Mythos und Märchen entspringen den altertümlichen und ursprünglichen Volkserzählungen. Demzufolge ist die Frage nach der Rolle von Mythos und Märchen in der Postmoderne eine bedeutende. Mit welchen narrativen Motivierungen bedienen sich die Autor*innen der Postmoderne der aus Mythen und Märchen stammenden Elemente?
Die Arbeit soll die Rolle von Mythos und Märchen in der russischen Postmoderne am Beispiel von Tat’jana Tolstajas Erzählungen Poet i muza und Fakir ausarbeiten, um diese abschließend festzuhalten. Es soll gezeigt werden, welche Bedeutung sowie Funktion Mythos und Märchen im Zusammenspiel mit Intertextualität bezüglich der Handlung im postmodernen Erzählen einnehmen. Ebenso soll dargelegt werden, wie die Intertextualität das Verständnis der Erzählungen der Postmoderne der Leserschaft und die Leseerfahrung beeinflusst.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die literarische Postmoderne
2.1 Merkmale
2.1.1 Sinn und Sprache
2.1.2 Subjekt und Autorschaft
2.1.3 Grenzuberwindung, Hinwendung zum Marginalen, Intertextualitat
2.1.4 Wunsch, Begehren und Korperlichkeit
2.1.5 Uberwindung des Phallogenzentrismus
2.1.6 Spiel und Parodie
2.1.7 Geschichte und Macht
2.2 Die literarische Postmoderne in Russland
2.2.1 Geschichtlicher Hintergrund
2.2.1.1 Der sozialistische Realismus
2.2.1.2 Tauwetter und allmahliche Veranderungen in der sowjetischen Literatur
2.2.1.3 Samizdat und Tamizdat
2.2.1.4 Perestrojka und Glasnost‘
2.2.2 Die russische literarische Postmoderne
3. Mythos und Marchen
3.1.1 Definition Mythos
3.1.2 Mythologie im ostslavischen Raum
3.2 Symbolik
3.3 Marchen
4. Verschiedene Motive der Kurzgeschichte
4.1 Farben
4.1.1 Schwarz
4.1.2 Weifi
4.1.3 Gold
4.1.4 Rot
4.1.5 Gelb
4.1.6 Blau
4.2 Muse
4.3 Sud'ba
4.4 Der kristallene Palast
4.5 Die Eule
4.6 Licht und Dunkelheit
4.7 Kultur und Kunst
4.8 Der Traum
4.9 Der Tod
4.10 Finist Jasnyj Sokol
4.11 Schneewittchen
4.12 Die biblische Schopfungsgeschichte: Adam und Eva
5. Tat'jana Tolstaja
6. Tat‘jana Tolstaja: Poet i Muza
6.1 Zusammenfassung
6.2 Allgemeine Merkmale
6.3 Einordnung in die Postmoderne
6.4 Narrative Merkmale und sprachliche Besonderheiten
6.4.1 Polyphonie
6.4.2 Kirchenslawische Elemente
6.4.3 Geschwindigkeit der Erzahlung
6.5 Mythos und Marchen in Poet i muza 32
6.5.1 Nina - die Muse
6.5.2 Finist Jasnyj Sokol
6.5.3 Schneewittchen
6.5.4 Der Kristallpalast
6.5.5 Der Tod des Poeten
6.5.5.1 Grisa - der Poet
6.5.5.2 Der Tod
6.6 Fazit
7. Tat‘jana Tolstaja: Fakir
7.1 Zusammenfassung
7.2 Allgemeine Merkmale
7.3 Einordnung in die Postmoderne
7.4 Mythos und Marchen
7.4.1 Filin, in Gestalt eines Fakirs
7.4.2 Das Ehepaar Galja und Jura und der Siindenfall
7.5 Desillusionierung
7.5 Fazit
8. Vergleich
8.1 Die Traumwelten
8.2 Frauenbild
9. Die Rolle von Mythos und Marchen in der Postmoderne
10. Fazit
11. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mythos und Marchen entspringen den altertumlichen und ursprunglichen Volkserzahlun- gen.1 Demzufolge ist die Frage nach der Rolle von Mythos und Marchen in der Postmo- derne eine bedeutende. Mit welchen narrativen Motivierungen bedienen sich die Au- tor*innen der Postmoderne der aus Mythen und Marchen stammenden Elemente? Die vorliegende Arbeit soll die Rolle von Mythos und Marchen in der russischen Postmo- derne am Beispiel von Tat'jana Tolstajas Erzahlungen Poet i muza und Fakir ausarbeiten, um diese abschlieBend festzuhalten. Es soll gezeigt werden, welche Bedeutung sowie Funktion Mythos und Marchen im Zusammenspiel mit Intertextualitat bezuglich der Handlung im postmodernen Erzahlen einnehmen. Ebenso soll dargelegt werden, wie die Inter- textualitat das Verstandnis der Erzahlungen der Postmoderne der Leserschaft und die Le- seerfahrung beeinflusst.
Tolstaja gilt als eine der wichtigsten Stimmen der gegenwartigen russischen Literatur. Ihre Prosa zeichnet sich durch das Zusammenspiel von etlichen Adjektiven, Metaphern, Sym- bolen, Elementen aus Mythos und Marchen sowie umgangssprachlichen Elementen aus.2Jede Erzahlung Tolstajas eroffnet den Leser*innen eine Welt von Metaphern, mythi- schen sowie literarischen Bezugen, und Symbolen. 3 Aufgrund dessen konnen die Le- ser*innen in den Mikrokosmos der Protagonist*innen eintauchen und finden sich im Geiste dieser wieder. Im Rahmen dieser Arbeit soll der Zusammenhang von Realitat und Fantasie in Bezug auf die Handlung und das Leseverstandnis diskutiert werden. Intertextualitat gilt als ein charakteristisches Merkmal Tolstajas Werke.4 Daher fiel die Entscheidung auf die Erzahlungen Poet i muza und Fakir, um die Rolle von Mythos und Marchen in der russi- schen Postmoderne zu erforschen.
