Das Tagelied bei Wolfram von Eschenbach und dem Marner


Bachelorarbeit, 2007

49 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das mittelhochdeutsche Tagelied

3. Die Dichter
3.1 Wolfram von Eschenbach
3.2 Der Marner

4. Die Tagelieder des Marners
4.1 Ton II
4.1.1 Formanalyse
4.1.2 Interpretation
4.2 Ton III / Guot wahter wis
4.2.1 Formanalyse
4.2.2 Interpretation

5. Das Tagelied bei Wolfram von Eschenbach
5.1 Den morgenblic
5.1.1 Formanalyse
5.1.2 Interpretation
5.2 Ez ist nu tac
5.2.1 Formanalyse
5.2.2 Interpretation
5.3 Sine klawen
5.3.1 Formanalyse
5.3.2 Interpretation

6. Vergleichende Betrachtung der Lieder

7. Abschluss

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Tageliedern Wolframs von Eschenbach und des Marners. Der Typus des Tageliedes soll in diesem Rahmen anhand ausgewählter Lieder der beiden Autoren nachvollzogen werden. Der Tageliedzyklus Wolframs von Eschenbach, der weitläufig als Epiker größere Berühmtheit erlangt hat, denn als Lyriker, umfasst fünf Lieder, von denen die Werke Den morgenblic, Sine klawen und Ez ist nu tac hier detailliert betrachtet werden sollen. Im Repertoire des Marners, der vor allem als Sangspruchdichter bekannt ist, finden sich lediglich zwei Tagelieder, die Töne I und II, die beide in die Untersuchung einbezogen werden. Ausgehend von einer kurzen inhaltlichen Darstellung sollen die genannten Lieder hinsichtlich ihrer Form und ihrer Intention beziehungsweise Bedeutung analysiert werden. Über allen Überlegungen soll dabei die Frage nach Gemeinsamkeiten oder Unterschieden in der Tagelieddichtung der zwei Autoren stehen. Gibt es eine einheitliche Form? Lassen sich charakteristische Abweichungen in der Aussage der Lieder feststellen? Kann man vielleicht sogar intertextuelle Bezüge zwischen dem Werk des Marners und Wolframs ausmachen? Um einen Vergleich der beiden Tageliedkorpora anstellen zu können, muss zunächst das Schaffen jedes Autoren für sich genau betrachtet werden. Neben der übergeordneten Frage nach Übereinstimmungen und Variationen zwischen den beiden Tageliedzyklen, soll also auch die Binnenkongruenz der Lieder jedes einzelnen Oeuvres untersucht werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf dem Auftreten und der Funktion der Figur des Wächters liegen. In diesem Zusammenhang stellt sich weiterführend die Frage nach der Relevanz der weit verbreiteten These, Wolfram habe diesen Charakter in das Genre des Tageliedes eingeführt.

Als Textgrundlage dieser Arbeit dienen die Sammlungen von Peter Wapnewski[1] und Philipp Strauch[2].[3]

2 Das mittelhochdeutsche Tagelied

Das mittelhochdeutsche Tagelied des klassischen Minnesangs verfügt über eine relativ einheitliche Ausgangssituation. Es beginnt damit, dass ein Liebespaar nach einer gemeinsam verbrachten Nacht geweckt wird. Dies geschieht meistens durch den Ruf eines Wächters. Dem Tagelied stehen also drei Personen zur Verfügung, die Dame, ihr Liebhaber - meist ein Ritter - und der Wächter. Nicht jede der Personen muss aber in einem Tagelied zu Wort kommen. Die Problematik des Tageliedstoffes liegt darin, dass das Liebespaar eine geheime und von der Öffentlichkeit nicht geduldete Beziehung führt. Auffallend ist jedoch, dass gerade diese Bedrohung von außen im Lied nicht präzise genannt wird. Die Institutionen der ‚huote’ oder ‚merker’, die in der Minnekanzone häufig erwähnt werden, tauchen hier höchst selten namentlich auf.

