Eine ethnographische Untersuchung des Augsburger UNESCO-Bewerbungsantrags


Essay, 2017

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1. Einleitung

Die gegenwärtige Bewerbung des Wassersystems der Stadt Augsburg als UNESCO-Welterbe bildet bereits auf den ersten Blick eine weltweit einzigartige Mischung aus inhaltlicher Komplexität und über 800 Jahre Kontinuität. Das System wird durch 22 offizielle Bewerbungsobjekte repräsentiert. Diese decken weit mehr ab als nur hydrotechnische Innovationen und Leistungen. Sie besitzen teils emblematischen Charakter und kreieren ein Bild der Wasserwirtschaft als so bezeichnete „Lebensader“, welche sich durch alle Epochen und Entwicklungslinien der Stadtgeschichte zieht. Gegenwärtig versucht sich Augsburg durch eine historische wie gegenwärtige Identität als „Stadt des Wassers“ mit all ihren Aspekten von der manieristischen Brunnenkunst bis hin zur modernen Trinkwasserversorgung zu profilieren. Das Augsburger Kulturerbe fungiert hier als identitätspolitische Ressource und nicht zuletzt auch als ökonomische Ware und Politikum. Abseits der Kontinuität und Inwertsetzung mit dem Label „Wasser“ stellt sich darum die allgemeine Frage nach den Chancen und Risiken der Bewerbung für die Stadt Augsburg.

Der Hauptteil gliedert sich in drei Kapitel. Das erste analysiert die Konstruktion des kulturellen Bewusstseins in Augsburg vom frühen 20. Jahrhundert bis zur jüngsten Vergangenheit. Der Fokus liegt dabei auf der „modernen“ Stadtentwicklung Augsburgs, ihrer touristischen Vermarktung sowie den damit einhergehenden Strukturen der soziokulturellen Gegebenheiten. Die Stadtentwicklung im 19. und vor allem im späteren 20. Jahrhundert kann nicht zuletzt auch als Schlüssel zu Identität und Bewusstsein der heutigen Stadt Augsburg gesehen werden. Das nächste Kapitel wird sich der gegenwärtigen UNESCO-Bewerbung sowie der historischen und gegenwärtigen Verortung der UNESCO-Bewerbungsattribute in der Öffentlichkeit annehmen. Das letzte Kapitel widmet sich dann der konkreten Chancen und Risiken, welche die Bewerbung für die Stadt mit sich bringt. Im knapp bemessenen Rahmen des Essays wird keineswegs der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, Ziel ist lediglich die knappe und grundlegende Hervorhebung der Potentiale und Gefahren im Stil einer rudimentären, ethnographischen Untersuchung des Augsburger UNESCO-Bewerbungsantrags. Die Kriterien für die vorgenommenen Werturteile werden auf der Basis der Inhalte des Bewerbungsdossiers der Stadt Augsburg sowie themenverwandter, wissenschaftlicher Publikationen gefällt.

