Mimesis auf amorpher Weltbühne - Formenkanon für einen wahrhaftigen Naturalismus

Wechselbeziehungen zwischen dem Theater und DOGMA 95


Magisterarbeit, 2001

76 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. EINLEITUNG
1. Wahlbegründung des Forschungsgegenstandes Problemstellung, Aufbau und Ziele der Arbeit
2. Was ist DOGMA 95?
3. Der Ort des Manifests in der Postmoderne
4. Die Verabschiedung der Autorentheorie
5. Das Feindbild; der kosmetische Pseudorealismus Hollywoods
6. Utopie der demokratischen Avantgarde
7. Die uniformierte Wahrheit als antibürgerliche Alternative

II. EXKURS: REALISMUSDISKURS SEIT BEGINN DER FOTOGRAFIE

III. ANALYSE 1 : DIE WURZELN VON DOGMA
1. Analyse des Keuschheitsgelübdes
2. Die Wurzeln des Realismus-Konzepts von DOGMA 95
3. Die Ästhetik der Filme am Beispiel von „Das Fest“

IV. ANALYSE 2: ÄSTHETISCHE RÜCKWIRKUNGEN VON DOGMA
1. Stoffadaptionen von „Das Fest“
1.1 Adaption von „Das Fest“ für das Schauspiel Dortmund
1.2 Adaption von „Das Fest“ für das Staatsschauspiel Dresden
2. Adaption des DOGMA 95 Manifests für das Theater
2.1 Verarbeitung des DOGMA 95 Manifests im Bekenntnis 99
2.2. Bärfuss' Drama: „Die Reise von Klaus und Edith...“
2.3 ...und die Inszenierung durch Samuel Schwarz in Bochum
3. Hamburger Dogma. Vertrag der Autoren
3.1 Einfluß von DOGMA 95 auf das Hamburger Dogma
Mimesis auf amorpher Weltbühne
3.2 Mögliche Auswirkungen auf dramatische Werke
4. Das Anti-Dogma: TRANSINDUSTRIELL

V. RESÜMEE UND FORSCHUNGSAUSBLICK

VI. ANHANG
1. Literaturverzeichnis
2. Kategorien der Filmanalyse nach Werner Kamp
3. Selbstdarstellung auf der Homepage von 400 ASA
4. Manifeste
4.1 DOGMA 95 - Das Manifest
4.2 BEKENNTNIS 99 - APPENDIX 2000 der Theatergruppe 400asa
4.3 Hamburger Dogma. Vertrag der Autoren
4.4 TRANSINDUSTRIELL
4.5 Defokus:DOGMA Manifest des Dokumentarfilms von L. von Trier

1.1. Wahlbegründung des Forschungsgegenstandes Problemstellung, Aufbau und Ziele der Arbeit

ln einer Zeit, in der die Diskussion um die Einführung neuer medienwissen-schaftlicher Studiengänge neu entbrennt und zudem der Ruf nach Koope¬ration verschiedenster universitärer Fakultäten zur Schaffung einer mög¬lichst fächerübergreifenden, wissenschaftlichen Beschäftigung mit den mo¬dernen Medien und ihren Technologien laut wird, sieht sich auch das Fach Theaterwissenschaft einmal mehr vor die Frage gestellt, ob, und wenn ja, wie es sich an einer solchen Zusammenarbeit sinnvoll beteiligen kann1. Theaterwissenschaft, als Kulturwissenschaft betrieben, ist sich bewußt, daß sie sich nicht hermetisch in ihrem Fachgebiet einkapseln kann, sondern daß in einer Kultur die verschiedenen Künste sich gegenseitig beeinflussen. Die besonderen Affinitäten gerade zwischen dem Film und dem Theater hat treffend Monaco konstatiert: „Auf Grund ihrer strukturellen Verwandtschaft beeinflussen sich Theater und Film gegenseitig mehr als andere Künste.“2 Das bedeutet, daß jede ästhetische Neuerung in der einen szenischen Kunst ein besonderes Potential hat, Einfluß auf die Entwicklung der anderen zu nehmen. Berücksichtigt man den technischen Hauptunterschied der bei¬den Künste, die den Film aufgrund seiner unendlichen Reproduzierbarkeit und weltweiten Distribuierbarkeit seiner Affinität eher zur Masse zuschiägt und das Theater aufgrund seiner Orts- und Zeitbindung des Publikums eher kleineren Kreisen, dürfen Grenzgänge zwischen beiden jeweils dort vermu¬tet werden, wo der Film elitär wird und das Theater sich populär gibt. Daß dies bei dem Manifest „Dogma 95“ der dänischen Filmemacher Lars von Trier, Thomas Vinterberg und Soeren Kragh-Jakobsen der Fall war3 bietet den Grund zur vorliegenden Untersuchung, zumal selbst bei flüchtiger Lek¬türe des Manifestes die Nähe zu realistischen Konzepten unübersehbar ist.

Peter Bürger bemerkt zum Abschluß seiner Beschäftigung mit den historischen Avantgardebewegungen, und deren Rezeption insbesondere durch Adorno in dessen ästhetischer Theorie, daß- dieser sich in seinem Ur¬teil über deren Folgelosigkeit aufgrund ihres Scheiterns getäuscht habe:

Die Bedeutung der Zäsur in der Geschichte der Kunst, die die historischen Avantgardebe-wegungen provoziert haben, besteht zwar nicht in der Zerstörung der Institution Kunst, wohl aber in der Zerstörung der Möglichkeit, ästhetische Normen als gültige zu setzen. Das hat Folgen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Kunstwerken: An die Stelle der normati¬ven Betrachtung tritt die Funktionsanalyse, die die gesellschaftliche Wirkung (Funktion) ei¬nes Werkes aus dem Zusammentreffen von im Werk angelegten Stimuli mit einem soziolo¬gisch bestimmbaren Publikum innerhalb eines vorgegebenen institutionellen Rahmens (Institution Kunst) zum Gegenstand der Untersuchung machen würde.4

Daher wird in der folgenden Arbeit zunächst mittels einer Analyse der ein¬zelnen Punkte des Manifests eine Einordnung von DOGMA 95 hinsichtlich seines Realismus-Konzepts in die film- und theatertheoretische Geschichte zu leisten sein, nachdem diese Konzepte im vorangegangenen Exkurs im 19. und 20. Jahrhunderts skizziert wurde. Anschließend werden mit kurzer Aufführungsanalyse- und Besprechung der Dortmunder und Dresdner In-szenierungen von „Das Fest“ , sowie mit einer Analyse des „Bekenntnis 99“ der Theatergruppe 400 ASA, unter Einbeziehung der Bochumer Inszenie¬rung von Bärfuss' „Die Reise von Klaus und Edith...“ durch den ebenfalls der Gruppe zugehörigen Regisseur Samuel Schwarz wiederum Spuren zu ver¬folgen sein, für die das Dogma 95 Manifest seinerseits zweifelsohne weg¬weisende Inspiration war. Inwiefern das Manifest „DOGMA 95“ wichtige bis entscheidende Impulse für die zeitgenössische Kultur, das Theater und des¬sen Zukunft mitliefert, wird abschließend im Resümee zu klären sein.