Die verbotene Liebe wird von dem Paar als Erfüllung betrachtet und somit fällt ihm die anstehende Trennung bei Morgengrauen sehr schwer. Dieser Umstand wird von dem Paar oder auch nur von einer Person im Tagelied beklagt. Dies kann in Dialogform mit dem Wächter geschehen, insgesamt stehen dem Tageliedschreiber aber unzählige Variationen der Gesprächskonstellation zur Verfügung. Festzuhalten ist jedoch, dass meist der Anteil der Dame über dem Sprechanteil des Ritters überwiegt. Ihr wird oftmals die Rolle der Klagenden zugewiesen. Allen Figuren ist allerdings gemein, dass sie in den meisten Fällen anonym bleiben, das heißt, es werden weder Dame noch Ritter namentlich erwähnt.

Die Ausgangssituation des Tageliedes unterstellt eine Erfüllung der Liebe in der vorangegangenen Nacht. Hier unterscheidet sich das Tagelied deutlich von der Minnekanzone, in welcher die unerfüllte Liebe im Mittelpunkt steht. Das heißt, dass im Tagelied zum einen eine Erfüllung auf erotischer Ebene eintritt und zum anderen die Liebe hier von beiden Seiten erwidert zu sein scheint, während in der Minnekanzone die Liebe allein von Seiten des Mannes ausgeht.

In der Forschung existieren verschiedene Theorien, die erklären wollen, warum die Form des Tageliedes, mit ihrer erotischen Aufgeschlossenheit, neben der Form des klassischen Minnesangs ihren Platz gefunden hat. Eine weitverbreitete Argumentationsweise ist, dass das Tagelied eine Art Sublimierung oder Kompensation zur weniger erotischen Minnekanzone darstelle. In diesem Zusammenhang wird auch häufig von einer Ventilfunktion gesprochen. Das hieße also, dass die erotische Spannung des Tageliedes dem zeitgenössischen Publikum eine willkommene Abwechslung zur „prüden“ Minnekanzone gewesen wäre.[4] Derlei Theorien können allerdings nicht eindeutig bestätigt werden.

Zusammenfassend scheint es sinnvoll, die vier Voraussetzungen für ein Tagelied nach Behr zu nennen. Demnach zählen zur Gattung der Tagelieder strenggenommen nur solche Lieder, die „die Trennung der Liebenden nach gemeinsam und heimlich verbrachter Nacht“ thematisieren, bei denen außerdem die „erzählte Zeit durch Textelemente eindeutig als Tagesanbruch ausgewiesen ist“ und in denen mindestens zwei Personen vorkommen[5]. Des Weiteren nennt Behr als Voraussetzung, dass es sich bei dem Ort der Handlung um das Schlafgemach der Dame handelt. Allerdings scheint der Ort des Geschehens nicht immer aus dem Text hervorzugehen.

Formal bestehen Tagelieder meistens aus drei Strophen, welche die dreistufige Abfolge von Erwachen, Klage und Abschied darstellen. Das Reimschema ist oftmals das klassische Kanzonenschema. Dieses besteht aus einem Aufgesang, der zwei metrisch gleich gebaute Stollen umfasst und einem Abgesang.

3 Die Dichter

Mehrere Parallelen verbinden die beiden Dichter, deren Tageliedkorpora Ausgangspunkt dieser Arbeit sind. Ihre Schaffensperioden folgen, betrachtet man ihre datierten Werke, relativ nah aufeinander. Knoop zählt Wolfram zu den frühen Tagelieddichtern Ende des 12., Anfang des 13. Jahrhunderts. Den Marner fasst er in eine nächste Gruppierung - die folgende Generation der Tageliedverfasser Mitte des 13. Jahrhunderts.[6] Über das Leben beider Dichter ist nicht viel mehr überliefert, als dass sie an verschiedenen Höfen ihrer Dichtung nachgingen. Und es gibt eine weitere Gemeinsamkeit; sowohl Wolfram als auch Marner sind nicht durch ihre Minnelyrik, insbesondere nicht durch ihre Tagelieder berühmt geworden, da diese anteilig nur einen kleinen Teil ihres Oeuvres ausmachen. Im Folgenden soll ein kurzer Abriss über die Umstände ihres literarischen Schaffens gegeben werden.