Der Forschungsstand zu der literarischen russischen Postmoderne zeichnet sich durch die Vielseitigkeit und die Unterschiede der Standpunkte der Literaturforscher*innen aus, was sie anfangs unmoglich zu definieren erscheinen lasst. Die Ambivalenz ist eine der bestim- menden Grundideen der Postmoderne. Dieser Eindruck begrundet sich in den deutlichen Widerspruchen, wenn verschiedene Theorien der Postmoderne gegenubergestellt werden.5 Im Rahmen dieser Arbeit ist es nicht moglich, einzelne Theorien zu analysieren und die Widerspruche dieser zu veranschaulichen. Als primare Quelle und Theorie, um die Merk- male der Postmoderne zu beschreiben, dient daher der Artikel „Das Motiv des Straflagers in der russischen Literatur der Postmoderne“ von Ekaterina Vassilieva. Hinsichtlich der zwei Kurzgeschichten Poet i muza und Fakir von Tat'jana Tolstaja ist die Menge der Se- kundarliteratur gering. Fur die Analyse und Interpretation waren „Tatyana in the turmoil of Postmodernism“ (Tamara Alagova), „Narrative structure in the prose of Tat'jana Tolstaja“ (Sophia Teresa Wisniewska) und „The Explosive World of Tatyana N. Tolstaya's Fiction“ (Helena Goscilo) die wesentlichen Quellen. Die geringe Menge an Sekundarliteratur, wel- che sich explizit auf die Kurzgeschichten beziehen, ermoglicht eine gewisse Interpretati- onsfreiheit im Rahmen dieser Arbeit.
Im Folgenden wird das Vorgehen der Arbeit beschrieben. Das anknupfende Kapitel 2 be- schaftigt sich mit der literarischen Postmoderne im Allgemeinen und dem Bezug zur Rus- sischen Postmoderne. In Kapitel 2.1 werden die wesentlichen Merkmale der Postmoderne strukturiert zusammengefasst und anknupfend wird auf die literarische Postmoderne in Russland eingegangen (Kapitel 2.2). In Kapitel 2.2.1 wird der geschichtliche Hintergrund der Sowjetunion umrissen, um in Kapitel 2.2.2 die russische literarische Postmoderne fun- diert beschreiben zu konnen. In Kapitel 3.1 wird Mythos zuerst im Allgemeinen definiert, anschlieBend folgt eine Beschreibung der Mythologie im ostslavischen Raum. In Kapitel
3.2 wird die Rolle von Marchen beschrieben.
In Kapitel 4 werden verschiedene Motive erlautert, welche fur die Interpretationen der Kurzgeschichten Poet i muza und Fakir von Tat'jana Tolstaja von grundlegender Bedeu- tung sind. Kapitel 5 beschaftigt sich mit Tat'jana Tolstaja als Autorin und ihren Werken allgemein. In Kapitel 6 und 7 werden die Erzahlungen Poet i muza und Fakir illustriert. Ferner werden Zusammenfassungen von den jeweiligen Kurzgeschichten und anschlieBend eine jeweils detaillierte Analyse und Interpretation anhand von allgemeinen und narrativen Merkmalen gegeben. Daraufhin werden die Kurzgeschichten in die Postmoderne eingeord- net und die darin enthaltenden Motive interpretiert. AbschlieBend erfolgt jeweils ein Fazit, in welchem die Rolle der Mythologie und des Marchens in den Kurzgeschichten zusam- mengefasst werden. Der Fokus dieser Arbeit liegt auf Poet i muza. Die narrativen Merkma- le und Polyphonie werden detailliert analysiert. Die Analyse von „Fakir“ dient mehr zur Bestatigung der bereits festgestellten Erkenntnisse. In Kapitel 8 werden die Kurzgeschich- ten einander Poet i muza und Fakir gegenubergestellt. In Kapitel 9 wird in Bezug auf die Erzahlungen die Rolle von Mythos und Marchen in der russischen Postmoderne ausgear- beitet und festgehalten. In Kapitel 10 erfolgt das abschlieBende Fazit der Arbeit.
2. Die literarische Postmoderne
Der Begriff und das Verstandnis der „Postmoderne“ besteht in den westlichen Literatur- wissenschaften seit den 1960er Jahren und kennzeichnet sich im Wesentlichen durch neue Denkmuster, Weltanschauungen und kunstlerische Verfahren. Zu einer der bestimmenden Grundideen der Postmoderne gehort eine gewisse begriffliche Ambivalenz, wodurch sie eindeutige Aussagen uber den Text und uber sich selbst verweigert.6 Die literarische Epo- che der Postmoderne kann Vassilieva zufolge bestenfalls als die uber sich selbst reflektie- rende Moderne verstanden werden, jedoch keineswegs als ausschlieBlich eine Reaktion auf diese. Die Postmoderne ist Resultat der Abneigung gegenuber den sozialen, asthetischen und ideologischen Werten der ehemaligen Sowjetunion. Sie strebt eine kritische Distanz zu ihrer eigenen Situation an, wahrend sie sich bewusst ist, dass sie als Epoche in die zu ana- lysierenden Prozesse und Strukturen zu involvieren ist. Die prinzipielle Skepsis gegenuber rationalen Welterklarungsmodellen, bestehender Wertesysteme und legitimierenden Ideen, welche das Ziel verfolgen, menschliches Handeln zu lenken, ist auf verschiedene histori- sche Ereignisse zuruckzufuhren.7 „Die Unmoglichkeit der Definition der Postmoderne ist zugleich ihre einzig mogliche Definition. “ 8 - so Roger Behrens. In den folgenden Unterkapiteln wird demzufolge nicht der Versuch unternommen, die lite- rarische Postmoderne zu definieren. Stattdessen ist das Ziel, die Epoche der Postmoderne in ihrer Vielschichtigkeit zu beschreiben, um ihr den Raum zu geben, den eine strikte Definition nicht zulasst.9 Fur ein allgemeines Verstandnis werden im Kapitel 2.1 die wesentli- chen Merkmale der Postmoderne im Allgemeinen konkretisiert. Im anschlieBenden Kapitel
2.2 wird die literarische Epoche der Postmoderne in Russland umrissen.
