Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Zusammenfassende Methodendarstellung: Narrationsanalyse nach Schütze
2 Zusammenfassende Methodendarstellung: Dokumentarische Methode nach Bohnsack
Literaturverzeichnis
1 Zusammenfassende Methodendarstellung: Narrationsanalyse nach Schütze
Die Narrationsanalyse nach Schütze ist ein Analyseverfahren, das „spontane Erzählungen (‚Narrationen‘) von Personen über selbst erlebte Ereignisse oder Prozesse“ als Datengrundlage für die Interpretation verwendet. Das Verfahren wird insbesondere in der Biographieforschung genutzt, um Lebensgeschichten und Lebensverläufe soziologisch zu erforschen (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 64 f.) Die Narrationsanalyse nach Schütze wurde für solche Erzählungen konzipiert, die „den sozialen Prozeß der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich“ abbilden (Schütze 1983, S. 286). Jedoch kann die Methode auch für „nicht[1]biographische narrative Interviews“ benutzt werden (Küsters 2009, S. 77 f.). Wichtig ist: Um mit dieser Methode eine sinnvolle Analyse durchführen zu können, muss der Untersuchungsgegenstand einen Prozess- oder Ereignischarakter aufweisen und die Interviewten müssen an dem untersuchten Prozess oder Ereignis beteiligt gewesen sein, da die Erzählungen „aus dem subjektiven Erleben (…) heraus geschildert“ sein müssen. Nicht geeignet ist die Methode für „sich wiederholende Interaktionsmuster, soziale Praktiken oder Alltagsroutinen“ (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 105). Als Datenerhebungsmethode dient das Narrative Interview nach Vorgabe von Schütze (ebd., S. 64). Dieses Interviewverfahren gibt ein dreiteiliges Interview vor (1. Erzählaufforderung, 2. erzählgenerierende Nachfragen der Interviewenden zu einzelnen Aspekten der Erzählung, 3. Nachfragen, die auf Abstraktionen und Stellungnahmen der Interviewten abzielen) und soll die Interviewten dazu anregen, die benötigten spontanen Erzählungen, die Stegreiferzählungen, zu generieren (ebd., S. 73 f.). Die Interviewten werden also mit einer vergleichsweise schwach strukturierten Methode, aber „auf systematische Weise zum Reden gebracht“ (ebd., S. 64). Die Eignung einer Auswertungsmethode für ein Forschungsprojekt hängt jedoch nicht nur von der Art der vorliegenden Daten ab, sondern auch vom Erkenntnisinteresse. Für die Narrationsanalyse nach Schütze sollte es zum Beispiel darum gehen, „Handlungskonstellationen und -abläufe(n) in ihrer sozialstrukturellen Kontextuierung und Bedingtheit“ rekonstruieren zu wollen (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 105). Die Methode eignet sich dafür, die individuell wahrgenommene soziale Wirklichkeit zu erfassen. Geschehnisse, Wahrnehmungsweisen, Orientierungen und Deutungen können auf Basis der Daten rekonstruiert werden (ebd., S. 65). Auch „größere Erlebenszusammenhänge und Prozesse des Erlebens“ können erschlossen werden (Erdmann 2020, S. 213). Im Sinne von Biographieforschung kann der Lebensablauf von Personen rekonstruiert und deren damit verbundene Wahrnehmungen und Deutungen nachvollzogen werden (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 68). Auch wenn es um die Erforschung der Passung zwischen „Handlungsplänen“ und „Handlungsmöglichkeiten“ von Personen geht, ist das Analyseverfahren geeignet (ebd., S. 105). Nach Schütze kann die Auswertung grundsätzlich in drei Richtungen gehen: 1. Herausarbeitung elementarer Prozessstrukturen des Lebensablaufs, 2. Sozialer Prozess in seiner Auswirkung auf den Lebensablauf, 3. Auf der Grundlage der Analyse: Biographische Beratung mit Betroffenen (Schütze 1983, S. 292 f.). Liegt das Erkenntnisinteresse in einem dieser Bereiche, so eignet sich die Narrationsanalyse nach Schütze. Als theoretischer Rahmen der Narrationsanalyse nach Schütze dient Schützes Erzähltheorie. Laut Schütze kommen in Interviews drei „Darstellungsformen“ vor: Erzählung, Beschreibung, Argumentation. Auf diesen baut die Dreiteilung des Narrativen Interviews nach Schütze auf. In jedem der drei Teile des Interviews sei eine Darstellungsform, bedingt durch das Design des Interviews, dominant (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 65).
