Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Berthold Brecht
1.2 Die Dreigroschenoper
2 Der soziale Raum und die Hauptprotagonisten
2.1 Das soziale Milieu
2.2 Der kapitalistische Ausbeutungsprozess
2.3 Jonathan Peachum & Co
2.4 Die Transformation von Kapitalwerten
2.5 Der Antagonismus Peachum vs. Macheath
2.6 Jeff Macheath dramatisch-verfremdeter Held?
2.7 Die Räuberbande des Macheath
3 Die sozial-ökonomisch durchzogene Wirklichkeit
3.1 Der kapitale Wettkampf
3.2 Soziales Kapital
3.3 Die kapitalistischen Doxa der Dreigroschenoper
3.4 Die Songs der Dreigroschenoper
3.5 Die Reproduktionsmechanismen
3.6 Übermacht des Objektivierten in den Subjekten
4 Die Dreigroschenoper sozialtheoretisch resümiert
4.1 Wissenschaftsgenealogische Herleitung
4.2 Die Historizität des kapitalistischen Zustandes
4.3 Der brechtsche Verfremdungseffekt
4.4 Die Negation der bürgerlichen Ideologie
4.5 Soziale Immobilität
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Berthold Brecht
Als am 31.08.1928 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm die von Berthold Brecht geschriebene Dreigroschenoper uraufgeführt wurde, hätte der ausfallende Beifallsturm kaum enthusiastischer und langanhaltender sein können. Schon im Januar 1929 wurde die Oper an 19 deutschen Theatern sowie in Wien, Prag und Budapest gespielt. Bis zu dem Verbot durch die Nationalsozialisten war das Stück in 18 Sprachen übersetzt worden. Die historische Resonanz ist dementsprechend hoch ausgefallen, deren Widerhall bis in die gegenwärtig zeitgenössische währt. Nach wie vor wird das Theaterstück auf professionellen Bühnen aufgeführt und in journalistischen, literaturwissenschaftlichen und populären Medien rezipiert. Beispielsweise wurde die Oper von 2007 bis 2020 am Ort der Uraufführung, dem Theater am Schiffbauerdamm, aufgeführt. Die mediale Manifestation der Dreigroschenoper geht über das ‚normale Maß‘ einer Oper hinaus und ist entsprechend mannigfaltig. Ebenso hoch ist ihr politischer Gehalt, weshalb es schon bei der ersten Verfilmung 1930 zu urheberrechtlichen Problemen mit der Produktionsfirma kam.1 Mittlerweile sind die ihr eingegebenen kapitalismus- und gesellschaftskritischen Implikationen auf großer Bandbreite wissenschaftlich diskutiert worden und einige markante Zitate etablierten sich zu populären Redewendungen. Neben einer umfassenden operalen Aufführungsgeschichte ist sie bis heute auch mehrfach verfilmt worden, zuletzt im Sep. 2018 von dem Regisseur Joachim A. Lang.2
Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung zählt Brecht unbestritten zu den bedeutendsten Dichtern und Dramatikern des 20. Jahrhunderts. Er ist als Klassiker der Moderne nach wie vor einer der meistgespielten Erzähler auf Bühnen im In- und Ausland. Mit den ausgehenden zwanziger Jahren schrieb Brecht äußerst erfolgreiche Theaterstücke als theatralisch-erzählende Form der Literatur und es gelang ihm sein Durchbruch als Dramatiker und Lyriker. Von besonderer Bedeutung sind die Jahre der Weimarer Republik aber auch, weil es in dieser Zeit zur Politisierung von Brechts Denken und Weltanschauung kam, was seine Arbeit in den nachfolgenden Dekaden maßgeblich beeinflussen sollte.3 In zahlreichen Werken behandelte er gesellschaftskritische Themen und insbesondere durch das epische Theater sollten soziale und ökonomische Ungerechtigkeit thematisiert werden, um die kontemporären Konflikte transparenter zu machen und das Potential für Veränderungen freizulegen.4
Als Künstler begründete er das sogenannte epische Theater, bzw. das dialektische Theater. Als innovatives Theatergenre sollte der Zuschauer/die Zuschauerin im Gegensatz zur traditionellen Dramaturgie keiner Empathie und damit einhergehenden Katharsis angeregt werden, sondern durch distanzierende Darstellungselemente zum kritischen Hinterfragen und selbstreflexiven Nachdenken. Als literarisches Stilmittel wird der Verfremdungseffekt zum Hauptbestandteil des epischen Theaters, um durch unterschiedliche Methoden bei dem Rezipienten/der Rezipientin jegliche Illusion des Geschehens zu stören. Dies führt zur Irritation der gesellschaftlichen Einstellung und Reflexion der eigenen Position, was sicherlich nicht zuletzt der Intention Brechts entsprach, Potentiale nach politischer Veränderung und/oder gesellschaftlicher Strukturen anzuregen.5 Eben diese Rezeptionslenkung lässt sich auch an der brechtschen Weiterverarbeitung der berühmten englischen ‚Ballad Opera‘ von John Gay aus dem Jahr 1728 bemerken, die im Folgenden vorgestellt sei sowie die aufgeworfene Fragestellung der vorliegenden Ausarbeitung daran entwickelt.