2.1 Merkmale
2.1.1 Sinn und Sprache
In der literarischen Postmoderne veranderte sich die Sprache und der damit verbundene Sinn erheblich. Somit wurde auch die Art und Weise des Schreibens beeinflusst. Sprach- zeichen unterliegen nach der poststrukturalistischen Wende in den Geisteswissenschaften in den 1970er Jahren keiner festgelegten Ordnung mehr, wodurch die Bedeutung von Sig- nifikat und Signifikant grundsatzlich in Frage gestellt wird. Mit Signifikat ist das Bezeich- nete - die Inhaltsseite - und mit Signifikant die Bezeichnung - die Ausdrucksseite - des sprachlichen Zeichens gemeint. Ferdinand de Saussure zufolge sind physische sprachliche Zeichen beliebig. So konnen sie ohne naturlichen Zusammenhang zum real bezeichneten Gegenstand stehen, da sie im Bewusstsein eines jeden Individuums lediglich durch Assozi- ationen verknupft sind. Rezipierte Ausdrucksmittel und sprachliche Zeichen basieren dem- zufolge auf Kollektivgewohnheiten, mit welchen die Autor*innen in der Postmoderne spie- len, mitunter auch bis zum Punkt des Bruchs.10 Demzufolge kann die Sprache in der Post- moderne unendlich viele verschiedene Sinnzusammenhange entwickeln. Der Sinn, welcher anfanglich ubermittelt werden sollte, ist fur die Leser*innen nicht mehr greifbar oder ein- deutig deutbar. Die grundsatzliche Frage nach dem Sinn oder auch nach der Abwesenheit des Sinnes zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Epoche, welche Kritik an ei- nem metaphysischen Weltbild ausubt.11 Die Kunstler*innen der Postmoderne wollen zum metaphysischen Bestandteil der Sprache zuruckkehren. Das Prinzip „das Ausgedruckte existiert nicht auBerhalb seines Ausdrucks“12 steht hier im direkten Zusammenhang. Diese Entwicklung zeigt sich in der literarischen Postmoderne ebenfalls an dem steigenden Inte- resse am Prasentem und Materiellem.13 Auch sprachliche Experimente, Neologismen und syntaktisch unubliche Konstruktionen sind typisch fur die Literatur der Postmoderne. Die absolute Wahrheit existiert innerhalb dieser Stromung nicht mehr, da alle Menschen in einer individuellen Welt mit subjektiven Wahrheitsvorstellungen leben. Die Postmoderne ersetzt die Suche nach dem Sinn durch die Konstruktion von Sinn. Vertrauen in den hohe- ren Sinn der menschlichen Existenz geht verloren. Der Mensch in der Postmoderne muss den Sinn tagtaglich fur sich selbst erschaffen, da dieser nicht mehr vorgegeben ist.14
2.1.2 Subjekt und Autorschaft
Der veranderte Umgang mit Subjekt und Autorschaft ist charakteristisch fur die Postmo- derne. Kunstler*innen in der Postmoderne ist bewusst, dass der Mensch durch auBere, fremdbestimmte Zwange - welche sozialer, psychologischer oder sprachlicher Natur sein konnen - dominiert wird. Infolgedessen kommt es zum Verlust der festen Identitat des selbstbestimmten Subjekts, wie es die Wissenschaft beispielsweise aus der Epoche der Aufklarung kennt. Das Subjekt in der Postmoderne verfugt grundsatzlich uber gestaltlose und mechanische Zuge, es wird als fremdbestimmt verstanden. Die Auflosung des moder- nen Subjekts in der literarischen Postmoderne zeigt sich vor allem im veranderten Status der Autor*innen, welche sich um ihre Unauffindbarkeit bemuhen. Wenn man Werke der Postmoderne liest und analysiert, beschaftigt man sich ausschlieBlich mit der fiktiven Figur und den Masken, welche die Autor*innen fur sich in ihrer Inszenierung in diesem Werk gewahlt haben. Die Autor*innen fokussieren sich bei dem Schreiben auf die Leser*innen, deren Leseerfahrung und die damit verbundene Textaufnahme. Sie sind nicht mehr fur die Geschichte an sich, die Intention oder die Organisation des Textes verantwortlich. Die Au- tor*innen der Postmoderne verfugen dem Text und der Leserschaft gegenuber uber eine uneingeschrankte kunstlerische Freiheit und konnen bei der Textanalyse und Interpretation nicht mehr als eine, das literarische Werk in jeglichen Aspekten kontrollierende Instanz verstanden werden. Die Autor*innen befinden sich eher im Hintergrund. Folglich findet in der literarischen Postmoderne eine grundlegende Umstrukturierung statt: die Rezeption der Lesenden gewinnt an Bedeutung im Vergleich zur Intention der Schreibenden. Bei dem der Postmoderne zugehorigen Text handelt es sich nicht mehr um ein geschlossenes selbster- klarendes Gebilde. Aufgrund dessen ist fur das Textverstandnis die Selbstinszenierung der Autor*innen von erheblicher Bedeutung. Das simultane Erzahlen in der Postmoderne for- dert nicht nur das Interesse der Leser*innen am fiktiven Charakter des postmodernen Tex- tes, sondern auch am entworfenen Weltbild, welches sich im Bewusstsein der Leser*innen als zumindest realistisch etablieren soll.15
2.1.3 Grenzuberwindung, Hinwendung zum Marginalen, Intertextualitat
Die Veranderung von sprachlichen Mitteln und dem Verstandnis von Autorschaft ermog- licht die fur die literarische Postmoderne kennzeichnende Grenzuberwindung, Hinwen- dung zum Marginalen und Intertextualitat als literarisches Phanomen.
