On The Far Bank Of The River

‘Der Unsympath’ in der Verarbeitung von Heimat, Geschichte und Ästhetik in ausgewählten Romanen Caryl Phillips


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

29 Seiten, Note: 2 -


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

On The Far Bank Of The River

Einleitung

Unzuverlässiges Erzählen
Der Unsympath

The Atlantic Home – Das Konzept von Heimat
A State of Independence

A Chorus of a Common Memory – Das Konzept von Geschichte
Crossing the River

When the Fabric Is Torn – Das ästhetische Konzept
The Nature of Blood

Konklusion und Schlußbemerkung

Bibliographie
Primärliteratur und Abkürzungen
Sekundärliteratur

Einleitung

Seit der Veröffentlichung von Caryl Phillips ersten Romans The Final Passage 1985 liegen mittlerweile zehn weitere Veröffentlichungen unterschiedlicher Genres vor. Dabei kreisen die verarbeiteten Stoffe immer um die Themen Identitätskonstruktion, Heimat, Sklaverei, Migration und schwarze Diaspora. Bei der Lektüre einer Auswahl von Romanen und Reiseberichten fiel auf, dass sowohl Hauptfiguren wie auch Nebenfiguren unsympathische Züge tragen oder distanziert auftreten. Dieses wiederholt auftretende Charakteristikum bildet die Ausgangsbasis für die angestellten Untersuchungen der vorgelegten Arbeit. Dabei konnte nur eine Auswahl an Figuren und Themen genauer untersucht werden. Im Rahmen der Arbeit werden die entwickelten Konzepte von Heimat, Geschichte und Ästhetik untersucht. Ihnen folgen jeweils Kapitel zu einzelnen Werken, welche für die Konzepte als besonders relevant erachtet werden.

Theoretische Basis bilden dabei neue Überlegungen zum unzuverlässigen Erzähler aus dem Bereich der Narratologie. Vielfach trifft man in den Werken Caryl Phillips Erzähler, die sich als nicht zuverlässig erweisen. Ein Zugriff auf diese theoretischen Überlegungen liegt also auf der Hand.

Abschließend stellt sich natürlich die Frage nach dem dahinter stehenden Ziel des Autoren. Der Versuch einer Annährung an eine Antwort wird in der Schlussbemerkung unternommen.

Unzuverlässiges Erzählen

Unzuverlässiges Erzählen. Was heißt das? Was sind Muster und Strategien? Was sind Signale? Bei aller Schwierigkeit dieses Phänomen zu greifen, lässt sich als allgemeine Arbeitsgrundlage folgendes festlegen. Unzuverlässiges Erzählen bedeutet die Existenz von Widersprüchen und Brüchen. Diese gehen nicht auf Fehler des Autors, nicht auf Fehler bei den einzelnen Schritten der Buchproduktion und nicht auf die Selbstironie des Erzählers zurück. Sie sind statt dessen bewusst eingesetzte Gestaltungselemente der Erzählung und erfüllen somit eine Funktion. Aus ihrer Funktion heraus generieren sie Bedeutung und Sinn des Texts, die vom Leser erarbeitet und verarbeitet werden.

Narrative Unzuverlässigkeit ist ein ausgiebig diskutierter Bereich in der Narratologie. Erstmals von Wayne Booth als ein der Ironie verwandtes Phänomen definiert (Booth, 1961: 158 ff), hat sich mittlerweile ein ansehnlicher Bestand an Überlegungen und Theorien angesammelt. Ausgehend von der durch Ansgar Nünning formulierten Frage „Unrealiable, compared to what?“ (Nünning, 1999: 53) folgen hier einige grundlegende Überlegungen.

Hinter der angeführten Frage verbirgt sich ein Paradigmenwechsel. Bisher wurde in der Forschung das Verhältnis von Erzähler und implizierten Autoren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Gerald Prince definierte einen unzuverlässigen Erzähler als

[a] narrator whose norms and behaviour are not in accordance with the implied author’s norms; a narrator whose values (tastes, judgements, moral sense) diverge from those of the implied author’s; a narrator the reliability of whose account is undermined by various features of that account.[1]

Aus dieser Definition folgen zwei Probleme. Zum einen ist die Instanz des implizierten Autoren wenn nicht höchst fragwürdig so doch auf jeden Fall phantomartig. Zum anderen ist der Leser in der Beurteilung, was glaubwürdig oder unglaubwürdig ist, außengeschlossen. Glaubwürdigkeit/Unglaubwürdigkeit wird damit ein rein werkimmanentes, strukturelles Problem.