1.2 Die Dreigroschenoper
Die Dreigroschenoper hat, wie seine 200 Jahre ältere Vorlage The Beggar’s Opera, die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft zum Thema. Unter kapitalistischen Bedingungen definiert sich der sozioökonomische Status aller Akteure und Akteurinnen im Raum der dargestellten Gesellschaft und bestimmt ihr soziales und gesellschaftliches Entscheidungsverhalten maßgeblich. Die Wirkung der ökonomischen Kräfte werden in der Dreigroschenoper von Brecht aber nicht im Zusammenhang gewöhnlicher Betriebe veranschaulicht, sondern in brecht-epischer Theatralik verfremdend im gesellschaftlichen Alltag des fiktiven Verbrechermilieu Sohos in London. Zwar spielt die Erzählzeit im Viktorianischen Zeitalter des 19. Jahrhunderts, jedoch ist der Raum der Erzählung auch mit anachronistischen Zeitelementen des 20. Jahrhunderts ausstaffiert.
Der so dargestellte Ort des Geschehens verliert seine Exklusivität und die Geschichte wird an sämtlichen Orten der westlichen Industriegesellschaften vorstellbar. Brecht ging es um die sozialkritische Auseinandersetzung mit dem Stück und nicht um historische oder geographische Exaktheit. Der soziologische Wert war ihm vermutlich wichtiger als nationale Selbstreferenzialität und das Stück gewinnt damit den Verzicht auf ethnozentrische Verzerrung, Verkennungen und nationale Etikettierungen und fördert dem hingegen transnationales Verständnis und Querbeziehungen, da gemeinsame soziologische Phänomene erkennbar werden in den unterschiedlichen Nationen in denen das Stück aufgespielt wurde.6
Das damit nur knapp skizzierte, aber noch weiterauszuführende interpretatorische Potenzial der Dreigroschenoper, bietet eine gute Grundlage, um ihre gesellschaftlichen Verhältnisse soziologisch zu analysieren. Auf folgende Fragestellung hin wird sie untersucht: Wie funktioniert ihr sozialer Raum? Wie konstatiert sich die gesellschaftliche Hierarchie – von welchen Normen wird das sozioökonomische Machtgefüge gestützt und vor allem wodurch erhält sich die darin vorherrschende soziale Ungleichheit? Warum kommt es zu keinem Aufbegehren der unterdrückten und ökonomisch stark benachteiligten Akteure und Akteurinnen?
