Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) lebte in der Epoche der ‚Aufklärung’. Nach ihrem prominentesten Denker, Immanuel Kant, bezeichnet diese den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit [sei] das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“
Was hier wie ein Punkt oder besser: ein Ausrufungszeichen am Ende eines Satzes steht, markiert zum einen tatsächlich den vorläufigen, vor allem theoretischen Höhepunkt eines bereits in der Renaissance des 15. Jahrhunderts begonnenen Prozesses. Zum anderen jedoch befand sich die praktische Umsetzung jenes als Aufklärung bezeichneten Ideals zu dieser Zeit gerade in ihren blutigen Anfängen. Der theoretische und die Praxis regelnde Rahmen hierfür wurde von der sich parallel etablierenden wissenschaftlichen Disziplin der Pädagogik gesteckt; die entsprechenden Handwerkzeuge nannten sich Erziehung und Bildung.
Mit seiner Erziehungs-Utopie "Emile oder Über die Erziehung" legte Rousseau gleichsam den Grundstein für diese Entwicklung, indem er die Kindheit erstmals als einen eigenständigen Lebensabschnitt (an)erkannte und sie zudem mit einer Bedeutung jenseits des bloßen Heranwachsens zur Arbeits- oder Regierungsfähigkeit versah: der Möglichkeit und Not-wendigkeit des ‚positiven’ Einwirkens durch einen Erzieher.
Die historischen Rahmenbedingungen spielten auch hierbei eine entscheidende Rolle... Als gesellschaftliche Organisationsform schien offenbar allein ein an die antike Polis angelehnter (National-)Staat vorstellbar; im Geiste der Aufklärung nun jedoch ein Staat mündiger Bürger. Da solche Bürger seinerzeit nicht existierten und in anbetracht der, laut Rous-seau: generell ‚entarteten’ Menschheit, war es nach dessen Ansicht zunächst einmal nötig, den Menschen gewissermaßen zu ‚renatuieren’, d.h. ihn in jener Lebensphase namens Kindheit naturgemäß zu erziehen...
Rousseaus Erziehungs-Konzept vorzustellen und die darin aufgeworfene Mensch-Bürger-Problematik zu beleuchten, soll das Anliegen dieser Arbeit sein. Zudem werde ich der aus dieser Problematik resultierenden Frage nach der menschlichen Identität nachgehen. Als Reibungsfläche werde ich hierbei Alfred Schäfers "Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Portrait." aus dem Jahre 2002 hinzuziehen, in dem der Verfasser die Zwiespältigkeit des Rousseauschen Erziehungs-Konzepts anhand der darin (hypothetisch) angestrebten ‚Identität’ des natürlichen Menschen ‚mit sich selbst’ darstellt.
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Inhaltsverzeichnis
- I. Einleitung
- II. Begriffe & Grundlagen
- III. Rousseaus Erziehungs-Utopie
- IV. Vier Phasen
- Phase 1: Säuglings- bzw. Kleinstkindalter
- Phase 2: Bis zum 12. Lebensjahr
- Phase 3: 12 bis 15 Jahre
- Phase 4: Jahre des ‚Erwachens der Leidenschaften’
- V. Überleitung
- VI. Die Machtfrage, Teil 1
- VII. Identität vs Authentizität
- VIII. Die Machtfrage, Teil 2 – Eine Frage der Erziehungs-Berechtigung?
- IX. Vorläufiges Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Jean-Jacques Rousseaus Erziehungs-Utopie im Kontext der Aufklärung, fokussiert auf die Problematik von Authentizität und Identität. Sie beleuchtet Rousseaus Konzept der natürlichen Erziehung und dessen mögliche Konflikte mit den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft.
- Rousseaus Konzept der natürlichen Erziehung
- Die Mensch-Bürger-Problematik bei Rousseau
- Die Rolle von Authentizität und Identität in Rousseaus Erziehungsmodell
- Die Bedeutung der vier Entwicklungsphasen im Erziehungsmodell
- Kritik an Rousseaus Erziehungsansatz
Zusammenfassung der Kapitel
I. Einleitung: Einführung in Rousseaus Leben und Werk im Kontext der Aufklärung. Die Arbeit thematisiert das zentrale Spannungsfeld zwischen Mensch und Bürger in Rousseaus Erziehungs-Utopie.
II. Begriffe & Grundlagen: Klärung grundlegender Begriffe wie Perfektibilität und der Gegensatz zwischen dem natürlichen Menschen und dem Bürger. Rousseau's Vorstellung vom Menschen als "Mängelwesen" und dessen Fähigkeit zur Vervollkommnung werden erläutert.
III. Rousseaus Erziehungs-Utopie: Darstellung von Rousseaus Utopie in "Emile oder Über die Erziehung". Die drei Erzieher (Natur, Dinge, Menschen) und der ideale Erzieher werden vorgestellt. Die Bedeutung der "Identität mit sich selbst" als Ziel der Erziehung wird hervorgehoben.
IV. Vier Phasen: Detaillierte Beschreibung der vier Entwicklungsphasen in Rousseaus Erziehungsmodell. Jede Phase wird im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Wünschen und Fähigkeiten des Kindes erläutert und der jeweilige Fokus des Erziehers beschrieben.
V. Überleitung: Verbindung der Erziehungs-Utopie mit dem politischen Kontext der Aufklärung und der Kritik an Rousseaus emotionaler Argumentation. Die wissenschaftliche Kritik an Rousseaus Konzept wird angekündigt.
VI. Die Machtfrage, Teil 1: Kritik an Rousseaus Erziehungsansatz durch Alfred Schäfer, insbesondere hinsichtlich des Machtverhältnisses zwischen Erzieher und Zögling. Schäfers Kritik an einer möglichen "totalitären Erziehung" wird dargelegt.
VII. Identität vs Authentizität: Diskussion der Begriffe Identität und Authentizität im Kontext von Rousseaus Erziehungsmodell und deren geistesgeschichtlicher Entwicklung. Der Vergleich mit Hall's Konzepten subjektiver Identität beleuchtet Rousseaus Ansatz.
VIII. Die Machtfrage, Teil 2 – Eine Frage der Erziehungs-Berechtigung?: Auseinandersetzung mit der Macht des Erziehers aus einer zeitlosen Perspektive. Der Fokus liegt auf der Verantwortung der Erziehungsberechtigten und deren Umgang mit der Erziehung des Kindes im Sinne von Authentizität.
Schlüsselwörter
Jean-Jacques Rousseau, Aufklärung, Erziehung, Erziehungs-Utopie, Emile, Natürlichkeit, Identität, Authentizität, Mensch-Bürger-Problematik, Perfektibilität, negative Erziehung, Alfred Schäfer, Machtverhältnis, Entwicklungsphasen.
- Arbeit zitieren
- Mike Schmidt (Autor:in), 2006, Mensch oder Bürger?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122222