Schuld, Schicksal, Götterwille

Die Darstellung der Dido-Minne im Eneasroman Heinrichs von Veldeke


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

29 Seiten, Note: 2.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Veldekes Eneasroman: Entstehungsgeschichte und Quellen

3. Dido und ihr tragisches Ende: Schuld, Schicksal oder Götterwille?
3.1 Die Beziehung zwischen Dido und Eneas
3.2.Die Minne-´Krankheit´ der drei Liebenden im Vergleich
3.2.1 Dido
3.2.2 Eneas
3.2.3 Lavinia
3.3 Die Frage nach der Verantwortung
3.3.1 Didos Schuld
3.3.2 Eneas´ Schuld

4. Schlussbetrachtung

5. Literatur

Primärliteratur:

Sekundärliteratur:

1. Einleitung

Liebesromane, -gedichte, -filme, unzählig sind heutzutage die Auseinandersetzungen mit dem Thema Liebe. Selbst die Werbung, deren Aufgabe es ist, zum Konsum zu verleiten, benutzt Liebessymbole, um die Leute anzusprechen. Kaum ein Thema berührte Menschen über Jahrhunderte, ja Jahrtausende so sehr. Die Faszination der Kraft, die aus diesem Gefühl entspringen kann, aber auch das Zerstörungspotential, das in nicht erfüllter oder verratender Liebe liegen kann, wird immer wieder thematisiert. Allein die Auseinandersetzungen und Verarbeitungen in Literatur und Theater sind unzählig, besonders die unglückliche Liebe fesselt Publikum und Leser. Beliebt ist die Liebe zweier Menschen, die an den äußeren Umständen in der Gesellschaft oder der Familie scheitert wie beispielsweise Romeo und Julia - Shakespears Werk erfreut sich auch heute noch solcher Beliebtheit, dass es immer wieder verfilmt wird. Der Selbstmord des Liebenden aus nicht erwiderter Liebe wird auch gerne thematisiert, man denke an Goethes Werther. Im Mittelalter erfährt die Liebe mit der Minnedichtung besondere Beachtung und wird zum Thema einer ganzen Stilrichtung. Auch in Heinrichs von Veldeke deutschen Fassung des Eneasromans ist die Minne das zentrale Thema. Mit der Problematik der Dido-Geschichte wird das Bedürfnis der Leser/ Zuhörer nach einer tragischen Liebesgeschichte bedient, denn es wird das Schicksal einer unglücklich Verliebten, die sich schließlich vor Verzweiflung selber umbringt, erzählt.

Veldeke, der vielen als Gründer der deutschsprachigen höfischen Dichtung gilt, orientiert sich in seiner Fassung sehr an der Vorlage eines französischen Zeitgenossen. So sieht Kartschoke Veldekes Eneasroman als „keine große Dichtung“, hebt jedoch hervor, „als Gründungsleistung für die höfische Erzählkunst in deutscher Sprache (ist) er jedoch von kaum zu überschätzender Bedeutung.“ Die Geschichte von Dido und Eneas hat schon in der ´Aeneis´, der antiken Fassung Vergils, besondere Beachtung verlangt. Betont wird hier v.a. die Problematik zwischen menschlichen Gefühlen und Bedürfnissen und göttlicher oder schicksalhafter Lenkung. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen Eneasromanen sind Eneas und Dido als Liebespaar dargestellt. In den Eneasromanen des Mittelalter folgt nach der unglücklichen Liebe zwischen Eneas und Dido eine zweite glückliche Liebe, zwischen Eneas und Lavinia, seiner von den Göttern vorbestimmten Frau. In der ´Aeneis´ wird Lavinias Hand hingegen mit dem Reich vergeben, eine Liebesgeschichte zwischen Eneas und Lavinia wird nicht erwähnt, Eneas hat sich in der antiken Fassung gegen die Liebe und für Macht und Göttergebot entschieden.

Ein mittelalterliche französischer Unbekannter, Autor von Heinrichs von Veldeke direkter Vorlage, war es, der in der Dido-Problematik diese neuen Akzente setzte. In seiner Version findet Eneas seine wahre Liebe erst mit Lavinia, der ihm vorbestimmtem Frau. Eneas trifft auf sie, nachdem er Dido auf Götterwunsch hin verlassen hat. Der ursprüngliche antike Heldenroman wird so mehr zu einer Liebesgeschichte, denn die Minnethematik gewinnt an Ausmaß. „Das maßgeblich Neue am `Roman d´Eneas´ lag an der Verbindung von Vergil und Ovid, den beiden Autoritäten des 12. Jahrhunderts, wodurch er aus der Aeneis einen Liebesroman machte.“[1] Zwar fehlen Kämpfe und Kriege auch in seiner Fassung nicht, die Minnethematik aber gewinnt gegenüber den antiken Quellen an Bedeutung.

