wiederum ein großes Bündel von Einzelmaßnahmen nach sich zieht. Crouch versteht die Dringlichkeit der gleichzeitigen erfolgreichen Umsetzung dieser Maßnahmen in zahlreichen Nationalstaaten, bleibt aber auch fast 20 Jahre nach seiner erstmaligen Reklamation postdemokratischer Verhältnisse konzeptuelle, zeitliche und strukturelle Hinweise zur praktischen Umsetzung schuldig. Er verbleibt im Bereich der Hoffnung, dass nichtstaatliche Agenten den Druck auf Legislative und Parteien sowie die Exekutive und die Wirtschaft so erhöhen, dass eine Politik hinter verschlossenen Türen minimiert wird. Wer aber partizipatorische Einmischung also auf die normative Orientierung an Gleichheit zur Wertbestimmung demokratischer Entwicklungen heranzieht63, findet im Ansatz von Crouch ein Modell, das zumindest die Krisenbekämpfung stark legitimiert. Hier besteht aber die Gefahr, dass der (hohe) normative Anspruch64 an die permanente Einmischung in den politischen Prozess durch nicht-staatliche Organisationen gerade angesichts der Komplexität der Herausforderungen zu einer Überforderung der Handelnden führt. „Der wunde Punkt ist die Verbindung der konsultativen Gremien mit dem legislativen und exekutiven Entscheidungsprozess. Wenn der Umgang mit den Beratungsergebnissen nicht verbindlich geregelt ist, riskieren Bürgerräte zum demokratischen Feigenblatt zu verkommen“, bilanziert Claus Leggewie eine Analyse von zu Initialen der erweiterten demokratischen Partizipation ( Leggewie, 2012 ). Und dabei ging es um weit weniger als den Aktivitätenkatalog von Colin Crouch.

Fazit: Eine fallbezogene Mischung aus beiden Ansätzen könnte ein gelungener Beitrag zur Demokratieentwicklung sein, verstanden als „die notwendige Grundlage menschlichen Wohlergehens“. ( Allen, 2020, S. 236 ).

8. Literaturangaben

- Allen , Danielle (2020): Politische Gleichheit, Frankfurter Adorno Vorlesung 2017, Berlin 2020

- Bender, Christiane/Hans Graßl (2014): Losverfahren: Ein Beitrag zur Stärkung der Demokratie? http://www.bpb.de/apuz/191195/losverfahren-ein-beitrag-zur-staerkung-der-demokratie [abgerufen am 12.10.2021]

- Bertram , Georg W. (2018): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart, 2018[3]

- Bethke , Hannah (2017): Undemokratische Wahlen? Per Losverfahren soll das Stimmvieh mündig werden, in FAZ, 12.02.2017, Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/gegen-wahlen-von-david-van-reybrouck-14871594.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 [abgerufen am 31.01.22]

- Boese , Vanessa A. (2021): Demokratie in Gefahr?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 71. Jahrgang, 26-27/2021, 28. Juni 2021, S. 24-31

- Christiano , Tim (2018): Democracy, from the Fall 2018 Edition of the: Stanford Encyclopedia of Philosophy, <pdf version of the entry>; https://plato.stanford.edu/archives/fall2018/entries/democracy/ [abgerufen am 14.09.2021]

- Crouch , Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt am Main, <14. Auflage>; Original: Postdemocrazia, Roma-Bari, 2003

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- Van Reybrouck (2016): Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist; o. O., Wallstein-Verlag, 2016.

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- Welch , Stephen (2013): Hyperdemocracy; New York: Palgrave Macmillan, 2013

- WZB Mitteilungen 167 (2020): Legitimität als Voraussetzung und Grundlage der Demokratie www.wzb.eu [abgerufen am 13.10.2021]

Ergänzende Literatur/Hinweise:

- Colin Crouch - Postdemokratie revisited, 30 Aug - SWR2 lesenswert – Literatur, 00:04:34; https://podtail.com/podcast/swr2-literatur/colin-crouch-postdemokratie-revisited/ [abgerufen am 12.10.2021]

- Colin Crouch (2012): im “Wiener Stadtgespräch” - Totgesagte leben länger – das befremdliche Überleben des Neoliberalismus,01:31:28; 10. 5. 2012; https://www.wienerstadtgespraech.at/video/crouch/ [abgerufen am 12.10.2021]

- Der Spiegel (2016): Europa in der Krise. "Wir töten die Demokratie"; Interview mit David van Reybrouck, in Der Spiegel; 31/2016 (http://www.spiegel.de/spiegel/europa-in-der-krise-historiker-sagt-wir-toeten-die-demokratie-a-1105820.html

- Merkel, Angela (2011): Angela Merkel und die marktkonforme Demokratie, https://www.youtube.com/watch?v=y4CIiBL-EKg [abgerufen am 15.10.2021]

- Merkel, Wolfgang (2021): Neue Krisen, Moral, Wissenschaft und die Demokratie https://www.youtube.com/watch?v=a5-Rtg39_x0 13.10.21 (Abschiedsvorlesung vom WZB)

9. Annexes

9.1 Annex 1: Überblick über die wesentlichen Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden gegenwärtigen Demokratie:

Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden gegenwärtigen (liberalen) Demokratie

Beispiele und Erläuterungen65

1. Demokratisches Wahlregime (zentrale Funktion; Barrieren gegen Einparteiendominanz; möglicher Regierungswechsel; sichtbarster Ausdruck der Volkssouveränität, kardinale Differenz zu Autokratie, notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für demokratisches Regieren)

Stabile rechtsstaatliche Demokratien sind „intern - indem die einzelnen Teilregimes der Demokratie durch ihre jeweils spezifische Interdependenz und Independenz den normativen und funktionalen Bestand sichern (wechselseitige Einbettung). Extern - indem die Teilregime der Demokratie in ermöglichende Bedingungen Rahmen der Demokratie eingebettet und gegen äußere wie innere Schocks und Destabilisierungstendenzen geschützt werden.“ Der Ansatz von Merkel orientiert ausschließlich auf die „institutionelle Architektur“. Erwünschte Politikergebnisse (Output) werden „nicht als definierende Merkmale der rechtsstaatlichen Demokratie betrachtet“. (Vgl. Merkel, 2004, S. 7-9).

Der Ansatz soll eine präzise Bestimmung der Qualität der Demokratie ermöglichen. Dazu zählt die Verbindung von Gleichheit und Universalität, als „Herzstück von Demokratie“ ( Richter, 2020, S. 9 ), Es geht also auch um die. Feststellung der besonderen Häufung von Defekten und damit die (heimliche) Aushöhlung der Demokratie.