Schütze arbeitet vor der Theorie, dass die Stegreiferzählung, die durch eine „spontane mündliche Erzählaufforderung“ generiert wird, drei „Zugzwänge[n] des Erzählens“ unterliegt: Gestaltschließungszwang (Erzählung fortführen und beenden), Kondensierungszwang (verdichtete Darstellung in Bezug auf Relevanz), Detaillierungszwang (so viel Info geben, wie für Verständnis nötig). Bedingt durch diese Zugzwänge sei die Wiedergabe der Erinnerungen an die „Erlebnisaufschüttungen“ in Form der Erzählungen nah am tatsächlich Erlebten (fast ohne Auslassungen und Schönungen) und die „besonders relevant erlebten Sachverhalte“ seien im Fokus (ebd., S. 66 ff.). Zu dieser soziolinguistischen Theorie kommt noch die biographietheoretische Grundlage, die Lebensabschnitte in ihren „verschiedenen Dimensionen“ „miteinander in Wechselwirkung“ sieht. Auch spielten die Institutionalisierung des Lebenslaufs, „gesellschaftliche Normalitätsmuster“ und Vorstrukturierungen/Kanalisierungen von Handlungsoptionen eine Rolle für den Lebensablauf einer Person (ebd., S. 68 f.). Schütze formuliert für Lebensabschnitte die Dichotomie „aktiv gestalten“/Selbstbestimmung – „reaktiv erdulden“/Scheitern und führt vier idealtypische Prozessstrukturen des Lebenslaufs ein: 1. Institutionelles Ablaufmuster: Biographische Handlungen in sozialen Institutionen, die den Lebensabschnitt strukturieren – „‚normativ-versachlichte(n)[s] Prinzip‘ des Lebensablaufs“
2. Biographisches Handlungsmuster: Entwicklung, die aufgrund eigener Initiative und Steuerung stattfindet – „‚intentionale(n)[s] Prinzip‘ des Lebensablaufs“
3. Verlaufskurve: Negative Verlaufskurve (Erleiden von Ereignissen) / Positive Verlaufskurve (neue Handlungsoptionen, meist durch Anstoß von außen) – „‚Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz‘“ 4. Biographischer Wandlungsprozess: Phasen nach negativer Verlaufskurve, die die Biographie verändern (ebd., S. 69-72) Schütze formuliert außerdem zwei Ausgangsfragen für die Analyse: „Was hat sich in soziologisch interessierenden Lebensgeschichten faktisch ereignet? und „Wie deutet der Biographieträger seine Lebensgeschichte?“ (ebd., S. 68). Die Narrationsanalyse nach Schütze ist eine rekonstruktive und interpretative Auswertungsmethode. Es geht bei ihr um die Rekonstruktion von Geschehnissen, Wahrnehmungsweisen, Orientierungen und Deutungen auf Basis der Interpretation des Datenmaterials (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 65) und um die Rekonstruktion von „Sinnbildungsprozessen des Subjekts“ (Erdmann 2020, S. 214). Diese Rekonstruktion ist über Interpretation zu erreichen (vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 64). Die Verschriftlichung der Interviewaufnahmen für die Transkripte erfolgt „im Wort[1]laut“, parasprachliche Elemente und Geräusche werden mitaufgenommen, sofern für sie ein Einfluss auf den Verlauf des Interviews angenommen wird. Hörersignale werden ebenfalls transkribiert. Sprachliche Besonderheiten werden nicht extra gekennzeichnet (ebd., S. 74). Die Datenanalyse erfolgt in sechs Schritten: 1. Formale Textanalyse narrativer Passagen (Identifikation der Sequenzen), 2. Strukturelle inhaltliche Beschreibung (Erfassung In[1]halt jeder Sequenz als Überschrift/Satz, Verbindung der Sequenzen zu Sinneinheiten, Sinneinheiten: Analyse aktiv/passiv, Prozessstrukturen beschreiben), 3. Analytische Abstraktion (dominante Prozessstruktur der Gesamtbiographie), 4. Wissensanalyse (Beziehung zwischen Handlungsweisen und Deutungen, Wahrnehmungen, Wertungen auf[1]stellen), 5. Fallvergleichende Analyse (Vergleich von Einzelfällen, Gemeinsamkeiten/Unterschiede, s. Grounded Theory) (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 77-95). Der 6. Schritt ist die Konstruktion eines neuen theoretischen Modells (Schütze 1983, S. 288). Um eine Güte der Ergebnisse zu sichern, kommt es bei der Methode auf die Nachvollziehbarkeit der Datenerhebung und der Analyse an. Auch müssen die Methode für das Forschungsinteresse sinnvoll und die Erzählungen für die Forschungsfragen ergiebig sein (Wattanasuwan/Buber/Meyer 2009, S. 370).