In der folgenden Arbeit sollen die Gründe für Didos Scheitern näher untersucht werden. Zentral ist dabei die Frage, warum ist Dido in ihrer Liebe unglücklich, während Eneas und Lavinia ihr Glück genießen dürfen. Worin liegen die Unterschiede in der Beziehung der beiden Paare? Lieben sie anders, ist das Problem also die Art der Liebe? Oder ist Didos Liebe von Anfang an zum Scheitern verurteilt, da Eneas Schicksalserfüllung in der Gründung eines neuen Geschlechts in Latium liegt? Dies ist sicher ein wichtiger Punkt, denn er erklärt das mittelalterliche Interesse am Eneas stoff schon fast ausreichend. Für die Legitimation mittelalterlicher Herrschaftsansprüche hat die translatio imperii, also die „Übertragung, Weitergabe und Fortführung der Herrschaft vom Römischen an das ... Deutsche Reich“ und damit der Verbindung des „mittelalterlichen Reich(s) an Rom als das letzte der vier biblischen Weltreiche“ weitreichende Bedeutung.[2] Die eigenen Geschichte steht also in direktem Bezug zur Gründung des römischen Reiches. Die besondere Bedeutung von Eneas für das mittelaterliche Geschichtsverständnis wird außerdem durch genealogische Modelle begründet, also „der Herleitung der eigenen Dynastie, des eigenen Volkes, der eigenen Stadt von angeblich antiken Vorfahren, die an der Spitze der eigenen Genealogie stehen. Urbild ist der Romgründer Aeneas.“[3]

Liegt also der Grund für Didos Scheitern vielleicht nicht so sehr an der Art ihrer Liebe? Hätte Dido sich prinzipiell gar nicht auf Eneas einlassen dürfen, weil sie von seiner eigentlichen Aufgabe weiß und sich so gegen den ausdrücklichen Wunsch der Götter stellt? Ist Dido also selber Schuld an ihrem Untergang? Oder ist sie durch die Macht der Liebe, die ihr von den Liebesgöttern aufgezwungen wird, gar nicht mehr fähig, Verantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen? Diese Fragen implizieren die Problematik der heidnischen Götter im Werk eines christlichen Autors. Inwieweit behält Veldeke die Macht der Götter bei und wo versucht er sie aus dem Geschehen herauszuhalten? Lässt sich die Handlungsmotivation der Protagonisten allein aus dem göttlichen Willen oder ihrer schicksalhaften Vorbestimmung erklären oder haben sie Handlungsalternativen? Im Folgenden geht es also zum Einen darum zu zeigen, inwieweit Dido ihr Schicksal selbst zu verantworten hat und sie durchaus Einfluss auf das Geschehen hat, zum Anderen soll gezeigt werden, inwieweit sie der Macht der Götter und der schicksalhaften Vorbestimmung ihres Geliebten zum Opfer fällt. Die folgende Untersuchung richtet sich also an der Frage aus: Hat Dido Schuld an ihrem Untergang oder ist sie Opfer höherer Mächten?