Nünning verschiebt nun den Fokus auf den Leser.

I should like to propose that it would be more adequate to conceptualize unreliable narration in the context of frame theory as a projection by the reader who tries to resolve ambiguities and textual inconsistencies by attributing them to the narrator’s ‘unreliability’. In the context of frame theory, the invention of ‘unreliable narrators’ can be understood as an interpretative strategy or cognitive process of the sort that has come to be known as ‘naturalization’. (Nünning, 1999: 54)

Das hermetische Verhältnis von Erzähler und impliziertem Autoren wird zugunsten eines offenen Verhältnisses zwischen Erzähler und Leser verschoben. Offen deshalb, weil jeder Leser einen seiner Zeit, seiner Sozialisation, seinem Hintergrund entsprechenden Horizont einbringt. Dies führt zwangsläufig zu einer hohen Variabilität an Ergebnissen. Im Vergleich dazu ist das bisherige Model beschränkt. Der Erzähler bewegt sich nur innerhalb des zeitlichen Rahmens, der durch den Zeitpunkt der Textproduktion vorgegeben wird. Gleiches gilt für den implizierten Autor. Er bewegt sich in dem selben Zeitraum. Ein möglicher Leser kann jedoch aus einer späteren Zeit heraus ein Werk unter völlig anderen Gesichtspunkten betrachten. Die Textaussage hängt dann sowohl von den strukturellen und linguistischen Eigenschaften eines Texts sowie von der Rezeption durch einen Leser ab. Sie wird individualisiert.

Im Prozess der Rezeption gleicht der Leser die aufgenommenen Informationen seinem kulturellen, sozialen und individuellen Horizont entsprechend an. Dieses Phänomen der Naturalisierung, beschrieben von Jonathan Culler, kann durchaus sehr unterschiedlich ausfallen.

[...] what we speak of as convention of a genre or an écriture are essentially possibilities of meaning, ways of naturalizing the text and giving it a place in the world which our culture defines. To assimilate or interpret something is to bring it within the modes of order, which our culture makes available, and this is usually done by talking about it in a mode of discourse which a culture takes as natural. [...] ‘Naturalization’ emphasises the fact that the strange or deviant is brought within a discursive order and thus made to seem real. (Culler 2002 [1975]: 160)

Selbstverständlich ist diese Öffnung auch problematisch. Kultureller und sozialer Hintergrund des Rezipienten können sehr unterschiedlich sein. Die individuelle Ausprägung tut ein Übriges und erweitert das Spektrum im selben kulturellen und sozialen Rahmen nochmals. So kann für den einen Leser ein Erzähler durchaus völlig zuverlässig erscheinen, während durch einen anderen Leser derselbe Erzähler als unzuverlässig charakterisiert wird. „The information on which the projection of an unreliable narrator is based derives at least as much from within the mind of the beholder as from textual data“ (Nünning, 1999: 61).

Betrachtet man nun den Prozess der Naturalisierung selbst, bieten sich Erkenntnisse und Konzepte der Kognitionsforschung und Psychologie an. Untersuchungen ergeben, dass

[...] knowledge is not found in the brain as a loose assembly of individual bits of information, but is stored in meaningful structures that arise from the individual's [reader's] contact with the world. [...] The organism constructs such structures either as categories according to the similarity of items, or as schemes (or frames, or scripts) in accordance with the contiguity of the information encountered. (Schneider 2002: 611).

