Die Arbeit untersucht den Roman "Die Leiden des jungen Werther" als eine neue Art des Briefromans des 18. Jahrhunderts. Es wird aufgezeigt, daß die Form des Briefes, die Goethe für seinen Roman auswählt, ein Mittel ist, um die Leser in die Handlung einzubeziehen.
Inhaltsverzeichnis
1. Entwicklung des Romans und des Briefromans
2. Was ist ein Brief? Welche Möglichkeiten der Selbstäußerung kann ein Brief dem Schreiber anbieten
3. Werther und die gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen
4. Der Blickpunkt, den uns die Briefe schaffen
5. Die Veränderungen in Werther und in seinen Briefen
6. Werthers Freund Wilhelm, der uns durch die Briefe von Werther bekannt wird. Wilhelm als Träger der bürgerlichen Moral und die Einstellung Werthers zu dieser Moral
7. Die Briefe von Werther als einen Rückzug in der Welt des eigenen Ichs
8. Warum konnte Werther am Ende nicht mehr Briefe schreiben?
9. Werther und seine Zeitgenossen
10. Werthers Briefstiel
11. Zusammenfassung
12. Literatur
1. Entwicklung des Romans und des Briefromans
Das 18. Jahrhundert beginnt mit dem sogenannten utopischen Roman oder mit den Robinsonaden. Das Vorbild kommt aus England. Es ist das Buch "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe. Diese Bücher bilden das Modell einer gewünschten Welt, des menschlichen Strebens nach Harmonie. Die Utopie besteht darin, daß nicht das dargestellt wird, was real ist, sondern nur das Mögliche. Im Prinzip ist jede Utopie eine Kritik. Die Kritik der Robinsonaden richtet sich gegen das ganze System, aber sie ist nicht reformatorisch gegen die herrschenden Prinzipien gerichtet. Man strebt nach einer christlichen Welt ohne Konflikte.
Schon in der frühen Aufklärung rückt die Charakterbeschreibung in den Mittelpunkt. Die Analyse des Ichs, der Melancholie und der Depressionen wird in verschiedenen Arten von Tagebüchern benutzt. Es wird nach den Ursachen, nach der möglichen Überwindung dieser Zustände gefragt. Das Selbstbekenntnis und die Erbauung werden in der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts durch die Naturerfahrung erweitert. Im Zusammenhang mit und doch unabhängig von dem Tagebuch und der Autobiographie entwickelt sich im 18. Jahrhunderts der Roman. Von der Tradition des 17. Jahrhunderts bleiben zwei Typen verbindlich. Sie sind auch wandlungsfähig: der hohe oder Staatsroman und der niedere oder Picaroroman.
Im Staatsroman sind die Adligen die Träger der Handlung, und die Abenteuer bestimmen das Geschehen. Die Lösung der Konflikte und die Überwindung aller Schwierigkeiten geschehen durch die göttliche Vorsehung. Die Gelassenheit der Helden erklärt sich aus ihrer Bereitschaft, sich bei aller Undurchsichtigkeit des Geschehens dieser Fügung anheimzustellen.
Dagegen spielt der Picaroroman in den unteren Schichten. Stärker als im Staatsroman ist hier das bürgerliche Schreibmuster prägend, wie es sich im Grimmelshausens "Simplicius Simplizissimus" zeigt. Es wird das alltägliche Leben geschildert. Während im 17. Jahrhundert die Irrtümer und die Torheiten den Helden aus der sündhaften Welt in die Abgeschiedenheit führten, wird dieser Romantyp im 18. Jahrhundert vom bürgerlichen Roman abgelöst, der praktische Lebensnähe und bürgerliche Moralvorstellungen in ein biographisches Schema einbringt.
Das Werk "Pamela, or Virtue Rewarded" von Richardson ist ein Romanvorbild für die Darstellung tugendhafter, empfindsamer Charaktere in dem deutschen Roman. Aber auch diese Tendenz des bürgerlichen Romans erfährt im Laufe des Jahrhunderts noch einmal eine Veränderung. Wieland setzt sich in seinem Vorbericht zu seinem Roman "Geschichte des Agathon" mit der Entwicklung des bürgerlichen Romans auseinander. Er wendet sich gegen die Darstellung vollkommener Charaktere und setzt sich für eine genaue Beschreibung der Helden mit allen ihren Lastern und Schwächen ein. Die Wahrhaftigkeit im Roman besteht nach seinen Vorstellungen in der Beschreibung der inneren und äußeren Ereignisse, die Entwicklung des Helden muß psychologisch "richtig" und realistisch abgebildet werden.