2. Veldekes Eneasroman: Entstehungsgeschichte und Quellen

Bei der Bearbeitung des Eneasstoffes orientiert Veldeke sich laut seiner Selbstauskunft größtenteils an dem zeitgenössischen französischen Werk eines unbekannten Autors, dem ´Roman d´ Eneas´, der etwas vor Veldekes Eneas entstanden ist, etwa in der Zeit zwischen 1155 und 1160[4] und der eine direkte Bearbeitung von Vergil ist. „Das Verhältnis von Vergils ´Aeneis´ zum ´Roman d´Eneas´ und Veldekes ´Eneide ´ ist eindeutig“, wie Kurt Ruh schreibt, „die ´Aeneis´ ist unmittelbare Quelle des französischen Romans – also ohne Zwischenstufen einer spätlateinischen Prosafassung - und dieser Quelle von Veldekes Dichtung.“[5] Da Veldeke in seinem Epilog selber Angaben zur Entstehung des Eneas macht und ansonsten eine Datierung schwierig ist, orientiert man sich bei der zeitlichen Einordnung größtenteils an den von ihm genannten Anhaltspunkten. Auch Veldeke selber „ist uns als Person so wenig greifbar wie alle volkssprachigen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts. Was wir über sie zu wissen glauben, ist das Ergebnis gewagter Kombination ihrer spärlichen Selbstaussagen, philologischer Tatbestände und literahistorischer Zusammenhänge mit außerliterarischen Fakten und Daten.“[6] Über die Entstehungszeit seines Eneasromans gibt Veldeke an, seine Vorlage, den ´Roman d´Eneas´ des französischen Anonymus, an die Gräfin von Kleve verliehen zu haben, deren Dienstmädchen er dann gestohlen wurde. Da Veldeke seine Vorlage erst neun Jahre später wieder in den Besitz bekommt, muss er in der Zwischenzeit eine Zwangspause im Schreiben einlegen.[7] Kurt Ruh grenzt aufgrund dieser Angaben die Schaffensperiode Veldekes auf die Zeit vor 1174 und nach 1183 ein.[8]

Veldeke arbeitet jedoch nicht ausschließlich mit dem französischen Roman, auch wenn er ihm in großen Teilen recht genau folgt, sondern greift auch selbstständig auf die antike Vorlage Vergils zurück, wobei jedoch die meisten Änderungen der antiken Vorlage bereits von dem Franzosen vorgenommen wurden. Elisabeth Lienert schreibt hierzu: „Außer auf den ´Roman d´Eneas´ hat Veldeke ... auch auf antike Nebenquellen, Vergils ´Aeneis´ sowie den ´Aeneis´-Kommentar des Servius und die Werke Ovids, direkt zugegriffen, jedoch eher okkasionell als durchgängig. ... Insgesamt scheint Veldeke dem ´Roman d´Eneas´jedoch in Inhalt, Struktur und Konzeption recht genau zu folgen. Die gravierendste Abweichung von Vergil geht bereits auf den französischen Anonymus zurück.“[9] So änderte dieser Vergils Form des Kunstepos, der ordo artificialis, in der mitten im Geschehen mit der Erzählung begonnen wird und die Vorgeschichte dann nacherzählt wird, zur strikten ordo naturalis, in der die Geschichte von ihrem Beginn an, hier die Belagerung Trojas, dem natürlichen Ablauf folgend, wiedergegeben wird.[10]

Nicht nur Vergil, auch Ovids Werke waren dem mittelaterlichen Dichter bekannt. Die Beschreibung der Minne als Krankheit stammt beispielsweise aus der Ovid-Rezeption.[11]

Veldeke muss eine klerikale Ausbildung genossen haben, da ihm die lateinischen Texte bekannt und zugänglich waren und er darüber hinaus des Französischen mächtig war – was im 12.Jahrhundert nur durch geistige Bildung möglich war. Vemutlich stammt Veldeke aus dem niederdeutschen Sprachraum, aber geschrieben hat er auf hochdeutsch, so dass „für die Sprache des Eneas ... die Technik des neutralen Reims, die den Text überregional rezipierbar macht“ kennzeichnend ist.[12] Dies führt „stilisitisch ... zur Reimarmut und insgesamt zu einer gewissen Monotonie.“[13]

Die Bearbeitung antiker Stoffe war im Mittelalter üblich, es gab sie „in der volkssprachlichen Literatur des europäischen Mittelalters etwa vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Eine Schlüsselstellung und Vorreiterrolle nehmen, wie bei allen Gattungen der mittelalterlichen höfischen Literatur, die altfranzösischen Antikenromane ein.“[14] Aus der antiken Dichtung übernommenen Stoffe wurden den mittelaterlichen Verhältnissen angepasst, sie wurden mediaevalisiert. Auch der Eneasroman ist keine Übersetzung des lateinischen Textes, sondern eine Anpassung an die mittelalterlichen Verhältnisse und Vorstellungen. Einiges hat bereits der französische Autor verändert, aber auch Veldeke setzt bei der Bearbeitung noch einmal eigene Akzente. Dabei steht die „grundsätzliche Historizität der antiken Stoffe ... für das Mittelalter ... außer Frage; das gilt nicht nur für den historisch belegten Herrscher Alexander, auch für die Stoffe, die heute eher als Mythen bezeichnet würden.“[15] Das Interesse an der Antike zur Zeit Veldekes ist nicht identisch mit unserem heutigen Geschichtsverständnis, denn es geht nicht darum, „der Antike in ihrer historischen Besonderheit gerecht zu werden“.[16] Dem mittelalterlichen Selbstverständnis gilt „die Antike gilt als Wurzel der eigenen Kultur und der eigenen Macht.“[17] Die derart begründetet Motivation eines mittelaterlichen Dichters, sich dem antiken Stoff anzunehmen und sie an das mittelalterliche Denken anzupassen, erscheint einleuchtend. Gerade der Eneasstoff hat mit Eneas als Gründungsvater Roms und der Idee der translatio imperii das besondere Interesse für eine mittelalterlichen Bearbeitung geweckt – ist Eneas aus dieser Sicht doch ein direkter Vorfahre. Gerade Herrschaftsansprüche werden im Mittelalter gerne durch