3.1 Wolfram von Eschenbach

Über die Person und die Geschichte Wolframs von Eschenbach ist nur sehr wenig bekannt. Seine Lebenszeit wird ungefähr auf den Zeitraum zwischen 1170 und 1220 datiert. Als Geburtsort gilt die Gemeinde Obereschenbach bei Ansbach in Bayern, die seit 1918 auch den Namen Wolframs-Eschenbach trägt. Hier wurde er nach seinem Tod beigesetzt. Es scheint jedoch so, als hätte Wolfram Zeit seines Lebens an mehreren verschiedenen Höfen und Orten gearbeitet. Er gilt allerdings nicht als ein ständig umherziehender Sänger wie Walther von der Vogelweide. Nichtsdestotrotz zählt Wolfram von Eschenbach neben Walther zu den wichtigsten und bekanntesten Dichtern des deutschen Mittelalters. Bekannter als seine Tagelieddichtung ist Wolframs Epik. Von ihm sind die Werke Parzival, Titurel und Willehalm überliefert.[7]

3.2 Der Marner

Ähnlich wie bei Wolfram von Eschenbach, ist auch das Leben und Schaffen des Marners urkundlich kaum bezeugt. Sicher ist, dass er im 13. Jahrhundert ein bekannter Sangspruchdichter war und sowohl deutsche als auch lateinische Lieder verfasste, was von einer relativ guten Ausbildung zeugt. Aus welchem Umfeld er stammte, beziehungsweise welchem Stand er angehörte, ist jedoch nirgends überliefert.

Die Mutmaßungen über die Person des Marners reichen sehr weit und beginnen bereits bei seinem Namen. Man streitet darüber, ob es sich dabei um einen Geschlechtsnamen oder aber um eine Ableitung des Wortes ‚marnære’ (=Seemann) handle. Unklarheit stiftet auch sein Vorname; Strauch beispielsweise behauptet „mit Wahrscheinlichkeit, dass sein Vorname Konrad war“.[8] Die Namen Konrad, aber auch Ludwig oder Hans-Ludwig findet man in der Rezeption des Marners im Meistersang. Die Meistersinger des 15. bis 17. Jahrhunderts zählten und verehrten den Marner neben Walther von der Vogelweide, Wolfram und weiteren Minnesängern als einen der zwölf alten Meister. Aber, wie Wachinger richtig feststellt, handelt es sich bei den Angaben zur Person des Dichters, die wir in den Meistersingerquellen finden, um „junge Erfindung“.[9] Somit stößt man auch bei dem Marner auf das interpretatorische Grundproblem der mittelhochdeutschen Lyrik, dass man aufgrund der spärlichen Überlieferungs- und Informationslage immer wieder versucht hat, „diese Wissenslücken dadurch zu füllen, dass man mehr oder minder vorsichtig die Gedichte selbst in dieser Hinsicht befragt“.[10] Damit sind also auch jegliche Angaben zu Name, Lebenszeit etc. des Marners mit Vorsicht zu genießen.