Grundsatzlich werden in der Postmoderne jegliche Grenzen verworfen. Auf die Trennung von Unterhaltungs- und Kunstliteratur, sowie auf die Unterscheidung von elitarer und Massenkultur, wird verzichtet. Fiktionale und nichtfiktionale Gattungen verschmelzen mit- einander. Die Realitat als unumstrittenes und altbekanntes Konstrukt existiert nicht mehr, da sie in der Postmoderne als irrational und unerkennbar erscheint. Die Existenz und Be- deutung von der vermeintlichen Realitat sind genauso bedeutsam, wie die von Fantasie und Illusion. Im postmodernen Bewusstsein sind alle moglichen Realitaten aquivalent, infolge- dessen verschwindet die Grenze zwischen Realem und Fiktiven im postmodernen Text.16 Das Interesse daran, das einst Ausgeschlossene und Tabuisierte in den Fokus zu rucken, wachst in dieser Epoche deutlich. Werke in bis dato missbilligten Genre, wie Kriminalro- mane, Science-Fiction oder pornographische Literatur gewinnen an Beliebtheit. Das Be- streben, hohe und niedrige Kultur miteinander zu verbinden, fuhrt die Autor*innen der Postmoderne zum Phanomen des vielschichtigen Schreibens, welches auf unterschiedli- chen Ebenen literarisch erkannt werden kann. Intertextualitat, Metafiktion, Metatextualitat und Metarealismus sind hierbei charakteristische Merkmale und ermoglichen es der Post- moderne, sich in ihrer literarischen Form maximal zu entfalten.17
Die Vorsilbe „meta“ lockt eine Realitat hervor, welche sich nicht mehr in der ursprungli- chen empirischen Dimension befindet. Wahrend Metaphern mit der Realitat der realen Welt spielen, versucht der Metarealismus eine alternative Realitat zu erschaffen. Der Me- tarealismus stellt den Realismus der Metapher dar, welche die Realitat im Spektrum ihrer tatsachlichen und moglichen Transformationen umfasst. Metarealismus bezeichnet demzu- folge eine neue poetische und literarische Form, welche sich von konventionellen Zwangen befreit und eine neue Perspektive und Herangehensweise an die Metapher ermoglicht. Im Metarealismus wird ihr Sinnbild erfasst sowie ihre figurative Bedeutung eingegrenzt und transzendiert. Die Aufgabe der Autor*innen besteht darin, die Reihenfolge der Darbietun- gen des Geschehens aus verschiedenen Perspektiven abzustimmen und Kontexte explizit einzufuhren. Den Leser*innen wird uberlassen, Relationen zwischen den Informationen herzustellen. Die Autor*innen nehmen demnach eine zuruckgestellte Rolle ein. Die scheinbare Offenheit der Interpretation fuhrt, wenn alle Perspektiven gleichermaBen be- rucksichtigt werden, zu einer fraktalen Struktur des Textes. Verschiedene Details, welche uber einen marginalen Charakter verfugen, werden in unterschiedlichen Kontexten wieder- holt. Die Konnexion der Kontexte vernichtet das eigentliche Ereignis und zeigt, dass die vermeintliche Offenheit der Interpretation eine Sackgasse ist.18
Die Intertextualitat und der Aspekt des „Meta“ sind demzufolge literarische Verfahren und grundlegende Prinzipien fur die Literatur der Postmoderne zugleich. Jedes Werk vermag, unendliche Verweise und Beziehungen zu anderen Texten aufzuweisen. Durch die zuruck- gestellte Rolle der Autor*innen und die veranderte Art und Weise des Schreibens sind alle moglichen Realitaten aquivalent. Diese zuruckgestellte Rolle der Autor*innen begrundet sich im Bedurfnis der dynamischen Wirklichkeit der Postmoderne gerecht zu werden - „der Wirklichkeit, die um kein Zentrum mehr kreist und durch unendliche Verkuppelungen strukturiert wird.“19
2.1.4 Wunsch, Begehren und Korperlichkeit
Die veranderte Auffassung von Wunsch, Begehren und Korperlichkeit gehort ebenfalls zu den wesentlichen Merkmalen der Postmoderne. Der sinnliche Welt- und Kunstzugang wird zur Antinomie des eisernen Systemdenken, welches im Verlaufe der Postmoderne immer mehr Ablehnung erfahrt. Im Zusammenhang von Begehren und Korperlichkeit wird die Auffassung verfolgt, dass die erotische Hingabe der Leserschaft an den Text als forderlich zu betrachten sei und die Leser*innen, wenn sie sich auf das Spiel der Bedeutungen einlas- sen, verfuhrt und betort werden. Die Lust am Text verfugt nach R. Barthes jedoch uber zwei verschiedene Formen. Zum einen die „plaisir“, die behagliche Freude, welche durch die „Entblatterung der Wahrheit und der Herstellung der logischen Sinnzusammenhange“20 entsteht und zum anderen die „jouissance“, welche dem Gefuhl der Wollust ahnelt. Die „jouissance“ charakterisiert sich durch ihre masochistischen Zuge und Texte, die festgeleg- te Sprach- und Sinnstrukturen zerstoren. Durch diesen Vorgang wird die Leserschaft in ihrer eigenen kulturellen Identitat verunsichert, was wiederum dazu fuhrt, dass die Hingabe dem Text erleichtert und den Leser*innen Eindrucke und Gefuhle ermoglicht werden, wel- che mit einem sexuellen