Daß ich diese Arbeit trotz problematischer Bedingungen schreiben und ter-mingerecht fertigstellen konnte, verdanke ich insbesondere der unermüdli¬chen Unterstützung, Aufmerksamkeit und Aufbauarbeit meiner Freundin Monika Martincevic. Ihr ist deswegen die vorliegende Arbeit gewidmet.

1. 2. Was ist DOGMA 95?

Als zum hundertsten Geburtstag des Films im Pariser Odeon Theater ein Seminar zum Thema der Beziehung von Französischem Film zum amerika-nischen Film stattfand, zu dem auch der dänische Filmemacher Lars von Trier eingeladen war, präsentierte dieser ein feuerrotes Flugblatt mit dem DOGMA 95 Manifest. Vor den Kopf gestoßen durften sich dadurch insbe¬sondere all diejenigen Filmschaffenden fühlen, die mit dem hundertsten Ge¬burtstag des Films dessen Tradition, seinen Erfolg und damit zugleich sich selbst gebührend mitfeiern wollten. Soweit die Aktion.

DOGMA 95 ist ein Kollektiv von Filmregisseuren, gegründet im Frühjahr 1995. DOGMA 95 hat das erklärte Ziel „gewissen Tendenzen“ im zeitgenössischen Film entgegenzuwirken.“5

Die Tendenzen sind dabei folgende, wie Lars von Trier als der Hauptinitia¬tor im Gespräch klar stellt:

Wenn irgend etwas in der Filmwelt Autorität besitzt, dann ist das der amerikanische Film mit dem ganzen Geld, das er zur Verfügung hat, und mit seiner unerhörten Dominanz auf dem Weltmarkt.Ich bin auch nicht jemand, der protestiert, in diesem Punkt bin ich liberal. Da mache ich lieber ein Angebot, und das war auch die Absicht mit DOGMA 95.6

DOGMA 95 wendet sich also gegen die dominierende Ästhetik des - um diese Formel zu benutzen - Hollywood-Films. Wer sind nun die Filmema¬cher des DOGMA 95 Kollektivs?

„Als DOGMA 95 bezeichnet sich eine Gruppe von dänischen Rimregisseuren, zu der vor al¬lem Lars von Trier als Kopf der Bewegung , der junge Regisseur Thomas Vinterberg, der durch seine Kinderfilme bekannte Soeren Kragh Jacobsen sowie Kristian Levring, der sich vor allem durch Werbefilme einen Namen machte, gehören. Der Kreis erweiterte sich rasch.“7

Inzwischen sind sechs DOGMA-Filme auch im internationalen Bereich pro-duziert, einige weitere geplant8 . Die Keimzelle bleiben jedoch die beiden erstgenannten Regisseure zusammen mit dem Drehbuchautor Norman Ru- kov, der als Leiter des Fachbereichs für Drehbuchschreiben an der däni¬schen Filmhochschule in Kopenhagen Lehrer von Vinterberg war, in seiner Funktion als Betreuer für Hochschul-, Kurz- und Spielfilmen auch die ent¬sprechenden Erstlinge von Lars von Trier begleitete und damit in einer nicht unerheblichen Mentorenrolle gesehen werden muß, zumal diese bei der weiteren Beschäftigung mit dem DOGMA 95 ganz .schlicht aufgrund der Tat¬sache, daß dieses mehr die Regie betrifft als das Drehbuch, nur allzu schnell aus dem Blickfeld zu geraten droht.

Zur genaueren Eingrenzung der Ziele, die sich DOGMA 95 konkret mit dem Manifest einerseits und mit den Filme andererseits gesetzt hat, soll im fol¬genden Kapitel zunächst einmal das Verhältnis von Ästhetik und Politik im DOGMA 95-Prozess untersucht werden.

1. 3. Der Ort des Manifests in der Postmoderne

Lyotard schreibt in seiner Beantwortung der Frage, was postmodern sei;

Ein postmoderner Künstler oder Schriftsteller ist in derselben Situation wie ein Philosoph: Der Text, den er schreibt, das Werk, das er schafft, sind grundsätzlich nicht durch bereits feststehende Regeln geleitet und können nicht nach Maßgabe eines bestimmten Urteils be-urteilt werden, indem auf einen Text oder ein Werk nur bekannte Kategorien angewandt wür¬den. Diese regeln und Kategorien sind vielmehr das, was der Text oder das Werk suchten. Künstler und Schriftsteller arbeiten also ohne Regeln; sie arbeiten, um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird.9

Diese Feststellung ordnet generell Künstler, die vor ihrem Werk ein Mani¬fest über dessen Regeln aufstellen, einer überholten Vorgehensweise zu. Oder es ist so, daß das DOGMA 95 Manifest Indikator für eine Trendwende zu einer Ästhetik nach der Postmoderne ist. Lars von Trier zumindest sagt von sich:

Die DOGMA Regeln entspringen meinem Bedürfnis, mich einer Autorität und Regeln zu un-terwerfen, die es in meiner humanistisch und linksliberal geprägten Erziehung nicht gab.10

Rukov drückt diese Empfindung der Post-68er-Liberalismus-Haltung folgen-dermaßen aus: Dogmen sind zur Zeit sehr verbreitet. Beinahe parodistisch in ihrem Ausmaß. (...) Diese paar Filme haben bewirkt, daß es wieder erlaubt ist, über Spielregeln zu sprechen. Man braucht Spielregeln. (...) Abgesehen davon kommen die Filme an. Die Leute mögen sie. Und so wird es populär, wieder über Spielregeln zu sprechen.11'

Im zweiten Teil dieser Arbeit werden einige dieser Dogmen noch näher zu analysieren sein. Doch man muß gar nicht bis zur Ausrufung einer neuen Regelepoche gehen, um die Notwendigkeit eines DOGMA Manifests im Filmbereich als plausibel nachvollziehen zu können. Ebenfalls im Jahr 1995 kommt Schröder in seiner abschließenden Beurteilung über das Verhältnis der US-Filmindustrie zum europäischen Film zu dem Fazit:

Die Majors dominieren die Industrie in allen Bereichen. Sie produzieren die größten Filme, bringen sie mit dem größten Werbeaufwand heraus, starten ihre Filme mit den meisten Kopi¬en und werten sie am gründlichsten aus. Europäische Produktionen haben gegen diese Übermacht kaum eine Chance. Zwar unterstützt die Filmförderung von der Stoff- über die Projektentwicklung bis zu Produktion, Vertrieb und Abspiel alle Bereiche der Filmindustrie, doch sie kann dieses Kräfteverhältnis nicht umkehren.12

Das heißt nicht weniger, als daß die europäische Filmsubventionierung mit ihrem Anliegen, den kontinentalen Film gegen den US-lmport aufzubauen und zu stärken und so konkurrenzfähig zu machen, gründlichst gescheitert ist, und zwar deswegen, weil die Hegemonialstellung Hollywoods inzwi¬schen derart stark ist, daß ihr einzelne geförderte Filme nichts anzuhaben vermögen. Und darin finden wir auch den Fehler Lyotards. Dieser übersieht in seiner allzu theoretischen Definition nämlich leider einen entscheidenden Umstand für die Rezeption von Kunstwerken, auf den bereits vorher Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“13 als Fazit seiner Marcuse-Lektü- re14 deutlich hingewiesen hat:

Marcuses Modell hält die wichtige theoretische Einsicht fest, daß die Aufnahme eines ein¬zelnen Kunstwerkes immer unter schon vorgegebenen quasi institutioneilen Rahmenbedin¬gungen stattfindet, die die reale Wirkung entscheidend bestimmen. Man kann sogar sagen, daß in dem Modeli die Institution Kunst (Autonomie) die Schlüsselstellung einnimmt und die reale gesellschaftliche Funktion des Werks determiniert.15

Übertragen auf das Filmkunstwerk heißt das beispielsweise, daß die Seh- gewohnheiten des Publikums die Aufnahme eines jeden neuen Films mit seinen bisherigen Gewohnheiten - der Hollywood-Ästhetik - abgleicht. Wird es enttäuscht, droht Frustration, Ablehnung und damit der Kassenmißerfolg, was sich kein Kinofilm16 leisten kann. Damit befindet sich avantgardistischer Kinofilm im Dilemma zwischen Selbstanspruch und Zuschauerrealität. Der Lösungsversuch, die Zuschauer mittels Manifest bereits vorher auf die un-gewohnte Ästhetik einzuschwören, oder zumindest darauf vorzubereiten, hat den weiteren positiven Effekt, daß sich die Filmkritik in die Möglichkeit versetzt sieht, die entsprechenden Filme bei ihrem Kinostart jeweils in den ästhetischen Zusammenhang des Manifests zu stellen, aufmerksamer zu besprechen, wodurch eine ganz andere Größenordnung von Öffentlichkeit erreicht wird. Dabei wäre es lohnende Aufgabe einer anderen Arbeit, zu un¬tersuchen, inwieweit auch Verrissen, Glossen etc. indirekte Werbungsfunkti¬on zukommt. Das Verfahren von DOGMA 95 erinnert dabei in seiner Her¬angehensweise stark an das der Nouvelle Vaque, die es im Manifest gleich noch schnell in Grund und Boden stampft.

1.4. Die Verabschiedung der Autoren theorie

Nachdem sich DOGMA 95 in der Überschrift des zweiten Absatzes noch schnell als Rettungsaktion definiert hat, bezieht es sich direkt auf die franzö¬sischen Nouvelle Vaque, die es zugleich für gescheitert erklärt:

1960 war das Maß voll! Der Rim war tot und sollte zu neuem Leben erweckt werden. Das Ziel stimmte, aber nicht die Mittel! Die Nouvelle Vaque (...) versickerte.17

Nach dieser Toterklärung folgt die Diagnose über die Ursachen des filmäs-thetischen Fehlschlagens der Nouvelle Vaque:Der antibürgerliche wurde selbst bürgerlich, weil die Grundlagen seiner Theorien auf einem bürgerlichen Kunstverständnis beruhten. Der Begriff des auteur war von Anfang an bürgerli¬che Romantik und damit... falsch!'18

Dieser Angriff richtet sich gegen Francois Truffauts Autorentheorie, welche dieser in Artikeln von 1954 an kontinuierlich in der Wochenzeitschrift Ca¬hiers du Cinéma entwickelte. Diese bereiteten die Nouvelle Vaque mit.vor. Zentral darin war seine 1957 geäußerte Vision des zukünftigen Films:

Ich stelle mir den Film von morgen also noch persönlicher vor, als einen individualistischen und autobiographischen Roman, wie ein Bekenntnis oder Tagebuch. Die jungen Filmer wer¬den sich in der ersten Person ausdrücken und schildern, was ihnen widerfahren ist, (...) und es müßte fast notgedrungen ankommen, weil es wahr und neu wäre. (...)

Der Film von morgen wird nicht von Beamten hinter der Kamera gedreht werden, sondern von Künstlern, für die das Drehen eines Films ein wunderbares und erregendes Abenteuer darstelit. Der Film von morgen wird dem ähneln, der ihn gedreht hat, und die Zahl der Zu¬schauer wird sich proportional verhalten zu der Zahl der Freunde, die der Filmemacher be¬sitzt. Der Film von morgen wird ein Akt der Liebe sein.19

Mit den .Beamten hinter der Kamera1 sind die Filmemacher aus Hollywood gemeint, gegen die sich die Nouvelle Vaque wendet. Dem Vorwurf, unper-sönliche und voneinander ununterscheidbare Fabrikware zu produzieren, stellt Truffaut das Individualitätskonzept des Erzählers mit der Filmkamera als positive ästhetische Alternative gegenüber, in welcher der Charakter des Regisseurs als wichtigster kreativer Entscheidungsinstanz der Filmpro¬duktion die zentrale Position einnimmt. Das wird vom DOGMA 95 Manifest mittels der Gleichsetzung von Individualismus und Dekadenz als zum Scheitern verurteilt und deshalb kategorisch abgelehnt.