- Kritische Trends :

- Zunahme der (v. a. elektoraler) Autokratien und Reduktion der (liberalen) Demokratie im 21. Jahrhundert, d. h. seit 2012 Verschlechterung der Demokratie in mehreren bevölkerungs- und einflussreichen Ländern (auch in der EU <PL> und USA) bei nur wenigen verbesserten Demokratien. (vgl. Boese, 2021)
- Erosion der Qualität (Rücknahme demokratischer Normen, verstärkte Macht der Exekutiven, Einschränkung der Medienfreiheit) etablierter Demokratien (Merkel, 2021, S. 4; Boese, 2021, S. 30/31)
- „Sobald ernsthafte Autokratisierungsprozesse einsetzen, sterben mehr als drei Viertel (78 Prozent) aller betroffenen Demokratien.“ (Boese, 2021, S. 29)

2. Politische Partizipationsrechte (uneingeschränkte Geltung des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit, des Assoziations- Demonstrations- und des Petitionsrechts; politisch nicht eingeschränkte Herstellung der Öffentlichkeit durch <private und öffentliche> Medien.
3. Bürgerliche Freiheits- und Abwehrrechte (verfassungsgemäß abgesicherte materielle individuelle Schutz- und Grundrechte: Staat an das geltende Recht, a priori klar definierter Normen individueller Autonomie und Freiheit gebunden)
4. Institutionelle Sicherung der Gewaltenkontrolle (institutionalisierte horizontale Verantwortlichkeiten und Machtressourcen, d. h. Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns durch Gewaltenkontrolle bzw. Gewaltenteilung).
5. De Jure und de facto garantierte effektive Regierungsgewalt via demokratisch ausgewählte Repräsentanten (friedliche Konfliktaustragung, d. h. zivile Kontrolle, es gibt. keine nicht der demokratischen Verantwortlichkeit unterworfenen polizeilichen und militärischen Akteure, die Verfügungsgewalt <über bestimmte Politikbereiche> haben; Fähigkeit und Bereitschaft der Regierung kompetent und gewaltarm zu regieren)
6. Relevanter externer Einbettungsrahmen

- Verbindung von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, als „Herzstück von Demokratie“ sowie vom Universalitätsanspruch der Demokratie.

- Soziökonomischer Kontext (politische Unterstützung für Sicherheit der Lebensführung)
- Zivilgesellschaft
- Globalisierung/Internationale Integration/ Demokratisches internationales Umfeld
- Politische Kultur mit hohem Anteil der Bevölkerung mit Selbstentfaltungswerten vs. neue kulturelle Konflikte (Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus/ Populismus)
- Völkerrechtliche Unabhängigkeit bzw. legitimierte Übertragung von nationalen Rechten auf supranationale Organisationen)
- Digitalisierung der Gesellschaft(en)

Quelle n: Eigene Zusammenstellung auf der Basis von Manfred G. Schmidt (2019, v. a. Teil III, S. 153ff und dort insbes. Kap. 24.5, S. 385 - 388) sowie der Arbeiten eines langjährigen WZB-Projektes unter der Leitung von Wolfgang Merkel (2021, 2016, 2004) und der Analyse über die gefestigten Demokratien der Welt von Adam Przeworski (2020). Zusätzlich flossen auch die Beiträge von Boese, (2021); Forst, (2021), Hamann, (2018), Schultze (2021) sowie aus demokratiehistorischer Perspektive von Richter, (2020) ein.

9.2 Annex 2: Historische Etablierung der Demokratie nach Crouch

# Historisch gesehen kam die Demokratie dem idealtypischen Modell in den ersten Jahren der Etablierung der Demokratie am nächsten. Crouch spricht von ‚Augenblicken der Demokratie‘, in denen es Bürgergruppen gelingt, die professionelle Politik zur Beschäftigung mit ihren Anliegen zu veranlassen. Wirtschaft wächst, wenn die Masse der Beschäftigten gut verdient (Massenproduktion und -konsum/Keynesianismus und Fordismus): Da Unternehmen weitgehend nationalen Autoritäten unterstanden, konnten Regierungen einen „Kompromiss zwischen den Interessen der kapitalistischen Wirtschaft und denen der arbeitenden Bevölkerung“ (Korporatismus) durchsetzen. ( CCr, 2008, S. 15 )

# Mit dem Abflauen des kriegsbedingten Wiederaufbauenthusiasmus der aktiven demokratischen Engagements ergibt sich in den 70er-Jahren (Ölkrisen, Aufstieg der Dienstleistungsökonomie, etc.) eine Veränderung: Die Bedeutung der Industriearbeiterschaft sinkt und damit der Einfluss der klassischen sozialdemokratischen (Regierungs-) Politik.

Häufiger Korruptionsskandale <Indikator für Schwäche der Demokratie> und die Mitarbeit in politischen Organisationen sinkt (politische Apathie).

# 80er Jahre: globale Deregulierung der Finanzmärkte ermöglicht Verlagerung vom Massenkonsum zu den Aktienmärkten (Shareholder-Ökonomie als neues Geschäftsmodell): Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung am Gesamteinkommen der Volkswirtschaft sinkt wieder.

# Der soziale Kompromiss Mitte des 20 Jh., und das damit verknüpfte „wahrhaft demokratische Interregnum gelten zwar aus heutiger Sicht als Inbegriff des sozialen Friedens, doch sie wurden in einem Feuer geschmiedet, das auch von Unruhen genährt wurde“. (Crouch, 2008, S. 156f).

Quelle : CCr, 2008, S. 7-20 sowie S. 156; zur Finanzkrise und Schuldenkrise in der EU, siehe CCr, 2021, Kap. 3 und 4

9.3 Annex 3: Tabellarischer Vergleich der Krisenphänomene

I. Standard-Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden Demokratie

Korrespondierende Krisenphänomene

(bei CCr, 2008, 2021

Korrespondierende Krisenphänomene

(bei DvR, 2016)

1. Demokratisches Wahlregime
(zentrale Funktion; Barrieren gegen Einparteiendominanz; möglicher Regierungswechsel; sichtbarster Ausdruck der Volkssouveränität, kardinale Differenz zu Autokratie, notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für demokratisches Regieren)

- Regierungswechsel ist möglich
- Keine Einparteiendominanz, aber Parteien orientieren sich zunehmend an den Wirtschaftseliten.
- Regierungswechsel ist möglich.
- Eine doppelte Krise wird (empirisch) festgestellt.

- Krise der Effizienz, die durch drei ‚Symptome‘ gekennzeichnet ist:

1. Dauer des Zeitraums, zur Bildung von Koalitionsregierungen

2. das Abstrafen der Regierungsparteien bei Folgewahlen sowie

3. die erhebliche Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität und die damit korrespondierende Durchsetzungsschwäche bei der Implementation von politischen Projekten (bes. größeren Infrastrukturprojekten).

2. Politische Partizipationsrechte
(uneingeschränkte Geltung des Rechts auf Meinungs- und Redefreiheit, des Assoziations- Demonstrations- und des Petitionsrechts; politisch nicht eingeschränkte Herstellung der Öffentlichkeit/Transparenz durch <private und öffentliche> Medien.

- Paradox der politischen Klasse: einerseits die Bürger/innen von der Befassung mit der Politik abzuhalten, aber andererseits passive Unterstützung erwarten.