Das wichtigste Beobachtungsfeld ist demnach die von Brecht inszenierte gesellschaftliche Ordnung sowie deren zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen als deren sozioökonomischen Kräfte. Welcher Stellenwert das Kapital einnimmt, inwiefern es sich semantisch zusammensetzt und in Wechselwirkung soziales Verhalten bestimmt, wird hierbei untersucht. Die sich daraus ergebende Funktion sozialen Verhaltens soll insbesondere durch die interpersonale Opposition der beiden Hauptprotagonisten Jeremiah Peachum und Jeff Macheath untersucht werden. Auch deren beiden Verbrecherunternehmen, bei denen die ökonomischen Ausbeutungsmechanismen wirkmächtig vorhanden sind, werden fokussiert analysiert. Tendenziell vergrößert sich der Fokus der vorliegenden Ausarbeitung induktiv von individuellen über interpersonale hin zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die den interpretatorischen Kerngehalt der Dreigroschenoper ausmacht. Die im Sinne der Fragestellung vorgenommene Untersuchung des Kapitalbegriffs in der Dreigroschenoper wird mit Theoremen aus dem wissenschaftlichen Werk Karl Marx, Pierre Bourdieu und Vertretern der Frankfurter Schule unterstützt. Die Beantwortung der Fragestellung unter Einbezug sozialtheoretischer Erkenntnisse soll sowohl auf die fiktive Gesellschaft der Dreigroschenoper als auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des modernen Menschen in den westlichen Industrieländern bezogen werden. Dass die herangezogenen sozialtheoretischen Autoren aus der Nachkriegszeit auf den von Karl Marx und Friedrich Engels begründeten historischen Materialismus zurückgeführt werden können, soll die Fragestellung dieser Arbeit am Ende des Hauptteils wissenschaftsgenealogisch resümieren.
Um die Bearbeitung dieses Forschungsvorhabens stets in der Nähe des Textes zu verorten, sollen sämtlich herausgestellte gesellschaftliche Phänomene durch Textbezüge und konkrete Zitate aus der Dreigroschenoper belegt werden. Neben den im Prozess des ‚close readings‘ näher eingegangenen Textstellen soll auch der chronologische Handlungsstrang des Dramas dargestellt werden, gleichwohl einige Vor- und Rückgriffe im Sinne der Fragestellung unvermeidbar sein werden. Die gewonnenen Erkenntnisse zusammenführend soll im Schlussteil die soziale Mobilität in Zusammenhang mit dem Kapitalbegriff in seinem erweiterten Sinne gebracht werden, wobei auch der Handlungsausgang der Dreigroschenoper im Erkenntnisinteresse der Fragestellung abschließend interpretiert werden soll.
Im Folgenden wird der soziale Raum der Dreigroschenoper in seiner Mehrdimensionalität hin vorgestellt, denn aus der Komplexität des gesellschaftlichen Gefüges wird sich der Kapitalbegriff definieren lassen, an welchem die handlungsleitenden Intentionen der Figuren abgeleitet werden können, um dann wie oben angesprochen die sozialtheoretischen Bezüge anzuknüpfen.
2 Der soziale Raum und die Hauptprotagonisten
2.1 Das soziale Milieu
Die Dreigroschenoper führt in das fiktive Milieu der Verbrechervorstädte Londons ein, Soho und Whitechapel, „die vor zweihundert Jahren so wie heute die Zufluchtsstätte der ärmsten und nicht immer durchsichtigsten Schichten der Londoner Bevölkerung waren“7. Insofern veranschaulicht der soziale Raum im drei Akte langen Stück Brechts vor allem die negativen Kehrseiten gesellschaftlichen Lebens, dessen zeitlose und ortsunabhängige Realität, das Bettler-, Huren- und Hehlermilieu, sich als zwanghaftes Resultat menschlicher Zivilisation in Großstädten herausstellt. Gleich zu Beginn im Vorspiel treten diese drei sozialen Gruppen der Handlung in Erscheinung.8
Dabei scheint es, als ob die Kriminellen selbst zur Klasse des Proletariats gehören und dem ökonomischen Glücksversprechen der Bourgeoisie verfallen sind, dessen Wurzeln in der französischen Revolution und darauffolgenden industriellen Revolution gründen.9 Daraus ergibt sich eine antibürgerliche Ästhetik, wenn die lohnabhängigen Bürger aus kriminellem Milieu die politischen und ökonomischen Verhaltensweisen der gehobeneren Gesellschaftsschicht spiegeln und profitorientiert versuchen ökonomisches Kapital anzureichern, um sozial aufzusteigen.10
Innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie führt dies zur Erhebung individueller Machtansprüche und damit einhergehend zu innerständischen Kämpfen oder anders ausgedrückt, zu Kämpfen unter sozial gelichgestellten Individuen innerhalb einer Bevölkerungsschicht – ein Phänomen, das zum Untersuchungsgegenstand der Fragestellung wird und Brecht wohlbemerkt nicht allein in der Dreigroschenoper in einer bedrohlichen sozialen Umwelt thematisiert. Demgemäß gestaltet sich eine äußerst kompetetive soziale Umwelt der Akteure und Akteurinnen der Dreigroschenoper. Neben dem Leistungszwang evoziert der herausforderungsvolle Lebensraum unter den Figuren des Theaterstücks ebenso eine Grundstimmung aus zynischem Hedonismus und quasibürgerlicher Sentimentalität, in dessen Dialekt die Kritik des Dramas sich manifestiert. Dem erzählerischen Können Brechts ist es zuzuschreiben, dass die kritische Interpretation vornehmlich auf die äußeren Umstände, die kapitalistischen Machtverhältnisse zielt, denn das Verhalten und die Lebensweise der Figuren wirkt gemäß ihrer Umwelt authentisch sowie nachvollziehbar.11
Aus dieser Art Leistungsgesellschaft erklärt sich der Druck auf die Protagonisten der Dreigroschenoper, deren Höhepunkt sich in der spannungsgeladenen und doch nur indirekt verlaufenden Konfrontation zwischen den proletarischen Verbrechern Peachum und Macheath manifestiert, die beide ein kriminelles Unternehmen betreiben, um durch ausbeutendes Wirtschaften sozioökonomisch weiter aufzusteigen. Inwiefern der Ausbeutungsprozess bei dieser Art von Gewerbe vonstattengeht, sei nach einem ersten sozialtheoretischen Denkanstoß von Seiten Karl Marx als Überleitung in den Hauptteil dargestellt.
2.2 Der kapitalistische Ausbeutungsprozess
Als eine grundlegende Bedingung des Kapitalismus definiert Marx eine Form von Reichtum, wobei durch Indienstnahme von Lohnarbeit sich ökonomisches Kapital akkumuliert, von dessen Zuwachs die Produzenten selbst jedoch dauerhaft ausgeschlossen sind. Verstehbar als praktisches Exempel zum marxschen Theorem lässt sich dieser Ausbeutungsmechanismus in der Dreigroschenoper auf parodistische Weise in den sozialökonomisch schwächeren Milieus, in den proletarischen Schichten durch Proletarier selbst, markieren. In Persona sind es wie bereits erwähnt Jonathan Peachum und Jeff Macheath, welche ihre ‚Angestellten‘, die Bettler und die Bandenmitglieder, auf derartige Weise ausbeuten und im nächsten Unterkapitel unter der aufgeworfenen Fragestellung in den Fokus der Ausarbeitung rücken.
2.3 Jonathan Peachum & Co
Die kapitalistische Funktionsweise der Jonathan Jeremiah Peachum & Co. wird im ersten Akt des Stücks dargestellt. Die Firma kontrolliert scheinbar jeden „Mann, der in einem [… von seinen 14 in London verwalteten Distrikten] das Bettelhandwerk gedenkt auszuüben“12. Mit Gewalt setzt er seine Machtposition durch. Dabei behauptet er auch den von Marx definierten Monopolanspruch, wenn er angibt, dass „das Bettelhandwerk“13 nur von „Professionals“14 ausgeführt werden kann, die mit einer exklusiven „Lizenz von der Jonathan Jeremiah Peachum & Co“15 arbeiten. Weiterführend lässt sich mit Bourdieus Kapitaltheorie hervorheben, dass er im Besitz von institutionalisiertem Kulturkapital ist, denn er ist in der Lage scheinbar legitimierte Zertifikate zu verteilen, welche den Bettler/die Bettlerin ermächtigt bestimmte öffentliche Plätze zu bekleiden.16 Sein unnachgiebiger Machtanspruch ist auch an der brutalen Abgrenzung seiner Distrikte erkennbar, in denen ein freier Bettler wie Charles Filch von seinen durchaus gewaltbereiten Handlangern zur Verwarnung eine „Tracht Prügel“17 kassiert sowie eine „Geschäftskarte“18 ausgehändigt wird. Zum einen, um ihn in die Schranken zu weißen, dass ohne seine Autorisierung nichts zu holen ist, zum anderen, um ihn zu sich schicken zu lassen – die Art des Unternehmens neue Angestellte anzuwerben.19 Wie die Indienstnahme neuer Angestellten abläuft, zeigt sich an der Einstellung Filchs: ein neuer Angestellter in einer alten, bereits gebrauchten Bekleidung wird wie eine neue Maschine im Unternehmen in den Dienst genommen. Ist sie in die Jahre gekommen und wird ineffizient oder erzeugt aus anderen Gründen am Markt keine Resonanz mehr, wird sie zur Aufrechterhaltung der Produktionszahlen ersetzt.