5. Das Feindbild; der kosmetische Pseudoreaiismus Hollywoods

Schaut man sich einen typischen Hollywood-Film an, ist man zunächst ge¬neigt, Darstellungsweise von Set und Figuren ansatzweise für realistisch zu halten. Dies idealisierte Blick liegt an unserer lebenslangen Gewöhnung an diese Art der filmischer Gestaltung: „Die Erzählform des Kinos aber ba¬siert im besten Falle auf rein visuellen und auditiven Ideen. Filmisches Erzählen heißt, die Zuschauerphantasien mit Bild-Ton-Sprache in szenisch-dramatischer Konkretion zu organisieren.“20 Dieser von der Sache selbst her eigentlich positive, weil zur Phantasielorganisation eingesetzte ästheti¬sche Manipulationsvorgang, wird dort prostituiert, wo das audiovisuelle Er¬zählen nicht mehr im Zentrum des Filmemachens steht, sondern durch die Macht der Filmökonomie mit dem obersten Postulat der Profitmaximierung ersetzt wird. Entscheidendes Ziel der Filmökonomie ist einzig und allein das Box Office - das Einspielergebnis an der Kinokasse. Bourdieus Hinweis auf das Gesetz, nach dem ein Kommunikationsmedium sich umso stromlinien¬förmiger und kontroversloser verhalten muß, desto breiter das Publikum ist, auf das es zielt21 gilt auch für den Mainstream-Film, der - deshalb danach benannt - sich in seinen Themen und seiner realistischen Produktionsweise ja gerade einzig und allein an den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Mas¬senpublikums orientiert und somit zum reinen Eklektizismus verkommt:

Aber dieser Realismus der Beliebigkeit ist der des Geldes: In Ermangelung ästhetischer Kri-terien ist es möglich und nutzbringend, den Wert der Werke am Profit zu messen, den sie erbringen. Dieser Realismus paßt sich allen Tendenzen an, wie das Kapital, das sich allen .Bedürfnissen' anpaßt, unter der alleinigen Voraussetzung, daß Tendenzen und Bedürfnis¬se über die nötige Kaufkraft verfügen.22

Was bei Lyotard noch seinen Grund im Mangel ästhetischer Kriterien hat, ist beim Mainstream-Film längst das bewußte Daseinsprogramm zur Befriedi¬gung eskapistischer Bedürfnisse seiner amüsementfixierten Kundschaft. Schaut man sich die Altersstruktur der Kinobesucher in Deutschland an, wundert es da kaum, daß über 2/3 der Kinobesucher im Alter zwischen 14¬29 Jahren alt sind, und das, obwohl diese Altersgruppe lediglich einen An¬teil an der Gesamtbevölkerung von unter 1/5 hat.23 Dementsprechend liest sich die Diagnose von DOGMA 95:

Der Film sei unter all der Schminke erstickt, hieß es (1960), aber seither hat der Gebrauch von Kosmetik explosionsartig zugenommen.

Die vornehmste Aufgabe des dekadenten Filmemachers besteht darin, das Publikum an der Nase herumzuführen. (...) Ist dies das Ergebnis von hundert Jahren Film: Illusionen, über die Emotionen transportiert werden? (,..)Die Vorhersehbarkeit ist zum goldenen Kalb geworden, um das wir tanzen. Es gilt als zu kompliziert und nicht fein genug, wenn die innere EntwickMimesis auf amorpher Weltbühne lung der Figuren die Handlung rechtfertigt. Wie nie zuvor werden oberflächliche Handlungen und oberflächliche Filme gepriesen.

Das Ergebnis ist dürftig: falsches Pathos und die Illusion von Liebe.24

Genau dies sind jedoch anscheinend die Bedürfnisse des Mainstreams, wodurch dieser ebenfalls in die Schußlinie der Kritik gerät; ein Publikum, das dergestalt verarmt, nur mittels eindimensional-illusionistischer Stimuli dazu in der Lage ist, Emotionen aufzubauen, dabei unfähig oder nicht Wil¬lens, einigermaßen komplexe Figurenpsyche und deren Entwicklung nach¬zuvollziehen und welches daher bereitwillig den Preis zahlt, sich für dumm verkaufen zu lassen. Insgesamt haben wir es beim DOGMA 95 also mit ein¬er gehörigen Portion Kulturkritik adorno'scher Prägung zu tun, gegen die eine neue ästhetische Erziehung ins Feld geführt wird, die bei den in erster Linie Verantwortlichen, den verantwortungsbewußten Filmemachern selbst ansetzt und dabei Hollywood ignoriert.

6. Utopie der demokratischen Avantgarde

Heute tobt ein Sturm der Technik, der die ultimative Demokratisierung des Mediums zur Fol¬ge haben wird. Zum ersten Mal hat wirklich jeder die Möglichkeit, Filme zu machen. Doch je zugänglicher das Medium wird, desto wichtiger ist die Avantgarde.25

Die Dogmatiker wissen genau, daß es etwa soviel Aussicht auf Erfolg hat, bei Hollywood mit Verlogenheitskritik direkt anzusetzen, wie einen Zuhälter von der Notwendigkeit absoluter Keuschheit zu überzeugen. Die progno¬stizierte Folgewirkung der .Demokratisierung' des Mediums meint, daß die Beschaffung einer zur Filmproduktion notwendigen Ausstattung durch den Einzug hervorragender Videotechnik im vergleichsweise preiswerten Con¬sumer-Bereich für relativ große Bevölkerungsteile finanzierbar wird. Da¬durch sieht DOGMA 95 die Möglichkeit gegeben, neue Kreise potentieller Filmemacher, denen es in erster Linie gerade nicht um die Ökonomie, son¬dern um den Film geht, die jedoch vom bisherigen Kostenapparat abgehal¬ten wurden, für die neue Art des Filmemachens nach dem Keuschheitsge¬lübde zu mobilisieren. Dieses mobilisierte .Produzentenproletariat' bedarf allerdings besonders klarer Anweisungen hinsichtlich der Ästhetik, um nicht diejenige des kommerziellen Films aus alter Gewohnheit unreflektiert zu übernehmen, das ist der Grund für die hier proklamierte, unbedingte Not-wendigkeit der Avantgarde in Schwellenzeiten der Demokratisierung des Mediums Film. Die positive Utopie könnte dann etwa so aussehen, daß die Welle DOGMA 95 einen filmästhetischen Schneeballeffekt auslöst, eine Vielzahl der Filme alternativer Machart auf den Markt schwemmt, die als Ge-gengewicht zum bisherigen Mainstream dessen ästhetische Verlogenheit erkennbar werden lassen und seine Marktmacht brechen.

I. 7. Die uniformierte Wahrheit als antibürgerliche Alternative

Die neue Alternative wird aus einer Pseudoanalogie heraus entwickelt, die starke Anklänge an den pathetischen Ton des Expressionismus eines Ernst Toller erkennen läßt:

Es ist kein Zufall, daß der Ausdruck „Avantgarde“ einen militärischen Beiklang hat: Disziplin ist die Antwort...Wir müssen unsere Filme in Uniformen stecken, weil der individuelle Film per definitionem dekadent ist!