Weniger umstritten ist jedoch, dass der Marner vermutlich das Wanderleben eines Berufsdichters führte und so neben Schwaben, seiner mutmaßlichen Heimat, auch das Rheinland, Thüringen und Mähren bereiste.[11] Die Standorte seines Schaffens lassen sich aus verschiedenen Lobsprüchen und Gedichten auf mächtige Personen in den jeweiligen Fürstentümern ableiten. Neben seinem geographischen Schaffensraum lässt sich durch die Betrachtung seiner Gönner auch auf die Lebenszeit des Marners Rückschluss ziehen. Aus verschiedenen Quellen geht hervor, dass er bereits vor 1230 gedichtet hat.[12] Sein letztes datierbares Gedicht stammt aus dem Jahr 1266/67. Über das Lebensende des Marners erfahren wir aus einem Nachruf Rumelants, dass der Marner als alter und blinder Mann ermordet wurde.

Aus diesen ungefähren Angaben lässt sich schließen, dass die Lebzeiten Wolframs und des Marners sich wohlmöglich knapp überschnitten haben dürften, sowie dass der Marner mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit das Werk Wolframs gekannt haben dürfte. Im weiteren Verlauf gilt es daher zu untersuchen, ob ein direkter intertextueller Bezug des Marners auf Wolfram nachgewiesen werden kann.

4 Die Tagelieder des Marners

Wachinger schreibt in seinem Aufsatz, Marners Minnesang, so wie ihn die Manessische Liederhandschrift überliefert, umfasse zwei Tagelieder. Davon sei „eines konventionell, eines von Minnelehre und -reflexion durchzogen“.[13] In den folgenden Kapiteln sollen diese beiden Lieder, die als Ton II und Ton III überliefert sind, analysiert und mögliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede aufgezeigt werden. Insbesondere wird dabei zu klären sein, inwiefern die Lieder dem traditionellen mittelhochdeutschen Tagelied entsprechen und welche Besonderheiten oder gar Neuerungen sie aufweisen.

4.1 Ton II

Das laut Überlieferung erste Tagelied des Marners erweckt inhaltlich den Anschein eines traditionellen Tageliedes. Die heimliche Liebe eines anonymen Paares wird vom Wächter thematisiert, der es als seine Pflicht sieht, die Liebenden vor der drohenden Gefahr des Tages zu warnen. Die komplette erste Strophe besteht aus einer Rede des Wächters, in welcher er berichtet, wie er das Paar auf den baldigen Tagesanbruch aufmerksam macht. In der zweiten Strophe wird durch einen Erzähler die Reaktion, zunächst des Ritters, dann der Dame, auf den Ruf des Wächters geschildert. Beide verstimmt das erste Tageslicht zutiefst. Allein die Dame tritt in dieser Strophe in Aktion, in dem sie in einer leisen Rede den Morgen verneint und den Wächter Lügen straft. In der folgenden und letzten Strophe kommt es zur tageliedtypischen körperlichen Vereinigung vor dem Abschied. Diese Erfüllung der heimlichen Liebe wird jedoch vom erneuten Ruf des Wächters gestört, der die Liebenden zur Trennung ermahnt. Das Lied endet mit der Verabschiedung des Ritters und einer Schilderung des Leides, welches diese bei den heimlichen Geliebten hervorruft.

4.1.1 Formanalyse

Marners Ton II weist eine einheitliche und für das Genre des Tageliedes typische Form auf. So liegt allen drei Strophen das klassische Kanzonenschema zu Grunde. Auf zwei metrisch gleich gebaute Stollen mit dem Reimschema AABCCD folgt der aus neun Versen bestehende Abgesang. Dieser kombiniert Kreuz- und Paarreim zu folgendendem Schema: ABABCDDEE. Innerhalb des Aufgesangs besteht eine Kongruenz durch die Wiederholung des Reimes B und D im jeweils dritten und sechsten Vers eines Stollens. Das Lied ist, wie Strauch feststellt, in einem daktylischen Rhythmus verfasst.[14]

