Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse zentraler Kritikpunkte Poppers Platonkritik
2.1. Vorwurf des „Totalitarismus“
2.2. Vorwurf des „Historizismus“
2.3. Vorwurf des „Kollektivismus“
2.4. Vorwurf des „Führerprinzips“
3. Fazit
4. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Platon lässt sich zweifelsfrei als einer der einflussreichsten Philosophen aller Zeiten bezeichnen. Insbesondere sein Dialog Politeia mit der enthaltenen Skizzierung eines Idealstaates gehört zu den bedeutsamsten Werken der politischen Philosophie. Umso erstaunlicher und schwerwiegender erscheint das Urteil, welches Popper in seinem Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde über den antiken Philosophen fällt: In dessen Vision vom Idealstaat erkennt Popper den Ursprung allen totalitären Denkens und bezeichnet Platon als den „ersten großen politischen Ideologen, der in Klassen und Rassen dachte und Konzentrationslager vorschlug.“ Die zentralen Kritikpunkte, auf denen Poppers Resümee über Platon fußt, beinhalten den Vorwurf des „Historizismus“, den Vorwurf des „Totalitarismus“, den Vorwurf des „Kollektivismus“ und den Vorwurf des „Führerprinzips“.
Doch inwiefern ist Poppers Kritik an Platon und dessen Vision eines Idealstaats gerechtfertigt?
Die Beantwortung dieser Fragestellung ist das Ziel der vorliegenden Hausarbeit. Hierbei erweist sich ein qualitativer Forschungsansatz als sinnvoll. Daher werden die genannten Vorwürfe einzeln betrachtet und auf ihre Plausibilität hin analysiert. Poppers Ausführungen zu Platon werden hierbei mit Platons ursprünglichen Aussagen in der Politeia verglichen und in Bezug auf mögliche inhaltliche Fehlinterpretationen und methodische Logikbrüche hin überprüft. Entsprechend bilden Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (I) - Der Zauber Platons und Platons Politeia die Primärquellen dieser Hausarbeit. Die in der Hausarbeit verwendete Sekundärliteratur umfasst Quellen, die sich mit Popper und Platon und den genannten Primärquellen befassen. Hierbei ist insbesondere das Werk von Schölderle zu nennen, welches sich explizit kritisch mit Poppers Platonkritik auseinandersetzt.
2. Analyse zentraler Kritikpunkte Poppers Platonkritik
Um seiner Kritik an Platon Ausdruck zu verleihen, verwendetet Popper unter anderem folgende Termini:
- Totalitarismus
- Historizismus
- Kollektivismus
- Führerprinzip
In den folgenden Unterkapiteln werden diese Begriffe und die mit ihnen verbundenen Vorwürfe erläutert. Anschließend werden die jeweiligen Kritikpunkte auf ihre Plausibilität hin analysiert.
2.1. Vorwurf des „Totalitarismus“
Vor einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Poppers These muss darauf hingewiesen werden, dass der Totalitarismus als Staatsform als ein „politisches Phänomen des 20. Jahrhunderts“ (Schulz 1961: S.117-118) und die Bedeutung des Begriffs als Charakteristikum „des politischen Denkens des [20.] Jahrhunderts“ (Leibholz in Schulz 1961: S.117-118) betrachtet werden muss. Die Begriffsschöpfung ,Totalitarismus‘ beabsichtigt gar eine bewusste Abgrenzung zu prämodernen Begriffen von Herrschaftsformen, da „der neue „totalitäre“ Herrschaftstypus des 20. Jahrhunderts mit Begriffen wie ,Tyrannis‘, ,Autokratie‘ oder ,Diktatur‘ nicht mehr adäquat zu beschreiben sei“ (Schölderle 2010: S.175). Deshalb ist bereits Poppers Übertragung des Begriffs Totalitarismus auf ein Staatskonzept der Antike, formell für sich betrachtet, äußerst fragwürdig und als kritisch zu bewerten.