Denn die Unternehmensrendite liegt im achtsamen Auge des Geschäftsführers, weshalb über die Effizienz eines jeden angestellten Bettlers Buch geführt wird. Nur von wem weitere zukünftige Einnahmen zu erwarten sind, wird auf der Liste des kapitalbedachten Unternehmers als aktiver Posten markiert. Wer innerhalb seiner Buchführung als passiver Posten markiert wird, wird nicht nur entlassen, sondern darüber hinaus an den Henker ausgeliefert, wodurch Peachum das auf seinen Kopf ausgesetzte Lösegeld einstreichen kann – wie in der Einleitung angesprochen ist das handlungsleitende Element der Figuren: ein auf maximalen Profit ausgerichtetes Kalkül.20 Gleich dem modernen Aktienhandel verwaltet der Firmenchef sein Humankapital als lohnenswerte Anlage – die wirtschaftliche Performance ist dabei entscheidend. Wessen Rating nach Screening und Analyse seiner Kurszahlen einen negativen Trend aufweist, wird zum höchstmöglichen ‚Preis‘ abgestoßen. Wie viel ein Leben in den Augen Peachums wert ist, hängt von seinem aktuellen Warenwert auf dem Markt ab.21 Durch Liquidierung seiner Mitarbeiter werden Vermögenswerte wieder flüssig gemacht, dies ermöglicht die erneute Investition in den Markt. Peachums Verwertung aller sozialen Verbindlichkeiten in ökonomischen Profit und die damit verbundene Substitution von Emotion durch profitmaximierende Kalkulation, lässt sich als negative Begleiterscheinung der kapitalistischen Produktionsweise verstehen, welche sich als ein Wesensmerkmal der Dreigroschenoper noch mannigfaltig wird markieren lassen.
An das gesellschaftliche System hat der Unternehmensführer sich erfolgreich angepasst und ist neben Macheath, wie sich noch zeigen wird, aus dem Kreis der proletarischen Verbrecher in die Klasse der kriminellen Bourgeoisie aufgestiegen. Peachum kennt die groß gewordene „Gemeinheit der Welt“22 und ist von der staatlichen Verantwortlichkeit dieser Zustände überzeugt. Denn für die ungerechten Verhältnisse sei das Gesetz verantwortlich, das „einzig und allein gemacht zur Ausbeutung derer, die es nicht verstehen oder die es aus nackter Not nicht befolgen können“23. Im Bewusstsein über die daraus resultierende grundlegende Hoffnungslosigkeit weiß er einen Mehrwert zu erzeugen, indem er sich das Elend selbst zur Ware Macht und es an das schlechte Gewissen der Gesellschaft verkauft. Damit könne sich der Bürger das Maß an Erleichterung verschaffen, welches er benötigt, um es mit seinem Gewissen zu vereinbaren, durch Ausbeutung ärmerer Gesellschaftsschichten weiteres Elend erzeugen zu können.24
2.4 Die Transformation von Kapitalwerten
Mit Bourdieus Verständnis des Kapitalbegriffs lässt es sich wie folgt auffassen: Peachums Bettlerfirma transformiert objektiviertes soziales Kapital in ökonomisches Kapital. Das objektivierte soziale Kapital ist das Mitleid, welches durch entsprechende Verkleidungen beim schlechten Gewissen der Gesellschaft wegen Teilhabe an den Ausbeutungsprozessen erregt wird. Die aus gehobeneren Schichten25 kommenden Bürger spenden ein Teil ihres erbeutenden Geldes, woraus in seiner Gesamtheit als ökonomisches Kapital die Bettlerfirma ihren Umsatz generiert. Der Gewinn ergibt sich aus der Differenz zwischen den Kosten für die Arbeitskleidung, Schmiergelder, Gehalt der Bettler und gewaltbereiten Schlägerkommandos und dem, was die Bettler aus dem Mitleid der Bourgeoisie ziehen können. Der damit angedeutete Kreislauf von Kapitalwerten, der sich über dem des ökonomischen hinauserstreckt, steht innerhalb seiner Diversität in äußerst komplexer Wechselwirkung durch seine verschiedenen Bestandteile, deren zugrundeliegenden, sozialen Ursache-Wirkungs-Beziehungen an späterer Stelle innerhalb der sozialtheoretischen Erörterung aufgegriffen und weiterführend analysiert werden soll. Zumal es auch innerhalb dieser Marktwirtschaft des kriminellen Milieus darum geht sein Kapital zu akkumulieren und seinen wirtschaftlichen Interessen- und Machtbereich auszuweiten, ist das Konkurrenzverhältnis der beiden Hauptprotagonisten und Unternehmer a priori vorhanden.