4.1.2 Interpretation

Zwei Tagelieder werden dem Marner zugesprochen, „von denen das erste von wunderbarer Anmuth ist, das schönste, was Marner gedichtet“[15], so Philipp Strauch. Aber was ist das Besondere, das Schöne an diesem Lied, das doch sowohl Wachinger als auch Backes als eher konventionell beschreiben?[16] Auf den ersten Blick haben wir es mit dem traditionellen Stoff eines Tageliedes zu tun. Die erste Strophe beginnt mit der Verkündung, der Tag werde bald anbrechen, einer der eindeutigen Voraussetzungen eines Tageliedes nach Behr.[17] Interessant scheint jedoch in diesem Fall die Frage, wer den nahenden Morgen verkündet. Genauer gesagt gibt es zwei Möglichkeiten, entweder der Wächter, von dem es im weiteren Verlauf der Strophe noch heißt, „der wahter sprach in sorgen“ (II, V.14, S.83), beginnt hier seine Rede mit den Worten „Ich künde in dem done“ (II, V.1, S.83), oder aber es handelt sich um ein Sprecher-Ich, welches durch diese Einleitung den Beginn eines Liedes markieren will. Wenn auch die Variante des Wächter-Ichs plausibler erscheint, da es zahlreiche Tagelieder gibt, die mit eben solchen Versen des Wächters beginnen, so gibt es auch Gründe, die für die These des Sprecher-Ichs stehen. Zum einen wird im Abgesang, wie eben zitiert, die einsetzende Rede des Wächters eindeutig als solche ausgewiesen. Es wäre also durchaus logisch, dass in den vorangegangenen Versen ein anderer Redner aktiv war. Zum anderen könnte man den ersten Vers auch als einen Verweis auf ein bestimmtes Tonschema verstehen. Folgt man dieser Überlegung, so würde der Redner sich eindeutig als Sprecher bzw. Sänger des Liedes auszeichnen, der sich in diesem ersten Vers „als Sprecher-Ich etabliert und damit die traditionelle Personentrias“[18] aus Wächter, Dame und Ritter erweitert. Bleibt man bei der Rolle des ‚ichs’ in der ersten Strophe, so fällt des Weiteren auf, dass jeder Strophenteil, das heißt, die beiden Stollen und der Abgesang, mit einem ‚ich’ beginnen. Das besondere an diesen drei Abschnitten ist, dass sie eine Abfolge von drei möglichen Variationen der Tagesverkündung beinhalten. Der erste Stollen lässt, wie oben diskutiert, wohlmöglich einen Sprecher verkünden, dass „der tac vil schone / wil uf sin“ (II, V.2/3, S. 83). Im zweiten Stollen werden die Vögel zitiert, die den nahenden Tag ankündigen und im Abgesang handelt es sich explizit um den Wächter, der die Geliebten vor dem Morgen warnt. Es liegt also eine Wiederholung vor; gleich dreimal hintereinander wird verkündet, was der letzte Vers prägnant zusammenfasst, „ez wil schiere tagen“ (II, V.21, S.84). So wird einerseits der Bedrohlichkeit des nahenden Tages Nachdruck verliehen, andererseits aber zeigt sich hier auch eine künstlerische Finesse, indem Marner es schafft, „die unterschiedlichen Möglichkeiten eines Tageliedeinganges, die ihm die literarische Tradition zur Verfügung gestellt hat“[19], in nur einer Strophe eines Liedes zusammenzufassen.

Neben den Variationen der Tagesverkündung weist die erste Strophe zahlreiche interessante Motive auf. Die „tougen minne“ (II, V.4, S.83) ist der Schlüsselbegriff des Tageliedes. Die heimliche Liebe ist es, die das Tagelied ausmacht und welche die Dramatik verursacht. In der ersten Strophe wird das Wort ‚tougen’ bereits zweimal genannt. Man könnte sagen, das ‚Programm’ des Tageliedes wird hier einleitend deutlich formuliert: wer eine heimliche Liebschaft begeht, der sollte auf der Hut sein, da sonst Gefahr droht. Eben diese Gefahr, die über jedem Tagelied schwebt, wird hier nun explizit genannt, „der merker dro / in slafe lit verborgen“ (II, V.15/16, S.83/84). Die in der Minnekanzone häufiger vorkommenden Merker, also die Bedrohung von außen, die gesellschaftliche Verfolgung der heimlichen Liebe, finden im mittelhochdeutschen Tagelied nur selten namentliche Erwähnung. Wenn von den Merkern die Rede ist, dann so wie in diesem Fall meistens in der Rede des Wächters, wie Knoop in seiner Figur-Element-Relation feststellt.[20]