Dies bedeutet, dass jede von außen kommende Information beim Rezipienten auf vorhandene Strukturen trifft. Kein Leseprozess ist unvoreingenommen. Vielmehr lässt sich der Leseprozess als die Konstruktion und Projektion eines Systems von Hypothesen und Schemata bzw. frames, über welche sich der Inhalt erschließt, begreifen. Nach Zerweck sind ‘frames’ dann konventionalisierte Schemata, in die neue während des Lesens erschlossene Informationen eingepasst werden (Zerweck: 2002). Neben den durch Echtwelterfahrungen (real-world-frames) entstandenen Schemata spielt auch Wissen um literarische Konventionen (literary frames) je nach Leser eine mehr oder minder wichtige Rolle. Auf Seiten des Lesers steht hinter dem Rückgriff auf bereits entwickelte Schemata eine meist unbewusste Entscheidung zwischen unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten. Gleichzeitig kommt es zu einer Verschmelzung von textuellen und kontextuellen Informationen, so dass hier von einem "interactive process" gesprochen wird (vgl. Grabes 1978).

Woran erkennt der Leser einen unzuverlässigen Erzähler? Ansgar Nünning nennt hier an erster Stelle den Ich-Erzähler, gefolgt von einem hohen Maß an Exemplarität. Der Erzähler ist ein fassbarer, konkreter Charakter, der massiv in Erscheinung tritt. Daraus folgt, dass subjektiv gefärbte Kommentare, interpretatorische Zusätze, Stellungnahmen und Leseranreden gehäuft auftreten. Sie neigen zum Monologisieren und zeichnen sich durch zwanghafte und wahnhafte Züge aus. Eine Eigenschaft der Erzählung selbst ist eine „Diskrepanz zwischen dem, was ein unzuverlässiger Erzähler dem fiktiven Adressaten zu vermitteln versucht, und einer zweiten Version des Geschehens, derer sich der Erzähler nicht bewusst ist und die sich Rezipienten durch implizite Zusatzinformationen erschließen können“ (Nünning 1998: 6).

Diese Charakteristika können nur als Indizien betrachtet werden. So ist nicht jeder Er-Erzähler zuverlässig. Umgekehrt ist nicht jeder Ich-Erzähler unzuverlässig. Gleiches gilt für die von Monika Fludernik gelieferte Liste von typisch unzuverlässigen Erzähler-Charakteren:

- der naive Ich-Erzähler
- der Irre (Geistesgestörte)
- das Monster (der Perverse)
- der Verbrecher (moralische Alterität)
- der „Picaro“ (Außenseiter)
- der obsessive (emotional ‘aufgeladene’) Erzähler. (vlg. Fludernik, 2005: 43).

Mit der Aufführung dieser Erzählercharaktere, deren Vollständigkeit und auch Relevanz diskutierbar ist, wird eine weitere Unschärfe deutlich. Handelt es sich nun um eine epistemologische Unzuverlässigkeit? Der Erzähler gibt also die Fakten der Handlung nicht korrekt wieder. Dies wären dann Erzähler-Charaktere wie der Picaro. Aufgrund seiner Außenseiterposition ist er nicht ausreichend über die Fakten der Handlung informiert und gibt sie deshalb unvollständig oder falsch wieder. Oder handelt es sich um einen Widerspruch auf der normativen Ebene? Die Normen und Werte des Erzähler weichen also von allgemein sanktionierten Werten und Normen, sei es nun in Bezug auf die Instanz des implizierten Autoren oder in Bezug auf den Leser, ab. Per se wären dies Erzähler-Charaktere wie das Monster oder der Verbrecher. Die Polarisierung in eine epistemologische oder normative Diskrepanz führt spätestens dann in eine Sackgasse, wenn die Erzählerfigur sich nur als eine Mischform aus beispielsweise Picaro und Verbrecher charakterisieren lässt. Hier würden sich beide Arten von Abweichungen überschneiden. Was sich aber aus der oben aufgeführten Liste ableiten lässt sind die folgenden Unzuverlässigkeitssignale: Selbstbetrug und Lüge, Verdrängung und Irrtum sowie Wahnsinn und verzehrte Wahrnehmung.

Einen Ausweg aus den diversen oben genannten Unsicherheiten bietet der Rückgriff von Ansgar Nünning auf die dramatische Ironie. Definiert als „Interferenz von innerem und äußerem Kommunikationssystem“ (Pfister, 1977:88) bietet sich hier ein Rahmen, der es ermöglicht, einen unzuverlässigen Erzähler zu definieren.

Im Falle eines unreliable narrator resultiert dramatische Ironie aus einer Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers und den Normen und dem Wissensstand des realen (nicht des impliziten) Lesers (Nünning, 1998: 17).