solche „genealogische Ansippung“ und „Anbindung an die antiken Weltreiche“ legitimiert.[18]

3. Dido und ihr tragisches Ende: Schuld, Schicksal oder Götterwille?

3.1 Die Beziehung zwischen Dido und Eneas

Eneas, mit einigen Gefolgsleuten aus dem brennenden Troja geflohen, landet nach sieben Jahren auf hoher See[19] schließlich in Karthago, wo die mächtige Herrscherin Dido regiert. Das Schicksal der beiden gleicht sich sehr - selber einmal vor ihrem eigenem Bruder auf der Flucht, nachdem dieser ihren Mann ermordet hat, muss Dido in Karthago ein neues Leben beginnen; genau wie Eneas jetzt.[20] In der Aeneis von Vergil sind Dido und Eneas noch mehr „als ebenbürtige Charaktere gestaltet“, so dass „die Liebe zwischen Dido und Aeneas motiviert, gewissermaßen sogar prädestiniert“ ist: „Beide entstammen fürstlichem Geschlecht, und stehen an der Spitze ihrer Völker, beide hat ein grausames Schicksal zu Flüchtlingen gemacht und ihrer Ehegatten beraubt.“[21]

Bei Veldeke erwirbt Dido sich „listichlîchen“ neues Land und baut ihre Macht aus, bis sie schließlich Königin ist. Dido wird nicht nur als klug, sondern auch als reich[22] beschrieben. Sie unterwirft ganz Libyen[23] und alle sind ihr untertan[24], so dass sich keiner traut, sich ihr zu widersetzen.[25] Karthagos Macht ist also recht groß, als die Flüchtlinge ankommen, die Stadt wird überdies als uneinnehmbar beschrieben.[26] Gastfreundlich und zuvorkommend werden sie empfangen und ohne Eneas je gesehen zu haben, verspricht Dido seine Leuten schon einen angenehmen Aufenthalt.[27] Da sie selber schon heimatlos war, bietet sie ihnen sogar an, für immer zu bleiben und von ihr Land und Leute zugeteilt zu bekommen.[28] Durch die Macht der Liebesgötter wird Dido von der Liebe zu Eneas ergriffen und kann fortan an nichts anderes denken als an ihn. Ihr ganzes Denken dreht sich um ihn, sie isst und trinkt nichts, schläft Nachts nicht , ihr wird heiß und kalt, kurz: es geht ihr schlecht. Ihr durch diese Minne verursachtes Leiden steigert sich von Tag zu Tag, ohne das sie von Eneas die erwünschte Reaktion erhält. In dieser unhaltbaren Situation vertraut Dido sich schließlich ihrer Schwester Anna, die sie tröstet und ihr Mut zuspricht, denn sie ist überzeugt davon ist, dass jeder Mann gerne der von Dido erwählte wäre.[29] Annas Aufforderung, ihr den Namen des Glücklichen zu nennen, kann Dido aus Schmerz und Scham nicht gleich Folge leisten, sie buchstabiert ihn – ähnlich wie später Lavinia. Anna lobt Eneas in hohen Tönen[30] und vertritt die Meinung, Dido haben eine wunderbare Wahl getroffen.[31] Die Frauen verabreden, herauszufinden, was Eneas für Dido empfindet: vielleicht liebt er sie auch und vermag es nur nicht zu zeigen? Schließlich äußert Anna die Vermutung, Eneas Landung in Karthago sei kein Zufall sondern Götterwille,[32] worin sie sich getäuscht hat, denn Eneas hat trotz des wunderbaren Empfangs und dem angenehmen Leben in Karthago zu keiner Zeit die Absicht, da zu bleiben und auf die Ehre zu verzichten, die er durch die Fahrt nach Italien erlangen könnte. Allerdings hat er nicht den Mut, Dido diese Pläne zu verraten, so dass deren Hoffnung, er könne für immer bleiben, durchaus berechtigt zu sein scheint.[33]