DOGMA 95 stellt dem Individuellen Film ein unangreifbares Regelwerk entgegen, das soge-nannte Keuschheutsgelübde.26

Was die antiindividualistisch-industrielle Produktionsweise angeht, schlägt sich DOGMA 95 hinsichtlich der Rolle des Regisseurs klar auf die Seite von Hollywood, was bemerkenswert ist, da diese globale Institution gleichzeitig das eigene ästhetische Feindbild darstellt. Zugunsten welcher kreativen Entscheidungsinstanz erfolgt jedoch nun die Degradierung des Regisseurs zu einem besseren Spielleiter?

Das DOGMA 95 Manifest schließt mit dem Absatz:

Ferner gelobe ich als Regisseur, von meinem persönlichen Geschmack Abstand zu neh¬men! Ich höre auf, ein Künstler zu sein. Ich gelobe, nicht mehr auf ein „Werk“ hinzuarbeiten und statt dessen den Moment stärker zu gewichten, als das Ganze. Mein höchstes Ziel ist es, meinen Figuren und Szenen die Wahrheit abzuringen. Ich gelobe diese zu tun - mit allen Mit-teln, auf Kosten jeglichen guten Geschmacks und jeglicher Ästhetik.27

Von zentraler Bedeutung ist hier, daß sich das gesamte Manifest lediglich auf den Produktionsprozeß bezieht, aber nicht auf die Vorproduktion. Damit Mimesis auf amorpher Weltbühne

wird dem Drehbuch als der vom DOGMA gänzlich unbelasteten und daher nicht-uniformierten Spieivorlage für die .Figuren und Szenen' automatisch eine zentralere Rolle zugestanden, der Drehbuchautor in seiner kreativen Position mitsamt seiner - zweifellos auch möglicherweise individualistischen (!) - Ästhetik gestärkt. Desweiteren wird die Stellung des Schauspielers als dem Verkörperer der Figur gegenüber der des Regisseur deutlich aufge¬wertet. Der dritte zentrale Begriff ist schließlich derjenige der Wahrheit, die klar im Zentrum desjeweiligen filmischen Vorhabens zu stehen hat. Da die¬ser jedoch gerade seit der Entwicklung der auf technischer Reproduktion beruhenden Kunstformen Fotografie und Film in den szenischen Kunsttheo¬rien einer zentralen - und bis heute, wie DOGMA 95 beweist, längst nicht abgeschlossenen - Diskussion unterliegt, soll er im folgenden Exkurs kurz skizziert werden.

II. Exkurs: Realismusdiskurs seit Beginn der Fotografie

Die Entwicklungs- und Reifejahre der Fotografie, ungefähr von 1840 bis 1870, sind ge¬nau die Jahre, in denen sich die Theorie der Malerei schnell von der Nachahmung fortbe¬wegt und eine anspruchsvollere Ausdrucksform sucht. Von der Pflicht befreit, die Realität nachzuahmen, konnten die Maler die Struktur ihrer Kunst umfassender erforschen.“28

Monaco selbst gibt auch sofort zu, daß man sich vor dem Aufbau einer eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Beziehung hüten muß. Spätestens seit Benjamin ist jedoch zumindest unbestritten, daß mit dem Beginn der Entwicklung der auf Reproduktion basierenden Kunstwerke Fotografie und Film die zentralen, bis dahin scheinbar unverbrüchlichen Wertma߬stäbe der bisherigen abendländischen Kunst wie Originalität, Virtuosität und Mimesis ins Wanken geraten und vollständig neu ausgelotet wer¬den. Zehn Jahre vor der Erfindung des Films29 schreibt Zola:

Jedes Kunstwerk schließt nach meiner Ansicht zwei Elemente in sich, das allgemeine Element, d.h. die Natur, und das individuelle Element, d.h. den Schöpfer (Menschen). Das allgemeine Element, die Natur, ist unveränderlich, immer dasselbe, und ich möchte sagen, daß es als allgemeiner Maßstab dienen könne für sämtliche geschaffene Werke, wenn ich einen solchen Maßstab überhaupt gelten lassen möchte. Das individuelle Ele¬ment, der Mensch, ist im Gegensatz zum ersteren mannigfaltig und veränderlich bis ins Unendliche. So viele Werke, so viele verschiedene Geister. Wenn das Temperament nicht existierte, so wären notwendigerweise alle Bilder einfache Photographien, die sich gleichen müßten, wie ein Ei dem anderen. Das Wort .realistisch' hat für mich gar nichts zu bedeuten, denn ich erkläre, daß ich die Wirklichkeit dem individuellen Temperament un¬terordne.30

Zola teilt also den Kunstprozeß auf, in das konstante Bezugsobjekt Natur und das variable Produzentenfeld Künstler, wobei das menschliche Temperament die Linsenfunktion innehat, welche die Konstante bricht und ins Unendliche der jeweiligen Persönlichkeit auffächert. Bezeich¬nend hieran ist insbesondere, daß er - die Erfindung ist gerade vierzig Jahre alt - den Vergleich mit der Fotografie für seinen Argumentationsbe¬weis benutzt. Dabei nimmt sein Temperaments-Originalitäts-Gedanke bereits Benjamins Theorie vom auratischen Kunstwerk vorweg und wi¬derspricht ihr im entscheidenden Punkt: Nach Zola entspringt die Aura dem Kunstwerks nämlich ausschließlich der Originalität des jeweiligen Künstlertemperaments: „Schafft wahr, und ihr habt meinen Beifall, schafft insbesondere individuell und lebendig, und ihr habt meine Bewunde rung.31

Benjamins Wort vom Hier und Jetzt des Originals, das einzig und allein dessen Echtheit ausmache, welche durch den Umstand seiner techni¬schen Reproduktion zwangsläufig entwertet wird 32wird hier also ent¬schieden das Wort geredet.

Zola's fotografische Betrachtungsweise ist nicht zufällig: Tatsächlich wird er 1888, kurz nachdem George Eastman seine erste, für den Privatge¬brauch konzipierte Kamera auf den Markt bringt 33, „zum begeisterten An¬hänger einer Kunst, die sich nun schon seit Jahrzehnten bewährt hat34.“ Ein letztes Zitat Zola's bezeugt die damalige Revolutionierung des Se¬hens durch die Fotografie: „Meiner Meinung nach kann niemand be¬haupten, einen Gegenstand wirklich gesehen zu haben, wenn er von ihm nicht eine Photographie gemacht hat, denn sie offenbart eine solche Fülle von Details, die sonst gar nicht wahrgenommen würden35. Daß die analytische Betrachtung hier von einem der führenden Theoretiker des Naturalismus36 selbstverständlich dem Aufgabenbereich des neuen Re¬produktionsmediums zugeschlagen wird, belegt den Einfluß der Repro¬duktionsmedien auch auf das Theater.von Anfang an.