2. „Konstruktion“ des kulturellen Bewusstseins

– die Vermarktung Augsburgs vom 19. bis zum 21. Jahrhundert

Nach dem Ende der reichsstädtischen Selbstständigkeit 1806 schien die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Stadt zunächst zu stagnieren. Als traditioneller Handelsplatz hatte Augsburg jedoch auch im 19. Jahrhundert nicht seine Bedeutung für das Bankwesen verloren. Während sich in München, dem wachsenden Zentrum für Kunst und Bildung, rasch eine königliche Stadtarchitektur entfalten konnte, entstand in Augsburg aufgrund von Investitionen bald Industriearchitektur. Für die ehemalige Reichsstadt wurde die Industrialisierung nach der „Zäsur“ von 1806 zu einer Chance und zu einem Ausweg aus der fast „existenziellen Krise“. Durch die Anknüpfung an die jahrhundertealte schwäbische Textiltradition war dem fluss- und dadurch energiereichen Städtedreieck Augsburg, Kempten und Memmingen der Weg geebnet, zu einer der bedeutendsten deutschen Industrieregionen zu avancieren. Durch die Entfestigung und den Durchbruch der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verlor die Stadt Augsburg nach und nach ihr altes Gesicht. Für das „deutsche Manchester“ bedeutete dies die Errichtung zahlreicher Großbauten wie der Baumwollspinnereien der SWA, zu denen auch der heutige „Glaspalast“ zählt, oder des Gaswerks und des Städtischen Schlacht- und Viehhofs. Um 1900 befanden sich fast zwei Dutzend Textilunternehmen, darunter die drei größten Baumwollwebereien des Deutschen Reiches, in Augsburg. Die Zeit um die Jahrhundertwende gilt noch heute als ein Durchbruch der Moderne. Das Deutsche Kaiserreich durchlebte eine ungekannt lange Friedenszeit, die von ständig wachsendem Wohlstand begleitet war. Die Industrialisierung zog eine regelrechte Bevölkerungsexplosion und einen Wandel der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach sich. Zwischen 1830 und 1910 wuchs die Augsburger Bevölkerung von 29.000 auf 102.000 Bürger an. Durch die zunehmende Urbanisierung herrschte ein katastrophaler Wohnungsmangel. Die neuen Stadtteile des 19. bis frühen 20. Jahrhunderts waren stets durch die wirtschaftlichen Begleitumstände bedingt. Hier überwogen jedoch gutbürgerliche Wohnviertel wie das sogenannte Westend zwischen Altstadt und dem bis 1846 eröffneten Hauptbahnhof mit Prachtstraßen und Repräsentationsbauten wie dem Theater, dem Justizpalast und der Stadtbibliothek oder das ab 1907 entstehende Thelottviertel, deren Gründer sich lose an den lebensreformerischen Idealen der Gartenstadt orientierten. Die Wohnbedürfnisse der großen Masse dagegen blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein unberücksichtigt. So entstand mit Augsburg-Spickel erst nach dem Ersten Weltkrieg ein selbstständiges, durchgrüntes Stadtquartier mit eigener Infrastruktur. Obgleich diese projektierte Gartenvorstadt nur teilweise realisiert wurde, waren die ausgeführten Wohnungen für bescheidenere Ansprüche konzipiert. Eine wichtige Rolle spielte zudem die Schaffung von Infrastruktur und Einrichtungen, die dem Gemeinwohl dienen und den öffentlichen Bedürfnissen entgegenkommen sollten. Wichtige Aufgaben waren der Bau von Eisenbahnen, Straßen, Gaststätten und Schulen, aber auch die umfassende Kanalisierung und hygienische Trinkwasserversorgung.

Das städtische Selbstbewusstsein bezog sich bald weniger auf die reichsstädtische Vergangenheit und mehr auf die gegenwärtige Entwicklung als Industriestadt mit ihren stattlichen neuen Straßen und prachtvollen Wohnhäusern. Die gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeit wie die Soziale Frage spielten bei dem Selbstbild und der Vermarktung der Stadt keine Rolle. Kulturell ausgerichtete Veröffentlichungen wie Stadtführer orientierten sich dagegen bis zum Ersten Weltkrieg zunächst ausschließlich am historischen Aspekt. Dieses repräsentative Bild war auf die ästhetische Oberfläche der alten Reichsstadt verengt. Vor allem in der Zwischenkriegszeit wurde dann die Industriemacht als Standortfaktor miteinbezogen. Der langsam einsetzende Tourismus positionierte sich zwischen ökonomischen und politischen Interessen. Adam T. Rosenbaum definiert diese Herangehensweise als „grounded modernity“. Dieses progressive Bild blendete jedoch ebenfalls historische wie gegenwärtige Krisen und Konflikte konsequent aus. Das „historische“ und das „moderne“ Augsburg wurden komplementär herangezogen, um Vergangenheit und Gegenwart zu einer selektiven Narrative zu vereinen, welche Tüchtigkeit, Errungenschaften, Fortschritt und Kontinuität von den Römern bis zum Industriezeitalter glorifizierte. Augsburg wurde damit als Metapher für das „quintessenziell Deutsche“ propagiert. Während die Identität der Stadt in den 1920er Jahren somit zwar von der Politik gelenkt wurde, trugen fehlender Enthusiasmus unter den Augsburgern, eine unstabile Wirtschaft sowie der „touristische Konkurrent“ München zu der Erfolglosigkeit der Propaganda bei. Nach dem Zweiten Weltkrieg war diese nationalistisch-patriotistische Konstruktion des Selbstbildes restlos unerwünscht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde versucht, diese erneute kulturelle Identitätskrise auf verschiedene Arten zu kompensieren: Augsburg entwickelte sich beispielsweise zu einer Stätte des Sports. Die Olympischen Sommerspiele von 1972 dürfen hierbei als ein Höhepunkt angesehen werden. Für die beiden Spieltage in Augsburg wurde das gesamte Areal des Eiskanals in eine künstliche Kanustrecke umgewandelt. Die hierbei umgesetzte Landschafts- und Gebäudearchitektur folgte internationalen Strömungen. Die allgemeine Fortschrittseuphorie der 1960er und 1970er Jahre offenbart sich gleichsam in den ebenfalls aus dieser Epoche stammenden Großbauten und Hochhäusern. Beispielhaft angeführt seien hier die Neubauten von Universität samt Universitätsviertel, des Klinikums bei Neusäß, des Schwabencenters, des Königsplatzes oder des Hotelturms. Im Zuge der 1985 stattfindenden 2000-Jahr-Feier der Stadt Augsburg kulminierte schließlich auch der kulturelle Elan der Bevölkerung. Die Feierlichkeiten um das Rathaus und die Maximilianstraße besaßen einen internationalen Anspruch. Der Goldene Saal wurde rekonstruiert, zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen wurden angeboten und es bildeten sich historische Vereine. Darsteller ließen die „Goldene Zeit“ Elias Holls um 1620 oder auch die römische Antike als glanzvolle Höhepunkte der Stadtgeschichte – und damit gut zu vermarktende Momente – wieder aufleben.