Da durch die Zeit des Wartens Didos Sehnsucht nach Eneas und seiner Liebe immer stärker wird und von ihm keinerlei Initiative ausgeht, heckt die verzweifelt verliebte Frau schließlich einen Plan aus. Sie versucht, die Erfüllung ihrer Liebessehnsucht durch eine gemeinsame Nacht zu erreichen[34] und lässt aus diesem Grunde eine Jagd ausrufen. Als ein Gewitter aufkommt und Eneas und Dido sich unter einen Baum retten müssen, kommt es zur von Dido so lang ersehnten Liebesbegegnung.[35] Obwohl Dido sich nichts sehnlicher gewünscht hat und alles darauf angelegt hat, in diese Situation zu kommen, sträubt sie sich anfangs gegen seine Annäherungsversuche, lässt es dann allerdings willig geschehen. Eneas deutet ihre formale Abwehr auch richtig und nimmt sich, was er begehrt.[36] Zwar hat Dido nun endlich bekommen, was sie wollte, aber richtig glücklich ist sie dennoch nicht. Auf dem Heimweg ist sie innerlich zerrissen über dem Zwiespalt, dass endlich geschehen ist, was sie so schrecklich lange ersehnt hat, sie aber gleichzeitig seinem Drängen zu schnell nachgegeben hat. Durch ihre Hingabe an Eneas hat sie Schande auf sich gezogen.[37] Um diese Schande, über die sie sich sehr wohl im Klaren ist, zu überspielen, gibt sie sich nun offen als seine Frau aus und macht ein großes Fest, eine „michel hôzît“.[38]

Die Grafen und Landesherren, die sich nach dem Tod ihres Mannes um sie bemüht haben und die sie alle mit dem Verweis auf ihr Treueversprechen gegenüber ihrem toten Mann abgewiesen hat, sind entrüstet über ihre Verbindung mit dem vertrieben und landlosen Trojaner.[39]

Die beiden leben ihr Liebesleben in vollen Zügen aus und genießen ihre Zweisamkeit. Aber nicht nur in dieser Hinsicht geht es Eneas sehr gut in Karthago, durch die Verbindung mit Dido gewinnt er auch noch viel Macht und Einfluss[40] - er, der landlose Flüchtling - der Neid der anderen Männer wird verständlich. Das Glück der beiden dauert nicht lange, die Götter mischen sich wieder ein und erinnern Eneas an seinen eigentlichen Auftrag. Er ist nicht von Troja losgezogen, um es sich in Karthago gemütlich zu machen, ihm kommt die weltgeschichtlich bedeutsame Aufgabe zu, in Italien ein neues Geschlecht zu gründen. Für den Fall, dass Eneas zögern sollte, drohen die Götter ihm gleich mit dem Verlust seines Leben.[41] Eneas wagt eine solchen Widerstand auch gar nicht erst.[42] Da ihm klar ist, dass Dido ihn nicht einfach so ziehen lassen würde und sehr traurig über seinen Verlust sein würde, versucht er sich heimlich abzureisen.

Indessen hat Dido nicht die leiseste Ahnung von dem Geschehen und rechnet somit in keiner Weise damit, von Eneas so schmählich im Stich gelassen zu werden.[43] Als sie von den heimlich getroffenen Abreiseplänen erfährt, ist sie wie von Sinnen und zutiefst verzweifelt über die Gemeinheit ihres Geliebten, der sich heimlich wie ein Dieb davon zu stehlen gedenkt und sie schutzlos dem Spott und Hass des Volkes preisgibt.[44] Eneas beteuert ihr gegenüber, dass er gegen seinen Willen weg müsse und auch ihm der Abschied schwer falle und weh tue,[45] aber das Gebot der Götter zwinge ihn.[46] Durch ihre verzweifelte Rede vom Mitleid gepackt, versucht Eneas sie nochmals mit der Beteuerung zu trösten, sie keinesfalls freiwillig zu verlassen.[47] Seine Reise in eine unbekannte Zukunft locke ihn wenig, bleibe doch ungewiss, ob er je wieder so gute Freunde finden werde.[48] Außerdem habe er niemals eine treue und liebevollere Frau als sie kennengelernt[49]. Dido weist seine Worte jedoch zurück mit der Begründung, dieser Trost würden ihr nun auch nichts mehr bringen[50] und kündigt ihren Selbstmord an.[51] Daraufhin drückt er zwar sein Verständnis für diesen Gedanken aus[52], versucht aber, sie davon abzubringen, indem er darauf verweist, wie jung sie doch sei.[53] Die Verantwortung für ihr weiteres Leben läge bei ihr allein.[54] In ihrer Wut und Enttäuschung hat die verzweifelte Dido kein Ohr für derartige Beteuerungen, sein Weggehen ist für sie ein Zeichen seines Hasses und nicht seiner Liebe.[55] In Folge bereut sie alles, was sie ihm je Gutes getan hat, all ihre selbstlosen Taten und ihre vielen Geschenke.[56]