Nachdem sich das neue Medium Film zu Beginn seiner Entwicklung 1895 zunächst auf die Abbildung von, um es mit einem Terminus Kra- cauers zu sagen, physischer Realität beschränkt hatte, erkannte Georges Méliès sehr bald die Möglichkeiten des Films, das Bedürfnis des Publi¬kums nach Illusionismus zu befriedigen, wodurch der sinkende Sensati¬onswert des nun nicht mehr völlig neuen Mediums durch steigenden Un¬terhaltungswert ausgeglichen werden konnte. Realistische und formge¬bende Tendenz wirken bis heute im Dokumentarfilm und Fiktionsfilm weiter.

Albersmeier weist in seinem Artikel über den Aufstieg des Films von der Jahrmarktsattraktion in die Sphären bürgerlicher Kultur auf die Etablie¬rung mittels Angleichung an bürgerliche Normen hin: ...der Kinematograph (...) müsse sich nun endlich ein neues Publikum erobern: die kul¬turell anspruchsvolleren bürgerlichen Mittelschichten. Sinnfälliger Ausdruck dieses Um-schichtungsprozesses war der Bau repräsentativer Filmpaläste, die Ausdehnung der Programme auf bis zu vier Stunden, die Angleichung des Kinobesuchs an die Normen des Theaters.37

Albersmeier's anschließende Analyse des Films „Die Ermordung des Herzogs von Guise“ von 1908 legt zahlreiche Analogien des Films zur Theaterdramaturgie offen.

Auf die Okkupation der Theaternormen durch den Film erfolgt 1921 die Abgrenzung des Theaters vom Film durch Tairoffs Absage an den Na-turalismus:

Der (...) Unterschied ist der, daß die Formen des naturalistischen Theaters zufällig sind und einen selbständigen und überdies widerkünstlerischen Zweck verfolgen, nämlich auf der Bühne eine Illusion des Lebens zu schaffen, während unsere dreidimensionalen Formen harmonisch gesetzmäßig sind und weder die Illusion der Lebenswahrheit noch irgendeine andere Illusion schaffen wollen, sondern den einzigen Zweck verfolgen, die notwendige rhythmische und plastische Basis für die Kunst des Schauspielers abzuge¬ben. (...)

Die Kunst stellt nicht die Natur dar.

Sie schafft sich ihre eigene Natur. (...)

Ich, der Schöpfer der Bühne, dringe in das Innere der sichtbaren Erscheinungen ein und entnehmedem wunderbaren Vorgang der Weltschöpfung diejenigen Urkristalle, in deren schöpferischer Harmonisierung das Geheimnis der Heiterkeit und Macht meiner Kunst beschlossen ist. (...)

Vom Standpunkt der Lebenswahrheit aus können diese Konstruktionen als fiktiv er-scheinen. In Wirklichkeit sind sie aber real. Sie sind real vom Standpunkt der Theater¬kunst aus, denn sie bieten dem Schauspieler eine reale Aktionsbasis und stehen in schönem Einklang mit der Realität seines Materials.

Von diesem Standpunkt aus nenne ich auch das neue Theater das Theater des Neorea-lismus, denn es ist ein Produkt aus der realen Kunst des Schauspielers und der in den Grenzen der theatralischen Wahrheit realen Atmosphäre.38

Tairoff löst damit die Theaterkunst aus den Fesseln fotografischer Rea-lismuskonzepte und stellt diesen sein Konzept der spezifischen Theater-realität gegenüber, welche der zentralen Rolle des Schauspielers mit¬samt ihrer ureigenen Atmosphäre, der direkten Wirkung auf das Publi¬kum, entspringt.

Drei Jahre später verlagern die Surrealisten dann den Fokus des Reali-tätsbezugs der Kunst in den Bereich des Unterbewußtseins: Höhere Wirklichkeit wurde fälschlicherweise mittels kontinuierlichem Aufbau sozial polarisierender Kategorien von Vernunft, Ästhetik und Ethik in der Erziehung aus dem Bereich des Bewußtseins verdrängt, und muß nun - beispielsweise durch die Technik des reinen psychischen Automatismus - wieder zurückerobert werden, die „Denk-Diktate müssen zerstört werden.39

Realitätswahrnehmung im naturalistischen Sinne beschränkt sich nach Meinung der Surrealisten auf die Perspektive die aus Erziehung resul¬tiert, welche nur ein extrem verfälschter Bruchteil der tatsächlichen Wirk¬lichkeit der Welt ist.

1943, noch während des Krieges beginnt in Italien die Epoche des neo-realistischen Films, dessen Hauptmerkmale waren, daß er oft mit Laien-darstellern aus dem gemeinen Volk arbeitete und daß er nicht im Studio entstand, sondern in real existierender Umgebung. Den Grundgedan¬ken dieser Arbeitsweise faßt Michelangelo Antonioni folgendermaßen zusammen: „In der Nachkriegszeit gab es ein großes Bedürfnis nach Wahrheit, und es erschien möglich, sie von jeder Straßenecke aus zu fo-tografieren.“40 Zu den Hintergründen für solch filmischen Halbdokumen- tarismus hat sich einer der Theoretiker des Neorealismus, der Drehbuch-autor Cesare Zavattini genauer geäußert:

Das bedeutendste Merkmal und die wichtigste Neuheit des Neorealismus scheint mir deshalb die Tatsache zu sein, (...)daß die Phantasie, so wie sie eingesetzt wurde, nichts anderes tat, als tote Schemata über lebendige soziale Fakten zu legen, daß man im we-sentlichen gemerkt hat, daß die Wirklichkeit ungeheuer mannigfaltig ist, daß es genügt, sie nur richtig zu betrachten. Und daß die Aufgabe des Künstlers () darin besteht, (...) die Menschen (...) dahin zu führen, über ihre eigenen Probleme und die der anderen nach-zudenken. (,..)überdie wirklichen Dinge, genauso, wie sie sind. (...)

Eine solche Einstellung macht es natürlich nötig, die Wirklichkeit auszugraben, ihr jene Kraft, jene Verbindlichkeit, jene Ausstrahlung zu geben, die man ihr bis zum Beginn des Neorealismus nicht glaubte. (...)

Und der übermächtige Drang des Films zu sehen, zu analysieren, sein Hunger nach Wirk¬lichkeit, ist eine konkrete Huldigung, an die anderen, an alles, was existiert. (...)