Erlebnis mithalten konnen. Das Verstandnis des Textes als Korper ebnet den Weg zur Asthetik der Lust. In dieser Asthetik der Lust wird die traditionelle Diskrepanz zwischen Logos und Eros aufgegeben. Die Betonung des Korperlichen und Sexuellen ist charakteristisch fur die Postmoderne. Das Interesse am Unbewussten des Menschen und die Psychoanalyse stehen damit in engen Zusammenhang. Die Libido wird als eine unendliche „Bewegung der Intensitaten“ gesehen, die allgegenwartig und grenzen- los ist. Die Libido des Menschen fungiert also als grundlegendes und den Menschen steu- erndes Element. Der veranderte Umgang mit Sexualitat und Korperlichkeit ist seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts aktuell und lasst sich mit der Ablehnung von puritanischen Moralvorstellungen verbinden.21 Die Einsicht in die Grenzen der „Befreiung der Instink- te“22, welche als abstraktes, intellektuelles Konstrukt begriffen werden, macht dieses Phanomen erst zu einem Bestandteil des postmodernen Weltbildes.23
2.1.5 Uberwindung des Phallogenzentrismus
Ein weiteres bedeutendes Merkmal ist zudem die Uberwindung des Phallogozentrismus. Der Phallogozentrismus meint die dominierende Stellung des Mannlichen im abendlandi- schen Denken. Die Hinterfragung der Kategorien des Mannlichen und Weiblichen ist das Produkt der Kritik an einem Weltmodell, welches von einem festen Zentrum ausgeht und hierarchisch aufgebaut ist. Laut Derrida existiert die in der westlichen Kultur ubliche Di- chotomie der Geschlechter zur Ermoglichung der Ausgrenzung des Weiblichen, welches eine unbedeutende Position innerhalb der mannlich zentrierten Ordnung einnimmt. Die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Geschlechterhierarchien und die Suche nach der weiblichen Stimme gehoren zu den kennzeichnenden Merkmalen der Postmoderne. Die weibliche Seite ist hierbei mit der Auflehnung gegen bewusste und unbewusste mannliche Denkmuster verbunden; so setzt das sogenannte weibliche Schreiben nicht vo- raus, dass die entsprechenden Autor*innen dem weiblichen Geschlecht zugehorig sind. Die Weiblichkeit in der Schrift zeichnet sich durch die Skepsis gegen den Absolutismus, einen spielerischen Gestus, geringerer Subjektzentrierung, Instabilitat, Kontrollverlust und Irrati- onalitat aus. Das mannliche Subjekt ist ebenfalls instabil und enteignet sich selbst im Text durch den Versuch, sich die Welt schreibend anzueignen. So verfugen die meisten postmo- derne Texte uber eine weibliche Seite, welche in den vorherigen literarischen Epochen eingegrenzt und vermindert wurde. Hier ist gleichermaBen die Aquivalenz der Realitaten als Wegebner zu betrachten, welche das Ausbrechen aus einer mannlich dominierten und hierarchisch organisierten Wirklichkeit ermoglicht.24
2.1.6 Spiel und Parodie
Das „Spiel“ gilt in der Postmoderne als bewusste literarische Strategie, welches die Bezie- hung zwischen Leser*innen und Text organisiert. Da sich die Autor*innen jeglicher Ver- antwortung bezuglich des Textes entziehen, verfugt er uber die Moglichkeit, die Le- ser*innen zu verwirren, zu mystifizieren und mit seinen Stereotypen und Erwartungen zu spielen.25 Die Fahigkeit, „den Text zu spielen“26 ist eine absolute Voraussetzung und all- gemeines Prinzip fur die Leserschaft. Lediglich durch einen spielerisch-aktiven Zugang konnen die Texte ihre volle Entfaltung erreichen. Die Unmoglichkeit, das Ernste vom Spielerischen zu trennen, lasst sich darauf zuruckfuhren, dass sich die parodistische Dimension auf jegliche Textelemente erstreckt sowie auf die Abstinenz aller absoluten Wer- te. Die Parodie kann sich nicht mehr auf eine stabile Instanz berufen, welche die Rolle der „Normalitat“ einnehmen wurde. Das Verschwinden der Autor*innen als verantwortungs- tragende Instanz bezuglich des Textes ermoglicht ihm das Nutzen der vollstandigen Gren- zenlosigkeit des postmodernen Spiels.27 Charakteristisch fur die Postmoderne ist ebenso die Ironie. Die Parodie der Postmoderne verfugt uber die Eigenschaft, „ihren Gegenstand zugleich zu bestatigen und zu widerlegen, was die Unzuverlassigkeit jeglicher Rep- rasentationen andeutet.“ 28 Die narrative Strategie, Aussagen hinsichtlich eines Themas durch verschiedene einander widersprechende Aussagen zu relativieren, ist typisch fur die Epoche.29 Der klassische Ironie-Begriff wird von mehreren Literaturforscher*innen wie beispielsweise Epstein als unzureichend empfunden, da die zu parodierenden Strukturen nicht zu einer bestimmten Handlungsfigur oder Figurengruppe gehoren, sondern im kol- lektiven Bewusstsein verankert sind, von dem sich nicht einmal die jeweiligen Au- tor*innen befreien konnen.. Durch fehlende Distanz zum parodierten Objekt durfen post- moderne Texte weder als humoristisch noch als ironisch im herkommlichen Sinn aufge- fasst werden.30