Im Zusammenwirken der religiösen Biographie und des neuen bürgerlichen Romans entsteht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther". Als dieser Roman im Jahre 1774 erschien, war der Briefroman bereits seit langem eine beliebte Romanform in Europa. Unter den Briefromanen des 18. Jahrhunderts kommt diesem Roman eine Sonderstellung zu. Alle Briefromane, die vor "Werther" erschienen waren, haben mehrere Korrespondenten, und sie enthalten alle Rückantworten. In Goethes Roman dagegen schreibt hauptsächlich Werther, und nur am Schluß schreibt der Herausgeber, und es erfolgt keine Beantwortung der Briefe. Diese monologische Form des Briefromans - es gibt keine Antworten auf Werthers Briefe, und wir können nur ahnen, was Wilhelm seinem Freund geantwortet hat - führt zu einer Verabsolutierung der Perspektive des Helden und zur Identifikation des Lesers mit dem Helden. Werthers Subjektivismus ist nicht nur Thema des Romans, er ist auch sein beherrschendes Darstellungsprinzip. Ein Ausdruck des Subjektivismus ist weiterhin die für ihn charakteristische Konzentration der Wahrnehmung auf die eigene Psyche. Häufig ist die Wahrnehmung der Außenwelt nur Anlaß, die innere Befindlichkeit und emotionale Gestimmtheit zu fassen. Die Wirkung des Romans kommt nicht zuletzt durch den besonderen Briefstil zustande. Werther weiß selbst, daß er kein guter "Historienschreiber" ist. Er muß sich oft zwingen, die Ereignisse in ihrer chronologischen Abfolge wiederzugeben, damit sie für den Leser überhaupt verständlich werden. Immer wieder drängt sich der innere Erregungszustand in die sprachliche Mitteilung, unterbricht diese und lenkt zurück auf das eigene Ich. Dieser Hang zur totalen Selbstreflexion bewirkt, daß viele Briefe, darunter auch die kürzeren, gar nicht mehr erkennen lassen, daß sie an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind. Der Akzent wird so sehr auf die Ich - Aussage gesetzt, daß es sich ebenso gut um Auszüge aus einem Tagebuch handeln könnte.
2. Was ist ein Brief? Welche Möglichkeiten der Selbstäußerung kann ein Brief dem Schreiber anbieten.
Wenn man einen Brief schreibt, denkt man gewöhnlich nur an einen Leser - seinen Freund. Die Briefe sind keineswegs Dialoge. Es sind Monologe, in denen sich der Autor an seinen Freund und an sich selbst wendet. Manchmal kann ein Brief an einen Freund ein Gespräch des Autors mit sich selbst sein. Die Menschen brauchen solche intime Dialoge mit sich, weil sie so mit sich ins Klare kommen können. Der Freund, der den Brief erhalten soll, wird zu einem zufälligen Zuschauer. Die Briefe sind immer subjektiv, weil sie die Einstellungen des Autors äußern. Diese Einstellungen sind subjektiv, weil jeder Mensch die
Welt vom eigenen Blickpunkt aus betrachtet. Es ist schwer, die Welt vom Blickpunkt eines Anderen zu beobachten und die eigene Wahrnehmung zu objektivieren.
Die Briefe, wie auch die Tagebücher sind so persönlich, daß an eine Veröffentlichung nicht zu denken war. Die Briefe offenbaren die Gefühle, die Gedanken und die Empfindungen, die Innerlichkeit des Schreibers. Man schreibt Briefe an seine Freunde, damit man jemandem mitteilen kann, was mit einem geschieht. Das ist eine Art von Gespräch, das auf Freundschaft, Vertrauen, Verstand und Gegenseitigkeit beruht. Wir wissen, daß die Werke von Goethe oft auf eigenen Erlebnissen der Wirklichkeit beruhen. "Die Leiden des jungen Werther" widerspiegeln den Selbstmord von einem Freund von Goethe in Jerusalem und das Erlebte in Verbindung mit dieser Nachricht. In einer höchst subjektiven Konfession der Briefform verarbeitet Goethe die eigenen Erlebnisse, die Erfahrungen und den Selbstmord dieses Freundes. Er verschmolz beides mit der Epochenwirkung der jungen Intelligenz zu einer für den damaligen Leser außerordentlichen Form. Die Leser des Buches sind ganz auf ihr eigenes Urteil gestellt. Vielleicht ist deshalb die Rezeption dieses Buches mit der Identifikation zwischen Leser und Hauptheld verbunden.
Die Briefe von Werther sind vorwiegend an seinen Freund Wilhelm adressiert, obwohl er auch einige Briefe an andere Personen schreibt. Mit seinen Briefen schreibt Werther selbst die Chronik von einem Stück seines Lebens. Es wird die Geschichte eines Mannes erzählt, der die Aussicht auf eine für den Bürgerlichen glänzende Karriere aufgibt, der sich in eine schwärmerisch - unglückliche Liebe verirrt und schließlich Selbstmord begeht, als sein Leben für ihn keine andere Fluchtmöglichkeit zuläßt.