Die Rede des Wächters zeichnet sich des Weiteren durch ihren reflektiven Charakter aus. Der Wächter nimmt seine Pflicht, die Liebenden vor dem anbrechenden Tag zu warnen, sehr ernst und sorgt sich um deren Wohl. Diese Sorge wird im Abgesang mehrfach thematisiert. Zu Beginn tritt der Erzähler wieder in Erscheinung und beschreibt den Wächter als „in sorgen“ (II, V.14, S.83), in der wörtlichen Rede des Wächters charakterisiert er sich selbst als sehr besorgt. Gleichsam reflektiert er seine eigene Rolle, wenn er sagt „waz sol ich mere / friunde unde vinde sagen / wan: ez wil schiere tagen“ (II, V. 19-21, S.84). Er ist sich seiner Aufgabe bewusst und bemerkt gleichzeitig, dass es nicht in seinem Ermessen liegt, die Liebenden zu trennen und damit zu schützen. Er kann sie lediglich warnen, was er in der dritten Strophe durch seinen erneuten Ruf pflichtbewusst tut. Durch die Verwendung der Futur-Formen „wil uf sin“ (II, V.3, S.83), „der tac wil nahen“ (II, V.10, S.83) und „ez wil schiere tagen“ (II, V.21, S.84) wird zudem betont, dass der Tag noch nicht angebrochen ist, sondern sich erst ankündigt. Das wiederum hieße es bliebe dem Paar noch genug Zeit, sich zu trennen und ihre heimliche Liebe zu wahren, wenn sie auf den Ruf des Wächters hörten.

In der zweiten Strophe meldet sich erneut der Erzähler zu Wort, der die Reaktion der Liebenden auf den Weckruf schildert. Der Ritter, der in diesem Lied ohne Sprechanteil bleibt, steht im Hintergrund. Zwar ist er mitverantwortlich für die heimlich verbrachte Nacht, jedoch wird ihm keine Klage zuteil. Die Dame hingegen hat den Tag längst selbst bemerkt, als sie aus dem Fenster geblickt hat. Laut Haustein handelt es sich bei „der ans Fenster tretenden Frau“[21] um ein neues Motiv des Tageliedes. Viel interessanter ist jedoch die Art, in der die Dame auf die Zeichen reagiert, die sie durch das Fenster erkennen kann. Der ‚morgensterne’, der ‚grawe tac’ und die ‚wolken grise’, allesamt Naturerscheinungen, die den Tag ankündigen, lassen ihr eigentlich keinen Zweifel darüber, dass der Tagesanbruch unmittelbar bevorsteht. Doch allen Anzeichen zum Trotz entgegnet sie ihrem Geliebten leise und nicht klagend, wie man es in einem ‚konventionellen’ Tagelied erwarten würde, „des wæne ich nicht“ (II, V.36, S.84). Sie verneint die Warnung des Wächters, bezichtigt ihn sogar einer Lüge „des er sich schamen mac“ (II, V.41, S.84). Indem sie dies tut, verdrängt sie die Wahrheit, die sie sogar mit ihren eigenen Augen, wenn auch „vil ungerne“ (II, V.28, S.84), gesehen hat. Mehrfach wird in dieser Strophe das Wortfeld des Sehens umkreist, „diu gie schouwen“ (II, V.26, S.84), „si sach vil ungerne“ (II, V.28, S. 84), „der wahter giht“ (II, V.34, S84) und doch wird alles Wirkliche in der Rede der Dame entkräftet. Rednerisch gekonnt, versucht sie sich und ihren Ritter davon zu überzeugen, dass die Vögel träumten, der Sternenglanz täusche und der Wächter lüge. So nimmt sie außerdem direkten Bezug auf den Ruf des Wächters in der ersten Strophe, indem sie das Singen der Vögel zitiert. Auffällig ist, dass die Dame mit besonderem Geschick versucht, die Worte des Wächters, die ihr Geliebter selbst gehört hat, zu entmachten. So ist es auch zu erklären, dass sie den im Tagelied eigentlich Verbündeten, da warnenden und schützenden Wächter als Lügner beschimpft.