Die Wertvorstellungen und Absichten des Erzählers werden für den Leser einerseits durch die explizit gemachten Äußerungen über sich selbst und andere deutlich. Darüber hinaus liefert der Text eine Vielzahl an impliziten Informationen. Der Leser ist de facto in zwei Kommunikationsprozesse eingebunden und gleicht während des Rezeptionsprozesses beide Stränge miteinander ab.

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass bestimmte Strukturen des Plots dazu führen, jeden Erzähler unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Genannt sei hier das aus dem Kino stammende „Roshomon Prinzip[2] “. Dabei handelt es sich, um ein Eingleichberechtigtes Nebeneinander subjektiver Erzählberichte, die zwar in sich schlüssig, miteinander verglichen jedoch widersprüchlich sind. Es bleibt dem Betrachter überlassen, aus den verschiedenen Versionen sein eigenes, subjektives Destillat zu generieren.

Der Unsympath

Nach den vorangegangenen Ausführungen zur Theorie des unzuverlässigen Erzählers ist es notwendig, einige Überlegungen zum „Unsympathen“ anzustellen. Grundsätzlich handelt es sich bei dem Attribut unsympathisch um ein normatives Urteil. Es ist in jeden Fall im negativen Bereich eines Wertesystems angesiedelt. Hinzu kommt, dass es sich in der Regel zunächst um eine emotionale Reaktion handelt, die erst im Nachhinein mit konkreten Eigenschaften und Verhaltensweisen unterfüttert wird.

Welche konkreten Eigenschaften unter diesem Attribut jedoch zusammengefasst werden, ist durch den jeweiligen kulturellen und sozialen Kontext bestimmt. Dieser Kontext wird weiterhin durch den Leser nochmals individualisiert. Ähnlich wie bei der Zuschreibung der Eigenschaft zuverlässig /unzuverlässig im Bereich des Erzählens gilt auch bei der Eigenschaft sympathisch /unsympathisch, dass es je nach Leser starke Abweichungen geben kann. Nichts desto trotz gibt es eine Reihe von Attributen, die sich gewissermaßen als Kerneigenschaften von Unsympathie nennen lassen. Dazu gehören: Arroganz, Ignoranz, Habgier, Verlogenheit, um nur einige zu nennen.

Die Zuschreibung sympathisch /unsympathisch erfolgt auf zwei Ebenen. Zum einen kann ein Text selbst, z.B. durch weitere Figuren und deren Reaktionen, entsprechende Zuschreibungen vollziehen. Das Urteil des Lesers wird durch diese Informationsvergabe nicht unerheblich gesteuert. Durch die zeitliche Abfolge der Informationsvergabe in Texten tritt zunächst der „primacy effect“ ein. Die Interpretation eines Sachverhalts in einem Text wird wesentlich durch die zeitlich zuerst vergebenen Informationen gesteuert. Neben einem interaktiven Zusammenspiel von textuellen und kontextuellen Schemata hält ein Leser möglichst lang an seiner ersten Interpretation fest. Erst wenn eine Konfrontation mit weiteren eindeutigen textuellen Informationen stattfindet, überschreibt der „recency effect“ den „primacy effect“. Daneben fällt der Leser selbst ein Urteil, das von seinem individuellen kulturellen und sozialen Hintergrund sowie seiner subjektiven Wahrnehmung stark eingefärbt ist.

[...]


[1] zitiert nach Nünning 1999: 55 (Prince 1987:101).

[2] Nach dem Kinofilm Roshomon (dt. Das Lustwäldchen), Akira Kurosawa, Japan 1950.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
On The Far Bank Of The River
Untertitel
‘Der Unsympath’ in der Verarbeitung von Heimat, Geschichte und Ästhetik in ausgewählten Romanen Caryl Phillips
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Institut für England- und Amerikastudien)
Veranstaltung
Atlantic Worlds: The Novels of Caryl Phillips
Note
2 -
Autor
Jahr
2008
Seiten
29
Katalognummer
V122585
ISBN (eBook)
9783640275472
ISBN (Buch)
9783640276158
Dateigröße
534 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Caryl Phillips, Black Atlantic, Narratologie
Arbeit zitieren
Markus Wegner (Autor:in), 2008, On The Far Bank Of The River, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/122585

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