[...]


[1] Kistler, Renate: Heinrich von Veldeke und Ovid, Tübingen, 1993, S.30

[2] Lienert, Elisabeth: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin, 2001, S.15

[3] Ebd, S.15

[4] Siehe: Fromm, Hans, : Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke (1978), in: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen, 1989S.87

[5] Ruh, Kurt: höfische Epik des deutschen Mittelaters, erster Teil: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin, 1967, S.73

[6] Kartschoke, Dieter: Nachwort zu Veldeke, Heinrich: Eneasroman, Stuttgart, 2007, S.845

[7] Veldeke, Heinrich von: Eneasroman, Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Kartschoke, Dieter, Stuttgart, 2007, V.13435-13480

[8] Siehe: Ruh, Kurt, S.73

[9] Lienert, Elisabeth, S.78

[10] Kartschoke, Nachwort, S.870

[11] Bei der Untersuchung von Didos Minne bei Veldeke ist es unerlässlich, auch die Dido-Konzeptionen seiner Vorlagen hinzuzuziehen, da Änderungen durch Veldeke wichtige Schlüsse in Bezug auf die Interpretation zulassen. Hierbei stütze ich mich jedoch weitgehend auf Angaben der Sekundärliteratur.

[12] Lienert, Elisabeth S.77

[13] Ebd, S.77

[14] Ebd, S.10

[15] Ebd, S.10

[16] Ebd S.15

[17] Ebd, S.15

[18] Ebd, S. 15

[19] Veldeke, Heinrich von, V.177-181

[20] Ebd, V.52-533

[21] Kistler, Renate, S.97

[22] Veldeke, Heinrich von, V.342

[23] Ebd, V. 344-347

[24] Ebd, V. 370-371

[25] Ebd, V.349-351

[26] Ebd, V.383-386

[27] Ebd, V.548-572

[28] Ebd, V.542-547, V.708-709

[29] Ebd, V.1477-1479

[30] Ebd, V.1534-1547

[31] Ebd, V.1550

[32] Ebd, V.1551-1552

[33] Ebd, V.1619-1630

[34] Ebd, V.1664-1665

[35] Ebd, V.1832-1833

[36] Ebd, V.1846-1855

[37] Ebd, V.1912

[38] Ebd, V.1911

[39] Ebd, V.1947

[40] Ebd, 1954-1957

[41] Ebd, V.1964

[42] Ebd, V.1971

[43] Ebd, V.1995-1997

[44] Ebd, V.2027

[45] Ebd, V. 2028-29, 2064-6

[46] Ebd, V. 2031

[47] Ebd, V. 2054-55

[48] Ebd, V. 2056-59

[49] Ebd, V 2060-63

[50] Ebd, V. 2067-2070

[51] Ebd, V. 2090-2091, 2092-2096

[52] Ebd, V.2098-2099

[53] Ebd, V:2102-2105

[54] Ebd, V.2108-2109

[55] Ebd, V. 2111-2119

[56] Ebd, V.2121.2122

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Schuld, Schicksal, Götterwille
Untertitel
Die Darstellung der Dido-Minne im Eneasroman Heinrichs von Veldeke
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Deutsches Seminar)
Veranstaltung
Heinrich von Veldeke: Eneasroman
Note
2.3
Autor
Jahr
2008
Seiten
29
Katalognummer
V121946
ISBN (eBook)
9783640267231
ISBN (Buch)
9783640267439
Dateigröße
483 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schuld, Schicksal, Götterwille, Eneasroman, Eneas, Heinrich von Veldeke, Mittelalter, Mediävistik, Antikenroman, Dido, Lavinia, Minne, höfische Dichtung
Arbeit zitieren
Lydia Kanngießer (Autor:in), 2008, Schuld, Schicksal, Götterwille, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/121946

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