- Diese Rechte sind weiterhin gegeben, aber Partizipation bei Wahlen und bei der Mitgliedschaft bei (traditionellen) Volksparteien ist rückläufig, auch infolge eines Vertrauensschwundes beim Demos.

- Politische Parteien haben heute ‚veraltete‘ Strukturen und degenerieren zur postdemokratischen Partei

- Partizipation der Bürger/innen wird eingeschränkt durch Politik hinter verschlossenen Türen und demokratische Errungenschaften sind im Abbau.

- Politische Kommunikation wird von Kommunikationsprofis dominiert

- Folge: Parteienprogramme sind Vermarktungsstrategien eines Produktes

- Weitere Folge: Die Politik selbst wird zum Marketingprodukt.

- Schließlich ergibt sich eine wachsende Personalisierung der Politik, die den Niedergang der demokratischen Diskussionskultur begünstigt

- Es bleibt eine fragmentierte und passive Bevölkerung, ohne Organisationen, die ihre Forderungen formulieren könnten.

- Paradoxon der Demokratie: trotz starkem Interesse an Politik und hoher Zustimmung sowie zunehmender Verbreitung sinkt die Zustimmung und das Vertrauen zur demokratischen Herrschaft und der ‚Ruf nach starken Führern‘ wird stärker (in Zentraleuropa).

- Dazu kommt eine weitere Krise der Legitimität, der Akzeptanz politischer Entscheidungen durch das Volk. Diese ist indiziert durch

- die Abnahme der Wahlbeteiligung,
- die Volatilität der Wahlentscheidungen (Verlust von Stimmenanteilen der Regierungsparteien bei Wahlen)
- langanhaltende Verhandlungen um Regierungskoalitionen mit immer detaillierteren Koalitionsverträgen sowie
- eine generelle Abnahme der Parteibindung bei den Wähler/innen
- Das politische Personal hat sich elitär von der Durchschnittsbevölkerung verabschiedet: Zum Überhang an Akademikern in den Parlamenten kommt die starke Tendenz zum ‚Berufspolitiker‘, oft mit Hang zur Familiendynastie.
- Auch das Vertrauen in öffentliche Einrichtungen (Post, Bahn, und das Gesundheitswesen) und zwischen Regierenden und Regierten schwindet. Das gilt besonders für politische Parteien
- Fixierung auf Aktualität schafft eine Wechselwirkung zwischen Politik und Medien, in der sich täglich ändernde Interessen der Medien an Sachvorgängen mit Interessen von Politikern und Parteien, auf diesen medialen Hype aufzuspringen zum "Inzidentialismus" steigert. Dabei ergibt sich ein hoher “Verschleiß” von Politikern, eine zahnlose Demokratie.
- Ein Austausch des Politikpersonal durch sog. Populisten wäre bestenfalls ein Versuch die „Legitimität der Repräsentation zu überwinden“, aber der Effizienz würde das nichts nützen, denn für die Populisten ist das Problem nicht das Personal, sondern die Demokratie selbst.
- „Technokratie ist dann schnell die Antwort“, man überlässt die öffentlichen Angelegenheiten besonders in Krisenzeiten nicht gewählten Expert/innen.
- Aber verbesserte ‚Effizienz‘ erzeugt nicht automatisch Legitimität“ und ist deshalb nur eine kurzfristige Notwendigkeit, aber keine langfristige Lösung.
3. Bürgerliche Freiheits- und Abwehrrechte (verfassungsgemäß abgesicherte materielle individuelle Schutz- und Grundrechte: Staat an das geltende Recht, a priori klar definierter Normen individueller Autonomie und Freiheit gebunden)
- Es gibt eine falsch verstandene Fokussierung der Interpretation der Bürgerrechte als vorrangig negative Rechte (das Individuum und die Eigentumsrechte gegen staatliche Übergriffe schützen) sowie dem Hintenanstellen der positiven Rechte (Fähigkeiten sich am Gemeinwesen aktiv zu beteiligen)
- Herrschaft des Volkes wird durch grundsätzliche Infragestellung der Herrschaft ersetzt (Politiker degradieren zum transparenten Wesen).
- Vorrangig um die Korrektur und Erneuerung des Aspekts der Legitimität geht es bei den Bemühungen um ein Mehr an direkter Demokratie: Das ist eine berechtigte Diagnose der repräsentativen Demokratie, aber eine schwache Alternative, denn sie bleibt in der Parlamentarismuskritik stecken und hat Tendenzen zum Antiparlamentarismus.

4. Institutionelle Sicherung der Gewaltenkontrolle (institutionalisierte horizontale Verantwortlichkeiten und Machtressourcen, d. h. Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns durch Gewaltenkontrolle bzw. Gewaltenteilung).

- Das Spannungsfeld der Mehrheits- vs. liberale rechtsstaatliche Demokratie führt zu offenen Konflikte über die demokratischen Institutionen (und Politiker): Ein Machtverlust des Parlaments gegenüber der Exekutive und der kapitalistischen Ökonomie wird festgestellt.

5. De Jure und de facto garantierte effektive Regierungsgewalt via demokratisch ausgewählte Repräsentanten
(friedliche Konfliktaustragung, d. h. zivile Kontrolle, es gibt. keine nicht der demokratischen Verantwortlichkeit unterworfenen polizeilichen und militärischen Akteure, die Verfügungsgewalt <über bestimmte Politikbereiche> haben; Fähigkeit und Bereitschaft der Regierung kompetent und gewaltarm zu regieren)

- Auf diesen Bereich hat Crouch in der ersten Publikation ( vgl. CCr, 2008 ) kaum Bezug genommen. In der jüngeren Publikation würdigt er die Rolle von Institutionen, „die außerhalb der Demokratie stehen und deren Verfahren insbesondere vor Missbrauch durch diejenigen schützen, die an der Macht sind“. ( CCr, 2021, S. 24ff ). Diese Schutzfunktion diskutiert er sowohl gegenüber den xenophoben Populismus als auch dem Neoliberalismus.