2 Zusammenfassende Methodendarstellung: Dokumentarische Methode nach Bohnsack
Die Dokumentarische Methode nach Bohnsack ist zur Auswertung von Gruppendiskussionen, offenen und biographischen Interviews, Leitfadeninterviews, Feldforschungsprotokollen, historischen Texten, Bildern und Videos geeignet (Bohnsack 2011, S. 40; Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 188). Entwickelt wurde das Analyseverfahren ursprünglich zur Auswertung von Gruppendiskussionen. Das in den Gruppendiskussionen von den Diskussionsteilnehmenden Gesagte stellt dabei die Datengrundlage dar. Während die Forschenden zwar einen „selbstläufigen Diskurs (…) [der Teilnehmenden] initiieren“, unterliegt die Datenerhebung einer „klare[n] Organisation der Diskurse“ durch die Gliederung in eine Hauptphase mit thematisch vager und in alle Richtungen offener Erzählaufforderung (Nachfragen nur zum Verständnis) und eine Nachfragephase, in der eine thematische Steuerung in Richtung Forschungsrelevanz vorgenommen wird (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 168 f.). Mit der Auswertungsmethode lassen sich typische Denk- und Handlungsmuster von sozialen Gruppen identifizieren. Außerdem kann erforscht werden, wie es zu diesen kommt und welche Konsequenzen diese für das praktische Handeln haben (ebd., S. 154 f.). Die Methode ermöglicht ein Herausarbeiten von „zugrunde liegende[n] Orientierungen“ aus „Äußerungen über die eigene Alltagspraxis“ (ebd., S. 162). Es kann ein Zu[1]gang „zum handlungsleitenden Wissen“ (Bohnsack 2011, S. 40) gefunden und somit „generationen-, milieu-, bildungs-, alters- und geschlechtsspezifische Ausprägungen“ dieses Wissens (auch im intersektionalen Sinne) erfasst werden (Klee[1]mann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 192). Die Methode ist also für Forschungsprojekte, die „prozessorientierte Einblicke in die Alltagspraxis sozialer Gruppen“ (ebd.) gewinnen wollen, besonders geeignet. Die Dokumentarische Methode nach Bohnsack beruft sich auf die Wissenssoziologie von Karl Mannheim (ebd., S. 155). Laut Mannheim basieren das Denken und Wissen von Menschen auf Erfahrungen. Die Erfahrungen seien abhängig von sozialen Bedingungen und Lebensumständen (z. B. Geschlecht, Generation, Milieu). Diese Erfahrungen wiederum formten Wissen, Einstellungen, Werthaltungen und Orientierungen von Menschen – ihr Denken und ihr Alltagswissen sei „seinsverbunden“ (ebd., S. 154 ff.). Das jeweilige Alltagswissen gäbe das Handeln von Menschen vor. Da dies aber nicht reflektiert würde, könne man Menschen nicht einfach nach ihrem Alltagswissen fragen. Es müsse ein Umweg über Äußerungen, in denen „kollektive Routinen und Orientierungen“ enthalten sind, gegangen werden (ebd., S. 156). Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen Orientierungsschemata (Wissen des Menschen um „soziale Anforderungen an sein Handeln“) und Orientierungsrahmen (selbst gemachte Erfahrungen) und zwischen konjunktivem Erfahrungsraum (handlungsleitendes „kollektiv geteiltes Wissen“ aus gemeinsamen Erfahrungen) und kommunikativem Erfahrungsraum („Nachvollziehen fremder Alltagserfahrungen“ aus gegebenen Informationen) (ebd., S. 157 f.). Nur der Zugang zum konjunktiven Erfahrungsraum eröffne einen Zugang zum Alltagswissen. Weiterhin wird zwischen dem immanenten Sinngehalt (hier: Objektsinn – das, was