Im wesentlichen geht es heute nicht mehr darum, erfundene Dinge Wirklichkeit werden zu lassen (sie wahr und real erscheinen zu lassen), sondern die Dinge, wie sie sind, fast allein sprechen zu lassen und sie so bedeutsam wie möglich werden zu lassen. Denn das Leben Ist nicht so, wie es in den Geschichten erfunden wird, das Leben ist anders. Und um es kennenzulernen, bedarf es einer äußerst genauen und ununterbrochenen Unter¬suchung, sprechen wir ruhig von Geduld.

(...) Und die richtigste Haltung, die ein Mensch heute einnehmen kann, ist die, sich dem Problem der Erkenntnis der Wirklichkeit bis tief in die Wurzeln hinein zu verpflichten. Dar-um ist die dringendste Notwendigkeit unserer Zeit die soziale Aufmerksamkeit.41

Im folgenden skizziert Zavattini in dem Artikel eine positive Utopie eines vollständig wirklichen Films, dessen Grenzen zum Dokumentarfilm auf-gehoben wären. Von zentraler Bedeutung für das neorealistische Kon-zept sind in den oben zitierten Passagen jedoch der Gedanke der dem Film zugeschriebenen Grundeigenschaft des analytischen Blicks, der diesen dafür prädestiniert sich im Sinne einer kommunistischen Welt¬utopie sozial zu engagieren in dem er Mißstände, die aus Krieg und dem kapitalistischen System resultieren, aufzeigt. Das Feindbild, die Lüge der Fiktion, werden wir später in der adorno'schen Kritik an der Filmindustrie in anderer Gestalt wiederfinden.

Ein Jahrzehnt nach Beginn des Neorealismus legt Bertolt Brecht im „kleinen Organon für das Theater" sein Konzept von Realitätsdarstellung auf dem Theater nieder. Für die Wechselwirkungsgeschichte zwischen Theater und Film wichtig zu berücksichtigen ist dabei, daß Brecht zuvor neben seiner kontinuierlichen Theaterarbeit auch einige Berührungs¬punkte mit dem Film hatte: 1932 schrieb er das Drehbuch zum Film „Kuhle Wampe“, dessen Skandal in der Frankfurter Suhrkamp Ausgabe des Drehbuchs dokumentiert ist. Im amerikanischen Exil erlitt Brecht dann bei seinem Versuch, sich als Drehbuchautor für Hollywood zu ver¬dingen eine Niederlage in der Zusammenarbeit mit dem ebenfalls aus Deutschland exilierten Fritz Lang, weil er sich den US-amerikanischen Filmproduktionsbedingungen bei der Produktion von „Hangmen also die“ nicht anpassen wollte'’42. Bezeichnend daher seine Sicht der Filmin¬dustrie:

HOLLYWOOD

Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen Gehe ich auf den Markt, wo Lügen gekauft werden.Hoffnungsvoll Reihe ich mich ein, zwischen die Verkäufer.43

Hier also die Analogie zu Zavattini's Auffassung von der Gleichsetzung der Filmfiktion als Lüge. Liest man Brechts Konzept des epischen Thea¬ters vor dieser Folie, so wird die Abgrenzung vom konventionellen Rea-lismuskonzept besonders deutlich in seiner Erklärung des zentralen Verfremdungseffekts (V-Effekt), 1953 im kleinen Organon festgelegt:„Eine verfremdete Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen läßt, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt.“44

Brechts Konzept der Störung des Realismus beruht auf der These, daß durch Verhinderung emotionaler Einfühlung des Zuschauers ins Ge¬schehen, diesem eine kritische Haltung erst ermöglicht wird. Episches Theater ist das aufklärerische Gegenkonzept zu eskapistischem Konsum von Film und Theater als Opium fürs Volk. Da konventioneller Realismus die totale Einfühlung erst ermöglicht, lehnt er diesen ab und reduziert ihn auf ein Realismusrudiment, der im Zusammenspiel mit der irritierenden Verfremdung den Zuschauer argwöhnisch darüber werden läßt, wodurch dann wiederum kritische Denkprozesse in Gang gesetzt werden.

Eine ähnliche Verfremdung, jedoch auf einem anderen Impetus beru¬hend, finden wir im gleichen Jahr in der Pariser Uraufführung von Sa¬muel Beckett's „Warten auf Godot“45, welche als Beginn des absurden Theaters minimalistisches Dekor, Handlungslosigkeit sowie die Funkti¬onslosigkeit des Dialogs dienen hier der Enttarnung absurder Realität einer nihilistischen Welt, in der es keinen Gott mehr gibt und dessen Fi¬guren den unermüdlichen, menschlichen Sisyphoskampf darstellen, mit der Situation des Geworfenseins in eine feindliche Welt zurechtzukom¬men. Dieses vom Schmuck entkleidete Universum der Öde stellt Reali¬tät auf der Bühne in den Bezug zur existentialistisch empfindenden Psyche . Die äußerlich sichtbare Realität wird bewußt entwertet, zugun¬sten einer Realität subjektiv-pessimistischer Weltwahrnehmung, die stark durch das Erlebnis der Realität zweier Weltkriege mit bis dahin nie gekannten Ausmaßen menschlicher Opfer, dem Genozid der Nationalso¬zialisten und der Möglichkeit der Totalauslöschung der Welt durch den ersten Atombombenabwurf auf Hiroshima 1945 geprägt sind. Insbesondere Alain Resnais und Marguerite Duras haben in ihrem 1959 entstandenen Film „Hiroshima mon amour“ versucht, eine Filmsprache für die neue Befindlichkeit zu finden.

Nachdem Theodor Wiesengrund Adorno nach dem Ende des National-sozialismus in Frage gestellt hatte, ob es nach dem Holocaust überhaupt noch Poesie geben könne, entstand ab 1965 mit dem dokumentarischen Theater eine Bühnenform, deren dramatische Vorlagen ausschließlich

[...]


1 So fand beispielsweise aus Anlaß der geplanten Einführung eines medienwissenschaftli¬chen Studienganges an der Ruhr-Universität Bochum am 17.12.1999 im Musischen Zentrum der Universität eine Diskussion von Lehrenden verschiedener Fakultäten über eine diesbe¬züglich mögliche Kooperation statt, Die von fast allen Beteiligten positiv aufgenommene An¬regung, in Arbeitsgruppen weiterhin kontinuierlich Kooperationsmöglichkeiten zu eruieren, konnte das Institut für Filmwissenschaft unter der Leitung von Herrn Prof. Beilenhoff leider nicht daran hindern, mittels der Umwandlung des eigenen Instituts die Einführung der Medi-enwissenschaften an der Ruhr-Universität im Alleingang zu organisieren. Anscheinend ist man dort der Ansicht, daß das spezifische Know How der anderen Fakultäten der eigenen Medienkompetenz nicht das Wasser zu reichen vermag.