- Volkssouveränität wird (v. a. wegen der nicht repräsentativen Zusammensetzung der Parlamente und Parteien) in Frage gestellt

6. Relevanter externer Einbettungsrahmen

- Verbindung von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit, als „Herzstück von Demokratie“ sowie vom Universalitätsanspruch der Demokratie.
- Soziökonomischer Kontext (politische Unterstützung für Sicherheit der Lebensführung)
- Zivilgesellschaft
- Globalisierung/Internationale Integration/ Demokratisches internationales Umfeld
- Politische Kultur mit hohem Anteil der Bevölkerung mit Selbstentfaltungswerten vs. Neue kulturelle Konflikte (Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus/Populismus)
- Völkerrechtliche Unabhängigkeit bzw. legitimierte Übertragung von nationalen Rechten auf supranationale Organisationen)
- Digitalisierung der Gesellschaft(en)
- Wiederbelebung des wirtschaftsliberalen Staatsverständnisses.
- Stärkung der Unternehmen (als Institution) und gleichzeitige Schwächung der Rolle der Arbeitnehmer (Gewerkschaften werden marginalisiert), d. h. der Niedergang des Keynesianismus und der Massenproduktion. „Der Konsument hat über den Staatsbürger gesiegt“
- Folgen: <1> Zunehmende Macht der Wirtschaftseliten durch intransparente Elitenzirkel in den Parteien und Staat
- Folgen: <2> Wohlfahrtsstaat wird minimiert
- Folgen: <3> Das Steuersystem ist nicht mehr auf Umverteilung ausgerichtet.
- Folgen: <4> Eine zunehmende soziale Selektivität: sozioökonomische Ungleichheit führt zu politischer Ungleichheit.
- Folgen: <5> Eine steigende Abhängigkeit der demokratischen Staaten von Krediten markiert den Übergang vom Steuerstaat zum Schuldenstaat.
- Folgen: <6> eine Neukonzentration privater Macht, ein Kennzeichen vordemokratischer Gesellschaften
- Einzelne Nationalstaaten können die großen Unternehmen nicht mehr kontrollieren. Die Demokratie hat mit dem Tempo des sich globalisierenden Kapitalismus nicht mithalten können
- Die soziokulturell bedingte Repräsentationslücke führt zur Zunahme von Populismus und kulturellen Konfliktlinien.
- Die Politik reagiert mit dem Aufbau von regionalen Vereinigungen von Staaten. Aber deren demokratische Qualität ist gering und z. B., die EU, ist im Vergleich mit den globalen Unternehmen „ein unbeholfener Pygmäe“.
- Über das ambivalente Verhältnis der sozialen Medien zu Demokratie und Postdemokratie muss neu nachgedacht werden: Was zunächst als befreiende demokratiefördernde Technologie erschien, ist zum bevorzugten Werkzeug einer Handvoll extrem wohlhabender Individuen und Gruppen geworden, die sich populistisch gebärden und als Gegner der Eliten ausgeben. ( vgl. Crouch 2021, S. 15 )
- Eine zunehmende soziale Selektivität: sozioökonomische Ungleichheit führt zu politischer Ungleichheit und kulturellen Konfliktlinien
- Unübersichtliche Rahmenbedingungen, besonders über- oder supra-nationale Einbindungen schaffen eine Souveränitätseinschränkung und damit eine Kette der gefühlten Machtlosigkeit des Bürgers gegenüber der Regierung, der Regierung gegenüber Europa und Europas gegenüber der Welt

Zusammenfassung

Die Staatsbürger/innen entwickeln einen auf Ermüdung beruhenden Unwillen den Pflichten zur Partizipation nachzukommen : Es entsteht eine Krise des egalitären, an politischer und ökonomischer Gleichheit ausgerichteten Projekts sowie ein Substanzverlust der Demokratie‘, die beide nicht aktiv wahrgenommen werden (Vgl. CCr, 2008, S. 13-15)

Der Übergang zur Postdemokratie kann nicht rückgängig gemacht werden.

Eine Konflikt-Bearbeitung ist aber auf drei Ebenen möglich und nötig:

1. Begrenzung der Dominanz ökonomischer Eliten: Instrumente finden, die die Dynamik und den Unternehmergeist bewahren und die undemokratische politische Macht der (Spitzen-) Manager begrenzen.
2. Auf der inter- bzw. transnationale Ebene rekurriert Crouch auf die wichtige Rolle der EU bei der „Revitalisierung der Demokratie.
3. Auf der nationalen Ebene muss die Reduktion der „Übermacht der Wirtschaft in einer großen Zahl einzelner Staaten gelingen, weil sonst wirkungsvolle Aktivitäten auf der internationalen Ebene nicht möglich sind.

Dies wird komplettiert durch ein Bündel von konkreten Maßnahmen:

- Gesetzliche Regelungen, zu Geld- und Personalbewegungen in Parteien, Beratergremien und Lobbyeinrichtungen
- Rechtlich verbindliche Verhaltenskodizes in Unternehmen
- NGOs (Umweltschutzbewegungen), Bürgerinitiativen, Genderpolitik und die politischen Parteien miteinbeziehen
- Bekämpfung des Paradox der politischen Klasse durch Schaffung von Einflussmöglichkeiten auf die Parteienfinanzierung und direktdemokratischen Verfahren auf kommunaler oder regionaler Ebene
- Engagement in den Parteien qualitativ verändern
- Interventionen feministischer und ökologischer sowie globalisierungskritischer Bewegungen zwischen den Wahlterminen

Neuerdings erwartet er: Die Wissenschaft und die soziale Bewegungen müssen die nötigen Alternativen und Wahlmöglichkeiten hervorbringen ( CCr, 2021, S. 254 )

Auch sind die Aussichten für die Erneuerung der Demokratie besser (als in 2003): die Wahlbeteiligung kann wieder steigen (vgl. USA 2020) und v. a. die Zahl der Gebildeten steigt stetig. Das ist ein Potenzial zur künftigen Kampagnenführung zum Aufleben der Demokratie.

Krise der Legitimität (Symptome: Wahlabsentismus, Zunahme »elektoraler Volatilität«, Mitgliedschaft in einer politischen Partei zunehmend unattraktiv) und Krise der Effizienz (‚Symptome‘: Dauer der Bildung von Koalitionsregierungen, Abstrafen der Regierungsparteien bei Folgewahlen sowie Durchsetzungsschwäche bei der Implementation von politischen Projekten wg. der Einschränkung der nationalstaatlichen Souveränität)

Diese Krisenphänomene münden in ein ‚ Demokratiemüdigkeitssyndrom‘.

Zwischenfazit : Populismus (Personalaustausch) ist gefährlich für die Minderheit, die Technokratie (Expertenregierungen) für die Mehrheit und der Antiparlamentarismus (direkte Demokratie) für die Freiheit. Alle die vorgestellten Interventionen können das Demokratiemüdigkeitssyndrom nicht verjagen, weil die bisherigen Gegenvorschläge den Fehler machen, zu glauben, dass die Vertretung des Volkes untrennbar mit Wahlen, also der elektoral-repräsentativen Demokratie verbunden sind.

Wahlen haben sich erst seit gut 200 Jahren langsam etabliert und stabilisiert und das allgemeine Wahlrecht hat sich erst zwischen 1870 bis 1920 mit dem Aufkommen von politischen Parteien durchgesetzt. Mit dem Aufkommen von Meinungsumfragen Ende des 20. Jahrhunderts und dem Aufkommen der kommerziellen Medien büßt das System Wahlen wieder an Stabilität ein, und verliert wegen der sozialen Medien und der Finanzkrise erheblich an Einfluss. Folge: Wahlen , also der bloße Kampf um Wahlstimmen und die elektoral-repräsentative Demokratie verlieren Reputation beim Demos. Wahlen behindern heute die Demokratie, weil diese auf die repräsentative Demokratie reduziert wird und diese auf Wahlen. Repräsentative Demokratie ist ein veraltetes vertikales Modell, der Trend im 21. Jahrhundert geht aber in Richtung horizontale Anordnungen.