2.1.7 Geschichte und Macht
Dem Geschichtsbegriff wird in der literarischen Postmoderne eine besondere Bedeutung zugesprochen. Die Methoden der klassischen Geschichtswissenschaften werden als unzu- reichend angesehen. Die Kunstler*innen der Postmoderne beschuldigen die Methoden von einer bewussten Lenkung der Ereignisse durchdrungen zu sein. Foucault zufolge verfugt die Geschichte uber kein Wesen, welches sich zielgerichtet entwickeln oder an einem ubergeordneten Wahrheits- oder Gerechtigkeitsprinzip gemessen werden kann: sie wird von anonymen Kraften und Strategien dominiert und kann keine Objektivitat erfahren, da kein Standpunkt auBerhalb der Zeit existiert. Die politische Macht verfugt ebenfalls uber keinen festen Standort und wird als Krafteverhaltnis begriffen, welches sich im standigen Wandel befindet. Als das wahre Anliegen jeder Macht wird Disziplinierung und Normali- sierung gesehen. Institutionen wie Schule, Armee, Gefangnis und Spital sind Instrumente, welche Macht aktiv ausuben. Der Diskurs um Wissen und Wahrheit wird von der Macht genutzt, um das Subjekt zu unterwerfen. Die Macht ist laut Foucault allgegenwartig.
Im Gegensatz zu Foucault ist Macht fur Baudrillard nichts mehr als ein Trugbild, welche das Verlangen des Menschen nach einer Macht stillen soll, da eine wahrhaftige Macht in dem Zeitalter von Simulation und Hyperrealitaten nicht mehr existieren kann. Baudrillard bezeichnet die Phase nach dem Verschwinden der Geschichte als Posthistoire. Er gibt Me- dien fur das Verschwinden der Geschichte die Schuld, da es durch die von den Medien erschaffene Mehrzahl der kunstlichen, simulierten Realitaten unmoglich wird, die richtige Wirklichkeit zu erkennen. Deswegen existieren parallel mehrere Geschichten, die sich alle gleichzeitig als korrekt und falsch erweisen. Fur Lyotard fuhrt die Krise der Geschichte zu einer Krise des glaubwurdigen Erzahlens in der postmodernen Literatur. Dadurch kommt es zum Ende der sogenannten „groBen Erzahlungen“. Lyotard bewertet die Bewaltigung der Vergangenheit durch ihre Beschreibung und Deutung insofern als problematisch, da immer Teile, die nicht in das Weltbild der Autor*innen passen, vermieden werden. Diese Teile kehren aber unbemerkt zuruck und „nehmen die Gestalt unfreiwilliger, an die Traumarbeit erinnernden Wiederholungen an“31. Die postmodernen Schriftsteller*innen zeigen das kollektive Trauma, indem er „das Verdrangte ans Tageslicht fordert und gleich- zeitig einer Analyse unterzieht“32.33
2.2 Die literarische Postmoderne in Russland
2.2.1 Geschichtlicher Hintergrund
Im Folgenden wird der geschichtliche Hintergrund der Postmoderne in Russland vielmehr der ehemaligen Sowjetunion beschrieben und erlautert. Der Fokus wird hierbei insbeson- dere auf die russische Literatur gelegt. Dies ist fur das Verstandnis der literarischen Epoche der russischen Postmoderne von elementarer Bedeutung.
2.2.1.1 Der sozialistische Realismus
Der sozialistische Realismus findet seinen Ursprung in der totalitaren Lenkung der Litera- tur in den 1930ern Jahren. Am 23.04.1932 wurde der Vielfalt der Literatur durch die Ver- ordnung O perestrojke literaturno- chudozestvennych organizacij ein Ende gesetzt. Infol- gedessen kam es zu einer kulturellen Gleichschaltung. Eine organisatorische und kunstthe- oretische Vereinheitlichung uber mehr als zwei Jahrzehnte wurde durch den einheitlichen „Sowjetischen Schriftstellerverband“ gesichert. 34 Der sozialistische Realismus ist grund- satzlich als staatliche Institution, kunstlerischer Kanon und Ausdruck politischer Mythen zu betrachten. Die ideologisch-propagandistische Kunstdoktrin lautete Narodnost‘, Ide- jnost‘ und Partijnost‘. Narodnost‘, die Volkstumlichkeit, meint eine ideologisch gefilterte Wiederspiegelung der Wirklichkeit, eindeutig positive Heldenfigur und die Ideologisierung des Kampfes fur eine bessere Zukunft. Idejnost‘ lasst sich als sittliche Ambition der sozia- len Wahrheit und Interessen des Volkes der Sowjetunion zu dienen beschreiben. Partijnost 'als Grundprinzip meint, dass die Wirklichkeit aus dem Blickwinkel, der in dem Namen des Proletariats handelnden Partei bewertet und betrachtet werden soll.35