Haustein vermutet, der Dame sei es „offenbar gelungen, sich selbst und den Ritter davon zu überzeugen, dass der Tag noch fern ist“.[22] Er begründet dies damit, dass die beiden, wie zu Beginn der dritten Strophe beschrieben, sich erneut ihrer körperlichen Liebe hingeben. Richtig ist, dass sich die Liebenden ungeachtet der nahenden Bedrohung zu „manegen kus“ (II, V.45, S.84) hinreißen lassen. Aber in dieser vielleicht unvernünftigen Handlung muss nicht unbedingt eine Reaktion auf die geglückte Überzeugungsarbeit der Dame gesehen werde. Vielmehr ist es in vielen Tageliedern üblich, dass vor dem Abschied eine letzte körperliche Vereinigung steht, obwohl die Liebenden die ersten Zeichen des Tages längst bemerkt haben. Gerade durch das Handeln im Bewusstsein dieser Gefahr zeigt die Liebe ihre eigentliche Stärke. Daher soll es als fraglich stehen bleiben, dass der Ritter den Worten seiner Geliebten tatsächlich vertraut und daher in Aktion tritt. Des Weiteren wird durch die bildliche Schilderung des Liebesaktes der Schmerz, den der erneute Ruf des Wächters und damit die gezwungene Trennung der beiden Liebenden, hervorruft für das Publikum nahezu greifbar. Im Übrigen entspricht das Lied an dieser Stelle dem allgemein verbreiteten Ablaufsschema des mittelhochdeutschen Tageliedes, in welchem am Ende der Schmerz und die Trennung thematisiert werden.

Der „lute“ (II, V.49, S.85) Ruf des Wächters steht im Kontrast zur leisen Rede der Dame, mit der sie sich an ihren Geliebten gewandt hatte. Der erneute Ausruf ist nun relativ vage gefasst, man könnte ihn als eine allgemeine ‚Weisheit’ zur heimlichen Liebe und deren Gefahr verstehen, womit der Wächter wiederum einen reflektierenden Ton anschneidet. Marner, als Dichter, treibt diese Minnereflexion in den Versen „sus kann diu minne / muot unde sinne teilen, / wunden unt heilen“ (II, V.59-61, S.85) noch weiter. Er lässt den Sprecher über das Wesen der Minne sinnen, welche die Liebenden in einen Zwiespalt zwischen Verlangen, Herz und Verstand bringt; ihnen so Leid zufügt, sie aber auch wieder versöhnen kann. Das Tagelied endet mit der Flucht des Ritters, hier ungewöhnlicherweise als „helt“ (II, V.62, S.85) bezeichnet, im Angesicht des Tages. Diese letzten zwei Verse, die durch einen Reimwechsel von der vorangegangenen Minnereflexion abgegrenzt sind, schildern also einen Schluss, der in Anlehnung an den Schlüsselbegriff der ‚tougen minne’ so zu erwarten ist. Wer heimlich beieinander liegt, der muss sich bei Tagesanbruch trennen, werden so indirekt nochmals die mahnenden Worte des Sprechers, des Wächters und der Vöglein unterstrichen.

