Ilse Aichinger zählt zu den ersten jüdischen AutorInnen der deutschen Nachkriegszeit, die ihre Erfahrungen unter dem Terrorregime der Nationalsozialisten niedergeschrieben und veröffentlicht haben. Ihr erster und einziger Roman „Die größere Hoffnung“ ist bereits 1948 im Fischer-Verlag erschienen. Thema des autobiografisch gefärbten Romans ist die Erfahrung des „existenziellen Interims“1, in dem sich die Protagonistin Ellen als sogenannte Halbjüdin befindet, und die Art und Weise, wie sie mit dieser schwierigen Lebenssituation umgeht.
In der vorliegenden Arbeit werde ich zunächst die existenziellen Spielräume, die sich Ellen und ihre jüdischen Freunde mit Hilfe ihrer Imagination schaffen, bestimmen und voneinander abgrenzen. Den Schwerpunkt meiner Arbeit bildet die ausführliche Analyse einer dieser Imaginationsebenen, das Märchen, dessen Funktion und Wirkung ich anhand des von Ellen erzählten Märchens „Rotkäppchen“ interpretieren werde. Anschließend möchte ich diese Version des berühmten Märchens mit der der Brüder Grimm vergleichen und auf die Unterschiede hin untersuchen. Abschließend werde ich durch die Gegenüberstellung verschiedener Positionen auf die umstrittene Frage eingehen, ob und, wenn ja, inwiefern es zulässig und vertretbar ist, den Nationalsozialismus mit Poetik bzw. Kunst zu vereinbaren, um dann im letzten Kapitel die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenzufassen.
Besonders für das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit konnte ich mich auf eine breite Anzahl an Sekundärliteratur stützen, da die Forschung ihr Augenmerk im Besonderen auf die für den Roman so charakteristischen Imaginationsebenen gelegt hat. Eine psychologische Analyse des Märchens „Rotkäppchen“ habe ich hingegen nur in geringen Ansätzen in der Forschungsliteratur ausmachen können, von daher beschränken sich das dritte und vierte Kapitel weitgehend auf meine eigene Interpretation. Im fünften Kapitel werde ich lediglich einen kurzen Einblick in die kontroversen Meinungen zur Verarbeitung der Shoah in Aichingers „größerer Hoffnung“ geben können, da es zu diesem Thema eine solche Bandbreite an verschiedenen Positionen gibt, dass sie einer eigenständigen Arbeit bedürften, um ausreichend dargestellt werden zu können. Jedoch erachte ich einen solchen Exkurs als interessant, um Ilse Aichingers anspruchsvolle Verarbeitung der Judenverfolgung besser verstehen zu können.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Kindliche Spiele, traumhafte Träume, fabelhafte Märchen? - Ein Vergleich zwischen den im Text vorkommenden Imaginationsebenen
- Ein roter Heiligenschein
- „Und wenn sie nicht gestorben sind...“ – Interpretation von Ellens Version des Märchens „Rotkäppchen“. Das Märchen „Rotkäppchen“ bei Aichinger und den Brüdern Grimm
- „Die größere Hoffnung“ – Relativierung durch Poetisierung?
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Imaginationswelten in Ilse Aichingers Roman „Die größere Hoffnung“, insbesondere die Rolle von Spielen, Träumen und Märchen als Bewältigungsstrategien der jüdischen Kinderprotagonisten während der NS-Verfolgung. Der Fokus liegt auf der Analyse von Ellens Version des Märchens „Rotkäppchen“ und ihrem Vergleich mit der bekannten Version der Brüder Grimm.
- Existenzielle Spielräume der Kinder im Angesicht der Verfolgung
- Imagination als Bewältigungsmechanismus
- Analyse des Märchens „Rotkäppchen“ als Imaginationsebene
- Vergleich der Aichinger'schen und Grimmschen Version von „Rotkäppchen“
- Die Frage der Poetisierung des Nationalsozialismus
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und skizziert den Forschungsansatz. Kapitel 2 analysiert die verschiedenen Imaginationsebenen (Spiele, Träume, Märchen) als Reaktion der Kinder auf ihre prekäre Lebenssituation. Es wird der Aspekt der erzwungenen Autonomie der Kinder hervorgehoben. Kapitel 3 und 4 befassen sich mit der detaillierten Interpretation von Ellens Version des Märchens „Rotkäppchen“ im Vergleich zur Version der Brüder Grimm. Dabei wird die Funktion und Wirkung des Märchens innerhalb des Romans untersucht.
Schlüsselwörter
Ilse Aichinger, Die größere Hoffnung, Shoah, Jüdische Kindheit, Imagination, Märchen, Rotkäppchen, Spiele, Träume, Existenzielle Spielräume, Poetisierung, NS-Verfolgung.
- Quote paper
- Nele Hellmold (Author), 2006, Spielräume der kindlichen Existenz, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123332