Die Alternative ist, das Losverfahren, die ‚aleatorisch-repräsentative Demokratie. Zusammen mit der (schnellen) Ämterrotation ermöglicht es direkte Partizipation und Neutralisierung des persönlichen Einflusses durch Zufallsauswahl und damit praktische im aristotelischen Sinne eine Demokratie, also einen Wechsel zwischen Regieren und Regiertwerden.

Per Losverfahren zusammengestellte gesetzgebende Volksversammlungen sind wegen der idealen Verteilung politischer Chancen legitimer und auch effizienter, weil die geloste Volksvertretung sich nicht auf medienfixierte ‚Parteispielchen‘ einlassen muss. Dazu kommt eine Verbessrung des Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Bürgerschaft und die Korruptionsanfälligkeit sinkt.

Das historisch erprobte Losverfahren soll aber nicht die Wahlen ersetzen, sondern - vorrangig im nationalen Rahmen - ergänzen. Aber auch auf supranationaler Ebene ist eine Erweiterung des Wahlsystems vorstellbar. Das Losverfahren kann „die Demokratie dekolonisieren“ und „demokratisieren“.

Quelle n: Eigene Zusammenstellung auf der Basis von Manfred G. Schmidt (2019, v. a. Teil III, S. 153ff und dort insbes. Kap. 24.5, S. 385 - 388) sowie der Arbeiten eines langjährigen WZB-Projektes unter der Leitung von Wolfgang Merkel (2021, 2016, 2004) und der Analyse über die gefestigten Demokratien der Welt von Adam Przeworski (2020). Zusätzlich flossen auch die Beiträge von Boese, (2021); Forst, (2021), Hamann, (2018), Schultze (2021) sowie aus demokratiehistorischer Perspektive von Richter, (2020) ein. (Vgl. auch Annex 1, die Zuordnung erfolgt anhand der Beschreibungen in Kapitel 2, 3 und 4 oben)

[...]


1 Crouch war 2003, dem Zeitpinkt der Buchproduktion, überzeugt, dass wir – nicht bereits in einer Postdemokratie leben – uns aber dem postdemokratischen Pol immer mehr annähern und viele demokratische Errungenschaften des 20. Jh. rückgängig gemacht (z. B. Schwächung des Einflusses des Demos zugunsten der Wirtschaftseliten) werden. (Crouch, 2008, S.11) Heute sieht er dies anders: Der „Entwicklung zur Postdemokratie … müssen wir entschlossen entgegentreten“. ( Crouch, 2021, S. 17vgl. ebd., S.269-270 )

2 „Die Jahre 1780 bis 1800 sind für das moderne Verständnis von Demokratie von entscheidender Bedeutung. Die heutigen Wortbedeutungen sind im Wesentlichen in jener Zeit entwickelt und verbreitet worden. … Demokratie wird … zu einem … politischen Begriff, der ebenso der Selbstdarstellung bestimmter Parteirichtungen wie der Kennzeichnung von Verfassungsinstitutionen dient.“, Hans Maier, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel, 1984-2007; vgl. auch Richter, 2020, bes. Kapitel 1.

3 „ Vormodern‘ sind die Theorien von Aristoteles bis zu Marx, und ‚modern‘ die Lehrgebäude, die aus der Beobachtung der uns heutzutage vertrauten Demokratien der Gegenwart stammen. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch hat sich … eine dritte Schule der Demokratie eingebürgert: ‚postmoderne Theorien‘ … jene ideellen oder materiellen Werke, die den Kern der Institutionen, Methoden, Begriffe und Grundannahmen der Moderne in kritisch distanzierte Absicht hinterfragen… Crouchs ‚Postdemokratie‘ kann … als ein herausragendes Exempel dieser Theoriefamilie angesehen werden.“ ( Manfred G. Schmidt, 2019, S. 259f ).

4 Jüngere oder Teile der Wohnbevölkerung eines Staates, die formal nicht staatsangehörig sind, sind aber vom Gleichheitsanspruch oft ausgeschlossen.

5 Nachfolgend werden die Autoren gelegentlich mit folgenden Siglen abgekürzt: Crouch mit CCr und die von van Reybrouck mit DvR.

6 Neben Manfred G. Schmidt (2019, v. a. Teil III, S. 153ff und dort insbes. Kap. 24.5, S. 385 - 388) wurden dazu Arbeiten eines langjährigen WZB-Projektes unter der Leitung von Wolfgang Merkel (2021, 2016, 2004) sowie der Analyse über die gefestigten Demokratien der Welt von Adam Przeworski (2020) herangezogen. Zusätzlich flossen auch die Beiträge von Boese, (2021); Forst, (2021), Guggenberger, 2021; Hamann, (2018); Schultze. 2021 sowie aus demokratiehistorischer Perspektive von Hedwig Richter, 2020 ein.

7 Im Annex 1 bzw.3 werden die Elemente des Herrschaftssystems der stabil funktionierenden gegenwärtigen Demokratie beschrieben. Zur Frage, wann eine Demokratie funktioniert vgl. Przeworski, 2020, S. 11-20 und Schmidt, 2019, S. 502-504.

8 Zur die in der historischen Ökonomie, Sozial- und Politikwissenschaft betreffende Entwicklung des Krisenbegriffs bzw. des Begriffes im medizinischen und psychologischen Sinn vgl. Koselleck, Reinhart/Nelly Tsouyopoulos/Ute Schönpflug, 1984-2007 : Stichwort ‚Krise‘. Zur Krise als die moderne Gesellschaft kennzeichnender permanenter Reflexionsprozess, das heißt entscheidungsfreier Prozess der (politischen und sozialen) Systementwicklung, vgl. Hindrichs, 2015.

9 „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann. In diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“, (zit. nach Przeworski, 2020, S. 11).

10 Schmidt vergleicht allein 28 Demokratietheorien, vgl. dazu Kap. 32, S. 505-518

11 Dieser ist zwar breiter als der von Przeworski angewandte Minimalismus. Für Przeworski ist „Demokratie eine politische Ordnung, in der die Bürgerinnen und Bürger ihre Regierung mittels Wahlen bestimmen und die Möglichkeit haben, sich einer Regierung zu entledigen, (…)“ . ( Przeworski, 2020, S. 14-15 ) Er subsumiert Bedrohungen wie Einschränkung der Freiheitsrechte, Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit, eine Aushöhlung der Unabhängigkeit der Judikative sowie ein schwindendes Vertrauen in die repräsentativen Institutionen der Demokratie, soziale Ungleichheit oder Repressionsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung usw. als „potenzielle Bedrohung der Fähigkeit der Bürger ihre Regierung abzuwählen, nicht als definierende Merkmale der Demokratie“.(ebd.) und sieht Wahlen als einziges Disziplinierungsinstrument für Politiker in einer Demokratie.