Die Kunstlehre des Sozialistischen Realismus forderte von den Kunstler*innen eine „wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung in ihrer revolutionaren Entwicklung“36. Hierbei wurde vorausgesetzt, dass die Wahrheitstreue und historische Akkuratesse in der kunstlerischen Darstellung „mit der Aufgabe der ideologischen Umbildung und Erziehung der Werktatigen verbunden“37 sind. Samtliche sprachliche Experimente und poetische Ver- fahren wurden verboten, der sogenannte Zwang zur Normalitat entstand. Die Sowjetlitera- tur kann als Verbindung der zwei literarischen Stromungen - Romantik und Realismus - des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Der Realismus wurde als die Methode genutzt, die Welt nachzuahmen und die Romantik, um eine optimistische Weltanschauung zu er- schaffen. Die stalinistischen Sauberungen in den Jahren von 1936-38 betrafen unzahlige Schriftsteller*innen, da das damalige System die Rolle der Literatur in einer Gesellschaft uberschatzte und Literatur als Gefahr fur das System klassifizierte. 38 Daraufhin folgte die Instrumentalisierung der Literatur und der erste Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller*innen im August 1934 in Moskau. Dieser legte die neuen literarischen Richt- linien und die Doktrinen des Sozialistischen Realismus fest. Die festgelegten Postulate sind, dass die Schriftsteller*innen das Leben kennen mussen, um es wahrhaft darzustellen. Kunst muss tendenzios sein und an die Stelle einer Romantik alten Typs tritt eine Roman- tik neuen Typus - eine revolutionare Romantik. Der sozialistische Realismus wird zur verbindlichen kunstlerischen Methode. Die Literatur sollte vor allem eine sozialpadagogische Funktion erfullen und die Weltanschauung soll sich auf den Marxismus-Leninismus aus- richten. Die Uberzeugung, dass es sich bei der Geschichte um das Produkt von starken Personlichkeiten handelt, steht in direkten Zusammenhang mit dem wachsenden Personen- kult, welcher in Film und Lyrik insbesondere zum Ausdruck kam. Der Lenin- und Stalin- kult band die Bevolkerung an das politische System und die entsprechenden Ideale.39 Jegliche Abweichungen von asthetischen und ideologischen Normen wurden nicht publi- ziert und als ruckschrittlich betrachtet. Autor*innen, die solche Literatur verfassten, wur- den verfolgt, inhaftiert oder hingerichtet. Viele Geisteswissenschaftler*innen und Schrift- steller*innen widersetzten sich der Gleichschaltung, in dem sie aus eigenem Willen ins Ausland fluchteten oder sich in die innere Emigration zuruckzogen. 40
2.2.1.2 Tauwetter und allmahliche Veranderungen in der sowjetischen Literatur
Nach Stalins Tod am 05.03.1953 setzte die Periode des Tauwetters ein. Sein Tod und die darauffolgende Beisetzung zahlen zu den markantesten Einschnitten der Geschichte der Sowjetunion. Die Entstalinisierung erfolgt anfangs insbesondere in dem Schmalern von Stalins Personenkult. „Tauwetter“ wird Leitwort der poststalinistischen Etappe. Es fungiert als Symbol fur die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Der Otte- pel‘ richtete sich gegen die Unaufrichtigkeit in der Kunst. Prinzipien der Sowjetunion durf- ten zwar nicht offiziell hinterfragt werden, jedoch loste sich die sowjetische Kultur allmah- lich von seinen kunstlichen Zwangen. Zwischen 1953 und 1964 werden alle wesentlichen Kriterien der Literatur der Stalin-Zeit umgekehrt, der Schwerpunkt der Handlung wird auf das Innenleben der Charaktere gelegt.41 In der Breznev-Ara werden nicht erwunschte Au- tor*innen zwar nicht mehr liquidiert, jedoch wird die Dissidentenbewegung konsequent kleingehalten. Trotz Diskriminierungen, Verhaftungen, Verurteilungen und Verbannungen halt sich das politisch-literarische Dissidententum am Leben. Es kommt zur Ausweisung von unerwunschten Schriftsteller*innen und schlieBlich zur dritten Emigration. Die Litera- tur entwickelt sich zu einem wahrhaften Realismus, welcher sich mit den „echten“ Men- schen der Sowjetunion und deren Konflikten in verschiedenen Lebensbereichen beschaf- tigt. Die Junge Prosa um 1960 erschafft eine neue Art des Erzahlens. Es erfolgt ein Bruch der Regeln des Sozialistischen Realismus. Die neue Prosa in den 1970er Jahren uberwindet die Thematiken und Mittel der Jungen Prosa und thematisiert sowohl Geschichte als auch Gegenwart. Die russische Literatur ist seit Beginn des Tauwetters in konservative und libe- rale Autor*innen gespalten. 42
2.2.1.3 Samizdat und Tamizdat
Literarische Werke wurden in dieser Periode der Sowjetunion mithilfe von inoffiziellen Artikulationswegen vervielfacht und im engen Freundeskreis weitergereicht. Um die offi- zielle Zensur zu umgehen, entstehen zwei Bewegungen: Samizdat und Tamizdat. Der Samizdat (caMU3gaT) bildet eine Analogie als Eigenverlag zum machtigen Staatsverlag Gosi- zdat. Der Samizdat vervielfaltigte und verbreitete illegal schriftliche Erzeugnisse in Form von Abschriften. Diese Abschriften wurden auf unterschiedliche Art und Weise erzeugt, meist mittels Schreibmaschine oder mithilfe von Photokopien, Mikrofilmen sowie Ton- bandaufzeichnungen. Die Anzahl der Auflagen war in der Regel gering, jedoch wurden alle gelesen. Der Tamizdat (TaMU3gaT) entwickelte sich gleichermaBen aus dem Bestreben die Zensur zu umgehen. Manuskripte verschiedener Autoren wurden heimlich in den Westen gebracht und dort gedruckt, da diese aufgrund der Zensur in der Sowjetunion nicht in den staatlichen Verlagen gedruckt werden durften. Der Tamizdat entsprang meist dem Samizdat. Diese Ausgaben kamen auf dem gleichen Weg illegal zuruck in die Sowjetunion in die Netzwerke des Samizdat, um sie an die Menschen zu bringen. Das Verlegen im Aus- land wurde 1929 offiziell verboten.43