Nun stellt sich die Frage, in wieweit das vorliegende Tagelied als konventionell bezeichnet werden kann? Sicherlich erfüllt der Ton II alle ‚Anforderungen’ an ein Tagelied, die bereits aufgezählt wurden. Wie festgestellt wurde, wird allerdings die sonst oft klare Abfolge von Erwachen/Tagesverkündung, Klage und Abschied in der zweiten Strophe unterbrochen. Die ‚konventionelle’ Klage der Dame fehlt, an ihrer Stelle steht eine künstlerisch raffinierte Abschwörung des Tages. Auch die Variation des Tageliedeingangs in der ersten Strophe sollte in dieser Diskussion Erwähnung finden. Somit fällt es schwer, dieses Lied konventionell zu nennen, zeigt es doch in vielen Details den Einfallsreichtum und die Variationsliebe des Dichters.

[...]


[1] Peter Wapnewski, Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition. Kommentar. Interpretation, München 1972.

[2] Philipp Strauch (Hg.), Der Marner, Berlin 1965.

[3] Die betrachteten Lieder finden sich im Anhang der Arbeit.

[4] Vgl. Ioana Beloiu-Wehn, ‚Der tageliet maneger gern sanc’. Das deutsche Tagelied des 13. Jahrhunderts. Versuch einer gattungsorientierten intertextuellen Analyse, Frankfurt a.M. 1989, S.113.

[5] Hans-Joachim Behr, „Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram“, in: Cyril Edwards (Hrsg.), Lied im deutschen Mittelalter, Tübingen 1996, S. 197.

[6] Vgl. Ulrich Knoop, Das mittelhochdeutsche Tagelied. Inhaltsanalyse und literarhistorische Untersuchungen, Marburg 1976, S. 59.

[7] Vgl. Joachim Bumke, „Wolfram von Eschenbach“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters,

Verfasserlexikon, zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 10, Berlin 1999, Sp. 1376-1380.

[8] Strauch, Der Marner, S. 1.

[9] Burghart Wachinger, „Der Marner“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters,

Verfasserlexikon, zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 6, Berlin 1987, Sp. 70.

[10] Ulrich Müller, „Die mittelhochdeutsche Lyrik“, in: Heinz Bergner (Hrsg.): Lyrik des Mittelalters, Probleme und Interpretationen, Stuttgart 1983, S. 26.

[11] Vgl. Joachim Heinzle, (Hrsg.), Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen

bis zum Beginn der Neuzeit. Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90), Bd. II, Teil 2, Königstein/Ts. 1984, S. 125-126.

[12] Zur Vertiefung: Strauch, Der Marner, S. 7-27.

[13] Wachinger, Der Marner, Sp. 75.

[14] Vgl. Strauch, Der Marner, S. 42.

[15] Strauch, Der Marner, S. 42.

[16] Vgl. Wachinger, Der Marner, Sp.75. und Martina Backes, Tagelieder des deutschen Mittelalters, Stuttgart 1992, S. 261.

[17] siehe Kapitel 2: Das mittelhochdeutsche Tagelied

[18] Jens Haustein, Marner-Studien, Tübingen 1995, S. 126.

[19] Haustein, Marner-Studien, S. 126.

[20] vgl. Knoop, Das mittelhochdeutsche Tagelied, S. 126.

[21] Haustein, Marner-Studien, S. 127.

[22] Ebd., S. 127.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Das Tagelied bei Wolfram von Eschenbach und dem Marner
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
49
Katalognummer
V122122
ISBN (eBook)
9783640270958
ISBN (Buch)
9783640271023
Dateigröße
566 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tagelied, Wolfram, Eschenbach, Marner
Arbeit zitieren
B.A. Jenny Camen (Autor:in), 2007, Das Tagelied bei Wolfram von Eschenbach und dem Marner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122122

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