12 Für Schmidt ist die Krisenanfälligkeit der Demokratie besonders hoch in defekten Demokratien, in süd- und osteuropäischen Demokratien, in Ländern mit geringem oder mittlerem Volkseinkommen und in Staaten mit starken, transnationalen Arrangements, wie die EU, die Eurozone oder die WTO. Er hält vier Strukturprobleme fest: 1. Nichtwähler, 2. Instabilität und Pfadabhängigkeit von Mehrheiten, 3: Das ‚Loser’s Consent‘-Problem und 4. Denationalisierungsvorgänge (vgl. Schmidt, 2019, S. 281 und 525-527)

13 Beispiele: Italien 1920-1922; Weimar 1930-1933; Spanien 1933-1936/7; Griechenland 1965-67, Türkei und Venezuela (sowie Ungarn und Polen aktuell).

14 Der Frage des Schwellenwerts des Übergangs zu solchen Demokratieformen ist nicht gelöst.

15 Merkel warnt vor allem im Kontext der Coronapandemie und Klimakrise vor einer Szientifizierung und Moralisierung der Politik sowie einer Polarisierung (Lagermentalität) der Demokratie. Vgl. Merkel, 2021, S. 6-11.

16 Ich nehme hier Bezug auf Przeworski, 2020, S. 27-35 und S. 102-166; Merkel (2021, 2016, 2004); Richter, 2020; S.317- 326; Schmidt, 2019, S. 280-281 sowie S. 281 und 525-527. Die quer liegende Herausforderungen der Demokratie durch die Pandemie wird von Crouch diskutiert ( vgl. CCr,2021, S.173-206 ). Die hier diskutierte Publikation von DvR ist aber vor der Pandemie erschienen. Deshalb wird eine Erörterung dieser Frage nicht in den Vergleich eibezogen.

17 Ob aus historischen Erkenntnissen tatsächlich Kausalitäten „sinnvoll erzählt werden können“ (Richter, 2020, S. 17) oder ob „uns die Erkenntnisse bezüglich der Vergangenheit nicht dazu verleiten sollten, Kausalbeziehungen herzustellen“ (Przeworski, 2020, S. 165) kann hier nicht weiter diskutiert werden. Für uns zählt nur die Tatsache, dass demokratiehistorische Erfahrungen in die Debatte einfließen.

18 Vgl. dazu Piketty, 2014.

19 Der Einfluss von Eliten ist groß, d.h. aber nicht, dass wir in nichtdemokratischen Zeiten leben. (CCr, 2008, S.13/14 und CCr, 2021, S. 18-22)

20 Zum Beispiel die Parteienfinanzierung ohne Begrenzung der Interventionen von vermögenden Interessengruppen ist im liberalen Sinne machbar, aber verstößt gegen das Kriterium der Gleichheit. Restriktionen der Wahlkampfausgaben schränken dagegen die Freiheit ein.

21 Vgl. dazu Crouch, 2008, S. 30-41 sowie Kapitel 4 und 5; vgl. auch Crouch, 2021; S. 18-40.

22 Zur historischen Entwicklung der Demokratie nach Crouch siehe die Hinweise in Annex 2; vgl. auch Streeck, 2021.

23 Crouch beschreibt auch eine schwindende Bindung an Klasse und Religion. (vgl. CCr, 2021. S. 210-224 )

24 Die Argumentation, dass wer anfängt den Kapitalismus regulieren, diesen seiner Dynamik beraubt, hält Crouch für einen ‚Bluff‘, denn in der Mitte des 20. Jh. ist es gelungen einen Kompromiss „zwischen demokratischen Prinzipien und den Interessen des nationalen Industriekapitalismus“ zu etablieren. Es geht (2003!) darum den globalen „Finanzkapitalismus einzudämmen“. (vgl. Crouch, 2008, S. 134)

25 Er erwähnt den Anfang der 2000er Jahre bedeutenden World Com Skandal. Aktuell können der Wirecard-Skandal oder die CUM-Ex-Geschäfte sicher als Beispiele dienen. ( vgl. dazu Fehr, 2021, sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Unternehmenszusammenbr%C3%BCchen_und_-skandalen , abgerufen am 15.12.2021).

26 Vgl. dazu CCr, 2008, S. 139 - 157 sowie CCr, 2021, S. 249 - 270.

27 Zum Beispiel erwähnt CCr, dass der Öffentliche Dienst als Feld mit eigenem Ethos re-etabliert werden sollte und dort der Einfluss der privatwirtschaftlichen Logik, etwa durch Spenden und Sponsoring der Privatwirtschaft zu hinterfragen ist. (vgl. Crouch, 2008, S. 140).

28 Das Risiko durch gewalttätige Kampagnen im Tierschutz, extreme antikapitalistische Fraktionen, private Kriminalitätsbekämpfer oder rassistische und populistische etc. ist Crouch durchaus bewusst.

29 Vgl. dazu DvR, 2016, S. 7-21.

30 DvR weist u. a. darauf hin, dass im Rahmen von Meinungsumfragen über 90% der Befragten die Demokratie für eine gute Regierungsform halten und nach dem Zweiten Weltkrieg es nur 12 vollwertige Demokratien gab, während es heute (2015 - WSR) schon 117 Wahldemokratien, 90 davon als tatsächlich frei eingestuft gibt.

31 Parteien werden von den EU-Bürgern mit durchschnittlich 3,9 von 10 Punkten bewertet), während Regierungen (4 von 10), Parlamenten (4,2 von 10) und der Presse (4,3 von 10) leicht besser dastehen. Aber umgekehrt, auch misstraut die Politik dem Demos.

32 Die „Ebene der nationalen Regierungen … eignet sich am besten für eine breite Untersuchung der repräsentativen Demokratie“. (DvR, 2016, S. 12).

33 Insofern skizziert van Reybrouck zahlreiche Symptome dieser Doppelkrise: Wahlverweigerung, Wählerwanderung, Mitgliederschwund bei Parteien, Unfähigkeit der Behörden, politische Lähmung, Angst vor Wahlniederlagen, Mangel an Nachwuchs, zwanghafter Profilierungsdrang, chronisches Wahlfieber, erschöpfender Medienstress, Misstrauen, Gleichgültigkeit, usw. Vgl. dazu auch Bender/Graßl, 2014, S. 3 -6.

34 Vgl. dazu DvR, 2016, S. 22 - 36

35 In Griechenland und Italien wurde diese Art von Problemmanagement während der Eurokrise praktiziert.

36 Schlagworte wie »gutes Regierens«. oder das ‚tina-Prinzip‘ (‚ t here i s n o a lternative‘) legten den Grundstein für die Technokratie als Gegenentwurf zum Populismus:

37 Darunter die General Assembly in Bowling Green NYC, Transformation zu Occupy Wall Street, Indignados in Spanien und niederländische, belgische oder deutsche Beispiele.