2 Monaco 1991, S. 46.

3Der ellttere Anspnrch der Dogmatiter wird in ihrem Manifest durch sebstverstandltfio Inan-sprucnnahmo dor eigenen AvantgarcJ-Rollo hhrocherxJ zemontiert.

4Burger. Frankfort/Main 1974.1995,s.122

5 erster Absatz des Dogma-Manifests, siehe Anhang, S. 68.

6 Lars von Trier im Gespräch. In: Hallberg u. Wewerka, Berlin 2001, S. 175.

7 Hallberg u. Wewerka, Berlin 2001, S. 9.

8 Bis zum Redaktionsschluß des Buches „DOGMA 95 - zwischen Kontrolle und Chaos“ im Dezember 2000, herausgegeben von Jana Hallberg und Alexander Wewerka. Das 450-seitl- ge Buch gibt eine hervorragende Einführung in die Zusammenhänge und Abfolgen der bis¬herigen Dogma-Filme, worauf in der vorliegenden Arbeit aus Platzgründen leider verzichtet werden muß, daher sei zur Einführung in die Thematik darauf verwiesen

9Lyotard. In: Engelmann (Hg,) 1990, S. 47 f..

10Lars von Trier im Gespräch. In Hallberg u. Wewerka, Berlin 2001, S. 160.

11 Rukov, Mogens: Über Dogmen und Sinnlichkeit. In: Hallberg/Wewerka, Berlin 2001, S.260.

12 Schröder, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 79.

13Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/Main 1974.

14 Genauer gesagt; seiner Lektüre von Marcuses „Kultur und Gesellschaft 1 “, Anm.d.A..

15 Bürger, Frankfurt/Main 1974, 199510, S. 15.

16 Mit .Kinofilm' gemeint ist hier immer der generell auf Distribution angelegte Spielfilm, der selbst bei minimalem Aufwand immer auch einen finanziellen Produktionsaufwand und die damit verbundene Abhängigkeit vom Einspielergebnis zur Kostendeckung bedeutet, in Ab-grenzung zum Experimentalfilm, der per se von der vollständigen künstlerischen Selbstaus-beutung (per Selbstsubventionierung) durch die Filmemacher abhängt und für den dann entsprechend andere Gesetze totaler kreativer Freiheit - und so beispielsweise eben auch das oben von Lyotard zitierte - gelten können.

17Dogma 95 Manifest, S. 1., siehe Abdruck des Manifests im Anhang Vl.4.1, S. 68.

18 Ebenda.

19Truffaut: Der französische Film krepiert an den falschen Legenden. Paris 1957. Zitiert nach: Ders.. Frankfurt/Main 1999.

20Salje, Bassum 1996, S. 17f..

21 Bourdieu, Frankfurt/Main 1998, S. 62 f..

22 Lyotard. In Engelmann, Stuttgart 1990, S. 40.

23 Gesehen in: Schröder, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 74.

24 Dogma 95 Manifest, S. 1 f., siehe Abdruck des Manifests im Anhang Vl.4.1, S 68

25 Ebenda, S. 1.

26 Ebd.

27 Ebenda, S. 3, siehe Abdruck des Manifests im Anhang VI.4.1, S. 70

28Monaco. FtenbeSc 1991. S. 33.

29Siehe dazu: f-isch« FilmgcscMcM©. Frankfurt/Main 1994. Bd. 1. S. 13 ff

30Zola 18B5, In. Moycr(Hg) Stuttgart 1973.111

31Ebenda

32Benjamin 19S6. S. 12 f.

33Siehe Mulligan u Wootors. Koln 2CC0. S. 345

34Zola u Massin. Mflnchen 1979. S. 7.

35Ebonda. S. 11

362um Vefgteirfi sich aixh: Zola. In: Lazarwfcz u. Balme. Stuttgan 1993. S. 424-427.

37 Albersmeier, In: Faulstich u.Korte (Hg.). Frankfurt 1994, S. 135.

38Tairoff. Potsdam 1923, Berlin 1989, S. 130 f..

39Genaue Definition desSurrealismus: Siehe ErstesManifest desSurrealismus von 1924.ln: Breton.Beinbek beiHamburg 1996.

40Ztiertnach:Chiellino, Carmine: Derneorealistische Film.ln:Amold(Hg.):Text+Kritik. Zeitschrift urLiteratur. Heft63,ltalienischer Neorealismus. München Juli1979,S.24.

41Zavattini: Einige Gedanken zumFilm.Zitiertnach:Hatlberg u.Wewerka Berlin 2001,s.390-407, S. 390ff

42eineseh rähnlb heErfahrungmachte,war Carl Zuckmayer, der1930furJosephvonsternberg dasSzenario zurFilmadaption: ,DerblaueEngel'nachdemRoman "Professor Unrat'vonHeinrich Mann,sowieimöstenebhischen Exil nochdasDrehbuch furAlexander Kordas "Rembrandt" schrieb, inHollywood vonderdortigen Arbeitsweise jedochdermaßen abgeschreckt wurde, daßer nachwenigen Monatendiesichere Aöeit alsangestellter Drehbuchautor aufgab. SeineErfahrungen in Hollywmd hater 1966inseinerAutobiographie "Alswär'seinStuckvonmir" (FrankfurUMain) S. 406-41 6. niedergetegt.

43Brecht,Bertoh. Gesammelte Werke,Bd (?) S.848.

44Brecht: Frankfurt 1960,S. 25.

45Einedetaillierte Darstellung desabsurden Theaters findetsichbeiMartinEsslin:Das Theater desAbsurden. VonBeckett bisPinter.Erschienen in Reinbek 1987.

Ende der Leseprobe aus 76 Seiten

Details

Titel
Mimesis auf amorpher Weltbühne - Formenkanon für einen wahrhaftigen Naturalismus
Untertitel
Wechselbeziehungen zwischen dem Theater und DOGMA 95
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Fakultät für Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
76
Katalognummer
V121536
ISBN (eBook)
9783640264247
Dateigröße
4645 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mimesis, Weltbühne, Formenkanon, Naturalismus, DOGMA95, Theater, >Lars von Trier, Das Fest, Thema Naturalismus
Arbeit zitieren
Magister Artium Daniel Kasselmann (Autor:in), 2001, Mimesis auf amorpher Weltbühne - Formenkanon für einen wahrhaftigen Naturalismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121536

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