2.2.1.4 Perestrojka und Glasnost‘
Die Perestrojka steht symbolisch fur die Prozesse der Umgestaltung und die damit verbun- denen „qualitativen Reformen der sozialistischen Gesellschaftsordnung, in deren Folge es zu einer umfassenden Erneuerung und Umgestaltung des gesamten sozialistischen Systems und letztlich zu dessen scheitern kam.44
Die Systemreform beinhaltete Elemente von Marktwirtschaft, sozialistischem Rechtsstaat, sozialer Gerechtigkeit, Herstellung von Transparenz und Offentlichkeit bei politischen Entscheidungsprozessen und insbesondere auch die Aufarbeitung der stalinistischen Ver- gangenheit. Die Perestrojka beeinflusste den literarisch-kulturellen Bereich nachhaltig. 1987 kam es zur Entlassung politischer Gefangener und Auflosung der Straflager. Der auf die Perestrojka folgende „Krieg der Positionen“ in der Literatur und geistige Antagonis- men fuhren 1989/90 zu angeregten Diskussionen in der Literatur. Es folgt ein Ablauf in drei Schritten: in den Jahren 1985-87 wurde der Informationsgehalt der Presse aufgewertet, 1987- 89 kam es zu einer Abmilderung der Zensur und 1989-91 verdrangte die alternative Kunst schlussendlich den Sozialistischen Realismus. Wahrend das liberale Lager eine Mo- dernisierung der sowjetischen Lebensweise nach dem Vorbild des westlichen Pluralismus anstrebt, orientiert sich das konservative Lager an national-russischen Traditionen und Ide- alen. Grundsatzlich wurden offentliche Diskurse in der Sowjetunion durch zahlreiche Ta- buisierungen eingeschrankt. Betroffen waren davon beispielsweise das politische System und Wurdentrager, geschichtliche Ereignisse, soziale Lage und Sexualitat. Es kommt zu einer ideologischen Offnung, Wiederentdeckung und Veroffentlichung von Autor*innen des Silbernen Zeitalters und aus der Emigration.
1 Vgl. M. Nikolajeva 2003, S.138-140.
2 Vgl. S. Wisniewska 1992, S.ii, S.7, S.27.
3 H. Goscilo 1996, S.154.
4 Vgl. T. Alagova 2000, S.149.
5 R. Behrens 2004: S.8 zitiert nach E. Vassilieva 2014, S.12; E. Vassilieva 2014, S.12.
6 Vg. E. Vassilieva 2014, S.12.
7 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.13; N.N. Shneidman 1988-1994 zitiert nach T. Alagova 2000, S.33.
8 R. Behrens 2004: S.8 zitiert nach E. Vassilieva 2014, S.12.
9 Vgl. M. Leonova 2014, S.5.
10 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.14; F. De Saussure 2001, S.78f., S.14, S.80f..
11 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.14, T. Alagova 2000, S.28.
12 G.Deleuze 1993, S.40, zitiert nach E. Vassilieva 2014, S.15.
13 Vgl. M. Eppstein 1999, S.x (Introduction).
14 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.15; T. Alagova 2000, S.38.
15 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.16f.; M. Leonova 2014, S.126; A. Alagova 2000, S.170.
16 Vgl. T. Alagova 2000, S.38; E. Vassilieva 2014, S.18.
17 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.19-20.
18 Vgl. M. Leonova 2014, S.126; M. Epstein 1999, S.106 und S.116-119.
19 E. Vassilieva 2014, S.21.
20 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.22.
21 Vgl. M. Epstein 1999. S.7 u. S.16-18.; E. Vassilieva 2014, S.22-24.
22 E. Vassilieva 2014. S.23.
23 Vgl. M. Epstein 2005, S.21 und 23 Vgl. In E. Vassilieva 2014, S.23; Vgl. M. Epstein 1999, S.16.
24 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.27-28.
25 Vgl. M. Leonova 2014, S.126.
26 E. Vassilieva 2014, S.27.
27 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.27-28.
28 E. Vassilieva 2014, S.28.
29 Vgl. M. Leonova 2014, S.126.
30 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.28.
31 E. Vassilieva 2014, S.26.
32 E. Vassilieva 2014, S.26.
33 Vgl. E. Vassilieva 2014, S.24-26.
34 Vgl. A. Guski 2011, S.321.
35 Vgl. M. Freise 2017, S.23; T. Alagova 2000, S.52; J. J. Bulycev 2002, S.192; H. Gunther 2002, S.423-425; S. Vladiv-Glover 1999, S.31.
36 A. Guski 2011, S.322
37 A. Guski 2011, S.322
38 Vgl. A. Guski 2011, S.322; M. Freise 2017, S.23.
39 Vgl. A. Guski 2011, S.324; W. Chlebda, S.424-425; M. Freise 2017, S.23.
40 Vgl. T. Alagova 2000, S.54 u. S.78; M. Alexander, G. Stokl 2009, S.626.
41 Vgl. A. Guski 2011, S.349-350.; W. Chlebda 2002, S.423.
42 Vgl. A. Guski 2011, S.352-354; M. Freise 2017, S.26; T. Alagova 2000, S.54; L. Suchanek 2002, S.389-390 u. S.440-441.
43 Vgl. A. Guski 2011, S.354.
44 V. G. Zarubin 2002, S.343.
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