38 Dieser Aspekt wird in aktuellen Untersuchungen zur Demokratie bestätigt: „71 Prozent der Befragten gaben an, dass wichtige Fragen in Volksabstimmungen entschieden werden sollten. … Die Realität der Beteiligungsmöglichkeiten in Deutschland weicht damit klar von den Idealvorstellungen der Bürgerinnen ab. Diese Diskrepanz … offenbart ein klares Legitimationsdefizit.“ (Lehmann/Ritzi, 2020; S. 38).

39 Zum Beispiel erwähnt van Reybrouck die Wahlerfolge der Piratenpartei in einigen Ländern oder die 5-Sterne Bewegung in Italien.

40 Vgl. dazu DvR, 2016, S. 37-51.

41 Dazu diskutiert er die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die internationale Diplomatie bzw. entwicklungspolitische Zusammenarbeit, etc. und hält fest, dass Wahlen eine Art westliches Missions- oder Exportproduckt geworden sind, die Risiken von Wahlen (Gewaltausbrüche, ethnische Spannungen, Kriminalität, Korruption, usw.) verdrängt und dass lokale demokratische Formen (Dorfversammlung, traditionelle Konfliktvermittlung, , althergebrachte Rechtsprechung) übergangen werden.

42 Ab diesem Zeitpunkt wird die öffentliche Sphäre von privaten Akteuren bestimmt mit der Folge, dass die Stammwählerschaft von Parteien abnimmt und die Parteien sich vom Kern der organisierten Zivilgesellschaft in den Staatsapparat bewegen.

43 Die Entwicklung geht von zentral zu dezentral, von vertikal zu horizontal, von top-down zu bottom-up. Wir haben hundert Jahre dafür gebraucht, diese Gesellschaft so – zentral, top-down, vertikal – aufzubauen. Diese ganze Denkweise gerät nun ins Wanken. Wir müssen uns also eine Menge abgewöhnen und dazulernen. Die größte Barriere sitzt in unserem Kopf“. (Jan Rotmans, niederländischer Professor für Transition Management, zit. nach DvR, 2016, S. 51 )

44 Die Französische Revolution, ebenso wie die Amerikanische, verjagte nicht die Aristokratie, um sie durch eine Demokratie zu ersetzen, sondern sie verjagte eine erbliche Aristokratie, um sie durch eine gewählte Aristokratie zu ersetzen.“ DvR, 2016, S. 78; Zur Beschreibung der historischen Entwicklung des Losverfahrens, aber auch der eingeschränkt demokratisch motivierten Auswahlverfahren zur Einführung des repräsentativen Wahl(männer)-Systems im revolutionären Frankreich und den USA (wo Frauen, Indianer, Arme und Sklaven nicht zum Wahlvolk gehörten) sowie der als Vorbild genommenen Verfassung des unabhängigen Belgien (1830) vgl. DvR, 2016, S. 53- 88.

45 Zwar wurden die wichtigsten Verwaltungsorgane (Rat der 500, das Volksgericht und fast alle Magistrate, nach heutigen Maßstäben waren also Legislative, Exekutive und Judikative involviert) per Losverfahren besetzt, aber das Gleichheitsprinzip war dem Sicherheitsprinzip untergeordnet. Deshalb wurden militärische und finanzbezogene Ämter nicht im Losverfahren vergeben.

46 Obwohl selbst skeptisch gegenüber rein demokratischen Verfahren bezeichnete auch Aristoteles das Losverfahren als demokratisch und Wahlverfahren als oligarchisch. „Ein Stück der Freiheit ist aber damit gegeben, daß man abwechselnd gehorcht und befiehlt. Denn das demokratische Recht besteht darin, daß alle das Gleiche der Zahl nach haben, nicht dem Verdienste nach, … ( Aristoteles: Gesammelte Werke (German Edition), S.533. Kindle-Version; vgl. auch DvR, 2016, S. 59, Schmidt, 2019, S. 13-31; sowie Bender/Graßl, 2014, S.7 ).

47 Van Reybrouck nimmt dabei direkt auf Habermas ( vgl. DvR, 2016, S 43 und 92 ) und Rawls ( ebd., S 92 ) und besonders auf die Beiträge von James Fishkin ( ebd., S 91-95, 101, 104 und 139 ) Bezug.

48 Konkret ging es um die Befragung von allen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen und der Republikanischen Partei durch 1500 per Zufallsstichprobe selegierte Bürger/innen. Zahlreiche ähnliche, die elektoral-repräsentative Demokratie um Formen der aleatorisch-repräsentativen Demokratie bereicherte Modelle aus vielen Ländern stellt DvR im Detail vor. ( vgl. dazu ebd., S. 91-107 ).

49 Vgl. DvR, 2016, S. 106 und 109 sowie Interview in: Der Spiegel; 31/2016; siehe dazu auch Bender/Graßl, 2014 und Hank, 2021

50 „Ausgelosten Bürger haben vielleicht nicht die Expertise von Berufspolitiker, aber sie haben etwas anderes Freiheit: sie brauchen schließlich nicht gewählt oder wiedergewählt zu werden.“; DvR, 2016, S. 126, vgl. auch ebd. S. 127- 133.

51 Vgl. dazu für Kritik an Crouch z. B. Schmidt, 2019, S,262-266 sowie S.420-422 oder Welch, 2013, bes. S. 67-71 und für Kritik an van Reybrouck vgl. Bethke, 2017; Erdinger, 2107; Hank, 2021; Kneip/Merkel, 2017; Walther, 2016.

52 Für Przeworski sind „Lehren aus der Geschichte keine Wissenschaft, sondern Kunst“. Przeworski,2020, S. 166; vgl. ebd., v. a., Kapitel 3 und 8. Crouch und van Reybrouck verwenden empirische Daten allerdings ohne Reflexion der Möglichkeiten und Grenzen der Demokratiemessung. Vgl. dazu Schmidt, 2019, S. 287-302.

53 Vgl. dazu CCr, 2021, S.259.; für DvR: Europa in der Krise. "Wir töten die Demokratie" (http://www.spiegel.de/spiegel/europa-in-der-krise-historiker-sagt-wir-toeten-die-demokratie-a-1105820.html ) Interview in Der Spiegel; 31/2016

54 Dazu gehören neben anderen die Wiederbelebung des wirtschaftsliberalen Staatsverständnisses, das mit einer Stärkung der Unternehmen (als Institution) sowie der Wirtschaftseliten bei gleichzeitiger Schwächung der Rolle der Arbeitnehmer einhergeht. Eine zunehmende soziale Selektivität, d. h. sozioökonomische Ungleichheit ist die Folge und führt zu politischer Ungleichheit, eine Neukonzentration privater Macht, was ein Kennzeichen vordemokratischer Gesellschaften ist. Einzelne Nationalstaaten können die großen Unternehmen nicht mehr kontrollieren, weil die Demokratie mit dem sich globalisierenden Kapitalismus nicht mithalten kann. Die dadurch bedingte soziokulturelle Repräsentationslücke führt zur Zunahme von Populismus und neuen kulturellen Konfliktlinien. Vgl. dazu Kapitel 3.1, oben.