2.5 Der Antagonismus Peachum vs. Macheath
Allerdings entfaltet sich am Anfang des Dramas die handlungsleitende Intention aus einem explizit anderen Grund. Der Bettlerkönig Jonathan Peachum will den Bandenchef Jeff Macheath an die Polizei ausliefern und wegen seiner Verbrechen an den Galgen bringen, als er von seiner Frau erfährt, dass jener seine Tochter Polly umgarnt, verführt und gedenkt zu heiraten.26 Peachums Motive sind egoistisch und durchweg vom gefühllosen Kalkül einer Doppelsieg-Strategie gekennzeichnet. Zum einen will er seine Tochter als soziale Altersvorsorge, als „letzte Hilfsquelle [seines] Alters“27 und zukünftige Geschäftsführerin reservieren, es ist die einzige ‚Wertschätzung‘, welche er der eigenen Tochter beimisst. Zum anderen will er die 40 Pfund Kopfgeld für Macheaths Auslieferung kassieren – die durchaus berechtigten Bedenken gegenüber dem Beziehungsverhältnis seiner Tochter zum schwerkriminellen Bandenboss bleibt dabei ohne Relevanz. Die väterliche ‚Fürsorge‘ wird zum profitablen Geschäft umgemünzt, bei der er zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen kann. Im hartumkämpften Bettlermilieu hat Peachum die Konkurrenzfähigkeit erworben, stets nach einer auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Lösung zu streben. Ebenfalls dürfte es Peachum in die Karten spielen, dass mit der Festnahme Macheath s auch ein Rivale aus einem zwar anderen kriminellen Gewerbebereich festgenommen wird, aber es letztlich doch ein Konkurrent weniger in den Distrikten bedeutet, in denen er seinen uneingeschränkten kriminellen Machtanspruch geltend machen möchte. Die Gefühle seiner Tochter können dabei nicht berücksichtigt werden, bzw. werden von Peachum schroff als große Schwäche und Unerfahrenheit verunglimpft – lediglich Pollys Markt- und Tauschwert liegt im Interesse des Vaters. Auch Celia Peachum ist gegen die Verehelichung ihrer Tochter, nachdem sie erfährt, dass es sich um Mackie Messer handelt. Sie hält die Gefühle der Tochter für Verblendung, dass „die verdammten Bücher“28, die Polly gelesen hat, ihr „den Kopf verdreht“29 haben. Anhand dieser Feststellungen lässt sich en passent bemerken, dass sämtliche soziale Beziehungen vom alles bestimmenden Kapitalwert überlagert werden, der auf vielerlei Weise über den des ökonomischen hinausgeht.
Aufgrund seiner verinnerlichten und nach außen wirkenden ökonomischen Prinzipien, die Peachum an einigen Stellen durch Bibelbezüge kaschiert, fällt seine bürgerliche Rolle scheinheilig aus.30 Daneben zeugt seine Konfliktführung und das damit verbundene, unentwegte Bemühen Macheath an den Galgen zu bringen, von
[...]
1 Mehr dazu bei Knopf, Jan: Bertolt Brechts Erfolgsmarke. Dreigroschen für Fressen und Moral, Stuttgart, 2017, S. 96.
2 Vgl. Scheer, Ursula, faz, Feuilleton, Kino, Fast wär’s Kino geworden, 2018. <https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/joachim-a-lang-bringt-brechts-dreigroschenfilm-ins-kino-15786959.html> Rev. 2021-03-21.