Erst nach der Jahrtausendwende wurde versucht, das Image der Stadt auszudifferenzieren. Die bis 2004 laufende Bewerbung als Kulturhauptstadt 2010 entwarf eine Identität der Stadt, die ihre Vorbildfunktion für Europa erstmals ausdefinierte. Eine ausführliche Publikation stellte hierbei zunächst die „klassischen“ Topoi der Friedensstadt und der großen Augsburger Persönlichkeiten von Augustus über die Fugger bis Brecht vor, nahm aber auch die Partizipation der Bürger, den jahrhundertelangen Informationstransfer, die Industriekultur und nicht zuletzt die ökologische Kompetenz – bereits mit einem Verweis auf die Wasserwirtschaft – in den Blickpunkt. Nach der Absage der Bewerbung konzentrierte sich Augsburg auf die Herausbildung weiterer touristischer Labels. Parallel zum traditionellen Friedensfest präsentierte sich Augsburg zum 450-jährigen Jubiläum des Religionsfriedens 2005 als Friedensstadt sowie im Jahr darauf, dem 250. Todestag Mozarts, als die deutsche Mozartstadt. Zeitgleich erfolgten Festveranstaltungen zum 50. Todestag Bertolt Brechts, bis sich 2010 ein turnusmäßiges Brechtfestival etablierte. Auch die sportliche Bedeutung der Stadt wurde 2011 durch in Augsburg stattfindende Partien der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft bekräftigt. Die feierliche Begehung des Europatags und der Europawoche sowie viele weitere öffentliche Kulturveranstaltungen, von Outdoor-Festivals wie dem „Modular“ bis zu städtischen Vortragsreihen mit wissenschaftlichem Anspruch, belegen die lebendige und vielgestaltige kulturelle Dynamik der Stadt.

3. Das Selbstbild Augsburgs in der UNESCO-Bewerbung

Im Jahr 2011 wurde die offizielle Interessenbekundung der Stadt Augsburg eingereicht, sich unter dem Titel „Wasserbau und Wasserkraft, Trinkwasser und Brunnenkunst“ um den Titel als UNESCO-Welterbe zu bewerben. Der historischen Wasserwirtschaft wurde ein „außergewöhnlicher universeller Wert“ bescheinigt, der eine zentrale Maßgabe der UNESCO darstellt. Als hervorragendes Beispiel der Entwicklung der Wassernutzung über 800 Jahre hinweg ist sie durch die reine Fülle an hochrangigen und authentischen Objekten ein singuläres Zeugnis.

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Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Eine ethnographische Untersuchung des Augsburger UNESCO-Bewerbungsantrags
Hochschule
Universität Augsburg  (Philologisch-Historische Fakultät)
Veranstaltung
HS: Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
18
Katalognummer
V1215485
ISBN (eBook)
9783346643308
ISBN (Buch)
9783346643315
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Augsburg, UNESCO
Arbeit zitieren
Christian Schaller (Autor:in), 2017, Eine ethnographische Untersuchung des Augsburger UNESCO-Bewerbungsantrags, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1215485

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