55 Vgl. dazu die Ausführungen von Habermas zum legitimatorischen System, in: Habermas 1973, S. 348-349 ,356 und 359

56 Vgl. Anmerkung 44, oben

57 Bender/Graßl haben eine konkrete Alternative vorgeschlagen: Sie wollen 5% der Abgeordneten des BT per Los bestimmen lassen. Diese sollen aber vergleichbar mit den Berliner Abgeordneten im BT vor der Wiedervereinigung kein Stimmrecht, sondern nur ein Mitwirkungsrecht bei der Gesetzgebung haben. Vgl. Bender/Graßl, 2014, S.9.

58 Vgl. dazu Bertram, 2018, S. 42-45. Erst später, im Interview mit der Zeitschrift ‚DER SPIEGEL‘ macht er gar einen Vorschlag für sein Heimatland Belgien: Wir „haben ein Parlament, das aus zwei Kammern besteht. Und es gibt die Idee, dass Mitglieder des Senats, …, per Losverfahren bestimmt werden könnten. Das heißt, es gäbe in der ersten Kammer des Parlaments die gewählten Abgeordneten. Und in der zweiten Kammer, dem Senat, säßen die Bürger, die per Zufall ausgewählt worden sind“, in: Der Spiegel; 31/2016. Die EU sollte solche Erneuerungsansätze politisch und finanziell stützen.

59 Van Reybrouck entgegnet: Die auf Aufgabe der Wissenschaft „ist es, wie der belgische Philosoph Philippe Van Parijs kürzlich sagte, »zu früh recht zu haben«. Als John Stuart Mill Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dafür eintrat, Frauen das Wahlrecht zuzuerkennen, erklärten seine Zeitgenossen ihn auch für verrückt“, DvR, 2016, S. 108. Aber er konzediert auch: „Was aber auch auffällt, ist, dass es keinem der drei Projekte gelang, tatsächlich Einfluss auf die Politik zu nehmen. … Offenbar war das Losverfahren noch zu ungewohnt als demokratisches Instrument, um schon innere Legitimität zu genießen.“, ebd., S. 101-102. Erst in 2021 wurde in der Schweiz die Einführung des Losverfahrens bei der Richterauswahl abgelehnt. Vgl. dazu Ritter, 2021 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Volksabstimmungen_in_der_Schweiz_2021#Justiz-Initiative (14.02.22)

60 Vgl. DvR, 2016, es werden z. B. (in alphabetischer Reihenfolge) Aristoteles ( S. 59, 60, 67, 75, 83, 122, 151 ); Edmund Burke (S. 44, 77, 78, 151,153 ); Jürgen Habermas, ( S. 43, 92 ); Abraham Lincoln ( S.88 ); Montesquieu ( S. 67, 68, 71, 73 ), John Rawls, ( S.92 ) J.-J. Rousseau ( S. 3, 44, 68, 78, 81, 139 ), Thomas Jefferson ( S. 75, 146 ); und J. St. Mill ( S. 108 ) annotiert.

61 „Die zwei wichtigsten Bücher über politische Philosophie aus dem achtzehnten Jahrhundert stimmen, trotz wesentlicher Unterschiede zwischen den Autoren, darin überein, dass das Losverfahren demokratischer sei als Wahlen und dass eine Kombination beider Methoden für eine Gesellschaft von Vorteil sei.“ ( DvR, 2016, S. S.68 ). Auch bei der Differenzierung zwischen Demokratie und Aristokratie orientiert sich DvR an Montesquieu. „Sobald in der Republik das Volk als Körperschaft die souveräne Macht besitzt, haben wir eine Demokratie vor uns. Sobald die souveräne Macht in den Händen eines Teils des Volkes liegt, heißt sie Aristokratie.“ ( DvR, 2016, S.71 )

62 Gerade deshalb hätte ein konkreter Vorschlag zur Integration des Losverfahrens in das Wahlsystem der Studie gut getan. Mein (grob skizzierter) Vorschlag ist den Nichtwähleranteil einer Bundestagswahl, aber mindestens 5% als Anteil der Abgeordneten im Bundestag (mit vollem Stimmrecht) per Losverfahren zuordnen. Diese Abgeordneten können eigene Fraktionen gründen oder sich bei den vorhandenen Fraktionen anschließen. Dies könnte zu Imageverbesserung für Politiker/innen und zur Erhöhung der Wahlbeteiligung beitragen.

63 Hier im positiven Sinne als Motto von ‚Der Weg ist das Ziel‘ <in Anlehnung an Konfuzius> oder ‚Reform in Permanenz‘ <in pervertierter Anlehnung an Marx und Trotzki>, und nicht im heutigen Verständnis von Sisyphusarbeit, als sinnlose, vergebliche Anstrengung; schwere, nie ans Ziel führende Arbeit – so die Duden-Definition – gemeint.

64 Die in der Definition der D. geforderte Gleichheit kann mehr oder weniger tief sein. Z. B. einfach rein formale Gleichheit einer Person und einer Stimme bei einer Wahl. Sie kann umfassender sein, einschließlich der Gleichheit in den Prozessen der Beratung Koalitionsbildung, kann direkte Beteiligung der Mitglieder einer Gesellschaft an der Entscheidung über die Gesetze und die Politik oder indirekte Beteiligung (z. B. Auswahl von Vertretern, die die Entscheidungen treffen) einschließen. Vgl. Christiano, 2018, S.3.

65 Dies ist eine relativ ‚enges Verständnis von moderner Demokratie‘ (vgl. dazu Richter, 2020, S. 11) und soll hier nur zum Ansatzvergleich von Crouch und van Reybrouck dienen. Bei empirischer Überprüfung solcher Funktionsvoraussetzungen müssen selbstverständlich länderspezifische Bedingungen und konkrete politische Akteure berücksichtigt werden. Es geht also hier nicht um einen Bewertungsmaßstab oder Messlatte, obwohl sowohl Crouch wie auch van Reybrouck natürlich einen Bewertungsmaßstab heranziehen, um ihre Vorstellungen der krisenhaften Situation der (westlichen) Demokratie darzustellen.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Krise der Demokratie? Ein Vergleich der Ansätze von Colin Crouch und David van Reybrouck
Autor
Jahr
2021
Seiten
39
Katalognummer
V1214535
ISBN (eBook)
9783346659590
ISBN (Buch)
9783346659606
Sprache
Deutsch
Schlagworte
krise, demokratie, vergleich, ansätze, colin, crouch, david, reybrouck
Arbeit zitieren
Wolfgang Schwegler-Rohmeis (Autor:in), 2021, Krise der Demokratie? Ein Vergleich der Ansätze von Colin Crouch und David van Reybrouck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1214535

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