3 Vgl. Thomsen, Frank et al.: Ungeheuer Brecht: eine Biographie seines Werks, Göttingen, 2006, S. 67
4 Vgl. Schmidt, Ina: Gesellschaftskritische Motive bei Bertolt Brecht und Lars von Trier. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven, Hamburg, 2011, S. 2.
5 Vgl. Thomsen, S. 67.
6 Diese und diverse weitere Erkenntnisse und Interpretationsvarianten der vorliegenden Ausarbeitung sind inspiriert von Aufschrieben aus dem Seminar: ‚Bertolt Brecht im Kontext der Studentenbewegung‘, welches unter der Leitung von Isabelle Holz im Sommersemester 2017 an der Eberhard Karls Universität Tübingen stattgefunden hat.
7 Pache, Walter: Brecht und die Briten. Von der Beggar’s Opera zur Dreigroschenoper. In: Koopmann, Helmut (Hrsg): Brechts Lyrik: neue Deutungen. Würzburg, 1999, S. 199-214, hier S. 208.
8 Vgl. Lang, Joachim: Episches Theater als Film. Bühnenstücke Bertholt Brechts in den audiovisuellen Medien, Würzburg, 2006, S. 83.
9 Durch diese geschichtlichen Prozesse war es mehr denn je möglich geworden, nicht allein durch die adelige Geburt, sondern auch durch die Anhäufung von ökonomischem Kapital sozial aufzusteigen.
10 Vgl. Schumacher, Klaus: Ekstasen der Sachlichkeit. Zur Dreigroschenoper (1928) von Bertholt Brecht und Kurt Weill. In Böker, Uwe et al. (Hrsg.): John Gay’s The Beggar’s Opera 1728-2004. Adaptions and Re-Writings, Amsterdam, 2006, S. 193-219, hier S. 196.
11 An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass Brecht noch nicht den kapitalistischen Produktionsstil und die kapitalistische Konsumgesellschaft des Westens explizit aufs Korn nahm, wie er dies beispielsweise in die heilige Johanna der Schlachthöfe 1931 tat. Allerdings übertrug er wie sich zeigen wird auch schon in der Dreigroschenoper unter anderem die hintergründigen kapitalistischen Normen ökonomischer Profitgier und maximaler Wirtschaftlichkeit zugespitzt in einer Parabel auf die abendländische Welt der Kriminalität.
12 Dreigroschenoper, S. 399.
13 Ebd., S. 399.
14 Ebd., S. ebd.
15 Ebd., S. ebd.
16 Vgl. Mührer, Tobias, Der Freitag, Kultur, Bourdieu und die Wege der Ungleichheit, 2018. <https://www.freitag.de/autoren/tobias-muehrer/bourdieu-und-die-vielen-wege-der-ungleichheit> Rev. 2021-03-22.
17 Dreigroschenoper, S. 399.
18 Ebd., S. ebd.
19 Vgl. ebd., S. 398-402.
20 Vgl. Hilliard, Kevin: Abgegriffene Pennies. Gefühle und Ökonomie in John Gays The Beggar’s Opera und Berthold Brechts Dreigroschenoper. In: Nieberle, Sigrid / Nitschke, Claudia (Hrsg): Gastlichkeit und Ökonomie: Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts, Berlin, 2015, S. 293 - 310, hier S. 297.
21 Dies gilt nicht nur für Angestellte, sondern auch für eigene Familienangehörige, wie sich am Beispiel seiner Tochter noch zeigen lassen wird.
22 Dreigroschenoper, S. 429.
23 Ebd., S. 463.
24 Vgl. ebd., S. 462.
25 Die Mutmaßung aus gehobeneren Schichten, weil andernfalls eine Spende wohl kaum möglich wäre.
26 Vgl. ebd., S. 402f.
27 Ebd., S. 425.
28 Ebd., S. 427.
29 Ebd., S. ebd.
30 Auf sarkastisch humorvolle Weise erkennbar an der ‚Gehaltsverhandlung‘ mit dem neueingestellten Bettler Filch, vgl. ebd., S. 400.