3. Werther und die gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen
Im Brief vom 4. Mai werden wir in die Erlebensweise Werthers eingeführt. Er erfahrt die Welt in Gegensätzen, die er immer reflektieren muß. Der erste Brief hat auch eine einführende Funktion in die Personenkreise, die vor dem Beginn des Romans eine Rolle spielten und im weiteren Verlauf von Bedeutung sein werden. Dieser Brief von Werther beginnt mit den Worten: Wie froh bin ich, daß ich weg bin". Werther konnte nicht mehr in den bürgerlichen Verhältnissen bleiben. Diese Verhältnisse waren eine Einschränkung seiner Freiheit, für die Freiheit seines Individuums. Werther sucht einen Neuanfang und deshalb trennt er sich von dem Mensch, den er liebt - Wilhelm. Dabei fühlt er sich froh, weil er sich von seiner Mutter und von seinem Freund trennt, die Vertreter der bürgerlichen Welt sind. Werther leidet unter Eingeschränktheit der bürgerlichen Konventionen. Er erfährt diese an seiner eigenen Person. Er hat verstanden, daß sein Fühlen- und Erlebenkönnen Einschränkungen unterworfen sind. Der gesuchte Neuanfang glaubt Werther, beim einfachen Volk, in der Natur und in der Ausübung von Kunst zu finden. Werther sucht neue Gestaltung und neuen Sinn für sein
Leben, ohne daß er jedoch konkrete Pläne zu haben. Die Einsamkeit macht ihn glücklich und er erlebt die Natur um sich. Das Gefühl für Freiheit bringt ihm solche Freude, daß er "zum Marienkäfer" werden will. "Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese Jahrszeit der Jugend wärmt mit aller Fülle mein oft schauderndes Herz. Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauß von Blüten, und man möchte zum Marienkäfer werden..."
Vertreter der bürgerlichen Welt, die Werther verlassen will, sind Wilhelm und Werthers Mutter. Obwohl Wilhelm zu einer anderen Welt gehört und einen anderen Blickpunkt als Werther besitzt, kann man das Verhältnis zwischen ihm und Werther als viel vertraulicher charakterisieren, als das Verhältnis zwischen Werther und seiner Mutter. Wilhelm ist der Mensch, durch den Werther mit seiner Mutter verkehrt. Auch rein familiäre Angelegenheiten teilt er der Mutter durch Wilhelm mit.
Werther trennt sich von den Menschen, mit denen er gelebt hat. Das ist eine selbst gewünschte Lebenswende, und er begründet, warum er sich so entschieden hat. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind freundschaftlich. Das ist aber eine menschliche Gemeinschaft im Zeichen des Mißverständnisses und des gegenseitigen Verdrusses. "Und ich habe, mein Lieber gefunden, daß Mißverständnisse und Trägheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt machen als List und Bosheit." Werther will weg von diesen Beziehungen und er sucht Zuflucht in der Natur. Auf seinen eigenen Wunsch tritt er aus der Gesellschaft aus. Das ist eine Flucht aus der Stadt in der Natur, eine Flucht von der bürgerlichen Moral und ihren Normen. Werther steht jetzt in der Position eines Menschen, der außerhalb der bürgerlichen Lebensverhältnisse ist. Dies ist die Position eines Leidenden und gleichzeitig eines Kritisierenden. In seinen ersten Briefen schreibt Werther über die Natur in der neuen Gegend, über die Menschen , denen er begegnet. Schon hier merken wir die für ihn typische Harmonie mit der Natur: "die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele ruhn. "Das Ich geht auf in der Natur, es selbst ist Natur. Das ist eine Konzentration auf die eigene Wahrnehmung, die auch für seine Beschäftigung mit Kunst und Literatur gültig ist. In einer monologischen Form des Gesprächs mit Wilhelm diskutiert und kritisiert er gleichzeitig seine Vorstellungen über die Gesellschaft und die Welt. Die Natur ist für Werther ein Zuflucht von der Gesellschaft und eine typisch für Sturm und Drang Lösung von allen existierenden Strukturen und Formen.
Darin besteht auch die Bedrohung, die die Zeitgenossen in diesem Buch sahen. Werther entdeckt für seine empfindlichen Leser die Gründe ihres eigenen Unbehagens, indem er ihnen durch sein Beispiel ihren eigenen Zustand vor Augen führt. Werthers Erfahrungen sind ein Gegensatz zu den Regeln des gesellschaftlichen Wohlverhaltens und des bürgerlichen Tugendkanons. Werther setzt diesem Tugendkanon die Freiheit des Individuums entgegen, das über die Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und Fähigkeiten selbst entscheidet.
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- Arbeit zitieren
- Dr. Mariana Parvanova (Autor:in), 1994, Die neue Erfahrung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, die Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther" als Briefroman brachte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123201
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