inhaltlich gesagt wird) und dem dokumentarischen Sinngehalt („das, was eine Äußerung implizit über die Orientierungen, Relevanzen, Normalitätsannahmen, Weltsichten – kurz: über das Alltagswissen von Sprechenden“ ausdrückt) unterschieden (ebd., S. 159 f.). Gruppendiskussionen werden genutzt, um kollektives Alltagswissen erfassen zu können. Insbesondere über Gegenhorizonte (positiv/negativ) können Orientierungen aus den Daten erarbeitet werden (ebd. S. 161). Die Auswertungsmethode ist rekonstruktiv/interpretativ. Es geht um „eine prozessorientierte Rekonstruktion des Alltagswissens“ (was und wie erzählt wird) (ebd., S. 162). Die Transkription der Gruppendiskussionen erfolgt mit hohem Detailgrad (Gleichzeitigkeit von Redebeiträgen, Sprechpausen, Lachen etc. werden deutlich gemacht) (Streblow-Poser 2020, S. 196). Es muss nicht die gesamte Diskussion transkribiert werden – eine Datenreduktion nach Relevanz oder Interaktionsdichte ist üblich. Für die Selektion werden Sequenzen in einem Vorschritt ihrem Thema nach protokolliert (vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 171). Zur Methode gehören sechs Analyseschritte: 1. Formulierende Interpretation (genaue Nacherzählung des Themas des Gesagten und Bestimmung von Unterthemen), 2. Re[1]flektierende Interpretation (Wie wird über das Thema gesprochen?) / 3. Komparative Analyse (Orientierungsrahmen herausarbeiten mit Hilfe von Gegenhorizonten in anderen Fällen und/oder im selben Fall oder „eigene oder fiktive Gegenhorizonte“ verwenden; „tertium comparationis“ verwenden), 4. Diskursverlauf (Eröffnung, Fortführungen, gegenläufige Beiträge, Abschluss von Sinneinheiten nachvollziehen), 5. Diskurs- bzw. Fallbeschreibung (Darstellung grundlegender Orientierungsrahmen), 6. Typenbildung (sinngenetische Typenbildung: Typen mit spezifischen Orientierungsrahmen unter[1]scheiden (themenbezogen, fallvergleichend, abstrahiert), soziogenetische Typenbildung: Erstellung einer Typologie themenübergreifender Orientierungsrahmen) (vgl. ebd., S. 163-182; Michalek 2008). Dabei ist die soziogenetische Typenbildung optional und erst bei einer größeren Anzahl von Fällen sinnvoll (vgl. Streblow-Poser 2020, S. 203; Michalek 2008). Den Gütekriterien qualitativer Forschung versucht die Dokumentarische Methode nach Bohnsack dadurch zu genügen, dass für die Auswahl der Transkriptpassagen andere Forschende hinzugezogen werden sollen (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 172). Außerdem sollen Selbstreflexion und insbesondere die saubere Anwendung der Methode sichergestellt worden sein (ebd., S. 191). Bohnsack selbst gibt an, dass die Generalisierbarkeit der Ergebnisse durch die Verwendung der Komparativen Analyse zustande käme (Bohnsack 2011, S. 44). Wie schon bei der Narrationsanalyse stützt sich die Güte der Ergebnisse auch auf die Nachvollziehbarkeit der Analyse (gute schriftliche Dokumentation der Analyseschritte). Die Methode strebt eine Typenbildung bis hin zur Erstellung einer Typologie an. Sie orientiert sich dabei nicht an bestehenden Theorien. Empirie geleitet können mit ihr zum Beispiel Theorien dazu, warum einzelne Personen bzw. Gruppen in ihrer Alltagspraxis so handeln, wie sie es tun, formuliert werden (vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013, S. 192).
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