Die inhaltliche Legitimität seines Totalitarismus-Vorwurfes muss hiervon losgelöst analysiert werden. Platons Staatsphilosophie wird nicht nur von Popper dafür kritisiert, totalitäre Strukturen aufzuweisen. Bloch erkennt in Platons Staatsutopie eine „Tendenz zur totalen, staatlichen Autorität“ (Bloch 1959: S. 562). Auch Crossman sieht Parallelen zwischen totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und der platonischen Staatsutopie. Gleichwohl verweist er jedoch auf die Unvereinbarkeit der Absichten der Nationalsozialisten einerseits und den politischen Zielen Platons andererseits (Crossman 1959: S.17ff). Popper unterlässt bei seiner Totalitarismus-Kritik derartige Eingrenzungen. Gemäß seiner Auffassung ist „Platons politisches Programm [nicht nur] weit davon entfernt, dem totalitärer Systeme überlegen zu sein, [sondern] im Grunde mit ihm identisch “ (Popper 2003, S.106). Durch diese Radikalität der Kritik hebt Popper sich von den genannten Kritikern deutlich ab. Folglich wäre seine Kritik jedoch (im Gegensatz zu den relativierenden Kritiken von Crossman und Bloch) auch nur haltbar, sofern alle wesentlichen, den Totalitarismus charakterisierenden Strukturen auf die platonische Staatsphilosophie zuträfen. In allen anderen Fällen wäre das Prädikat ,im Grunde identisch‘ nicht zutreffend. Popper selbst verzichtet auf eine eindeutige Definition des Begriffs Totalitarismus, was ebenfalls angesichts der Schwere seines Vorwurfes zu kritisieren ist. Daher müssen bei der Analyse seiner Kritik die geläufigen Definitionen des Begriffs ,Totalitarismus‘ betrachtet werden.
Gemäß der Definition von Schubert und Klein bezeichnet "Totalitarismus eine politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt. Totalitäre Herrschaft [...] und unerbittliche Härte werden oft mit existenzbedrohenden (inneren oder äußeren) Gefahren begründet[...]. Insofern stellt der Totalitarismus das krasse Gegenteil des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates und des Prinzips einer offenen, pluralen Gesellschaft dar" (Schubert und Klein, 2006 S. 289). Diese Definition von Totalitarismus ließe sich tatsächlich im Wesentlichen auf die platonische Staatsideologie übertragen:
Das für Platon feststehende und durch ihn vorgegebene politische Ziel ist die Gerechtigkeit (für alle Staatsbürger). Gemäß der Idiopragieformel wird diese Gerechtigkeit in Platons Konzept erreicht, indem alle zum Herrschen ungeeigneten Staatsbürger sich auf ihre vorbestimmten Rollen in Platons 3- Stände-Gesellschaft beschränken und (im eigenen Interesse) dem zum Herrschen geeigneten Stand uneingeschränkt jegliche Herrschaftsgewalt übertragen (Platon 433a). Andernfalls gäbe es nach Platon „kein Ende der Übel für die Staaten und [...] auch nicht für die Menschheit.“ Zudem warnt er vor der Gefahr der „übergroßen Freiheit“ (Platon 564a) offener, pluraler Gesellschaftsformen wie der Demokratie, die „offenbar in nichts anderes [umschlägt] als in übergroße Knechtschaft - sowohl beim Einzelnen, wie beim Staate“ (Platon 564a).
Da jeder einzelne Aspekt vorheriger Definition übertragbar auf Platons Staatsvorstellung ist, erscheint Poppers Totalitarismuskritik zunächst auch in Ihrer Schärfe legitim. Dies ändert sich bei der Betrachtung der weitaus differenzierteren Definition des Totalitarismusbegriffs von Carl Friedrich und Zbigniew Brzezinski: Sie definieren Totalitarismus als ein „Herrschaftssystem, das durch
[1.] eine allumfassende Ideologie,
[2.] eine einzige, auf diese Ideologie festgelegte Partei,
[3.] eine vollentwickelte Geheimpolizei,
[4.] die Kontrolle aller Massenkommunikationsmittel,
[5.] das Monopol über die Kampfwaffen und
[6.] die zentrale Lenkung der Wirtschaft bestimmt ist“ (Adam 1975: S.59).
Bewertet man den totalitären Charakter der platonische Staatstheorie anhand dieser Kriterien, wirkt Poppers Vorwurf weitaus weniger zutreffend. Einzig das erste Kriterium der allumfassenden Ideologie lässt sich uneingeschränkt auf Platons Staatskonzept übertragen. Zudem könnte man eingeschränkt das zweite Kriterium, einer einzigen festgelegten (Staats-)Partei, auf Platons Staatskonzept projizieren, sofern man den Begriff der Partei vernachlässigt bzw. hierunter nicht eine Organisation von Menschen gleicher politischer Interessen begreift, sondern eine selektierte und als einzige zum Herrschen legitimierte Gruppe von Staatsbürgern. Denn auch in Platons 3-Stände-Modell sind nur die (dem Lehrstand zugehörigen) Philosophen zum Herrschen geeignet und alternativlos die einzige, festgelegte (legitime) Regierungs-Instanz. (Die Kritikpunkte dieses Prinzips werden im Kapitel 2.4 dieser Hausarbeit analysiert.)
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