Emine Sevgi Özdamar und die Erfahrungen einer türkischen "Gastarbeiterin" in Deutschland. Transnationale Literatur, transnationales Arbeitsmarktsystem


Hausarbeit, 2021

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Das „Gastarbeiter“-System

2. Anwerbung, Ankunft und Arbeit in Deutschland

3. Ozdamars Politisierung und Rassismuserfahrungen

4. Fazit: Die Bedeutung der „Gastarbeiter“-Literatur heute

1. Einleitung: Das „Gastarbeiter“-System

Die okonomische Rekonstruktionsperiode der ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war gepragt von einem hohen Wachstum der Weltwirtschaft und einer Expansion der Arbeitsmarkte in den entwickelten Landern, was in den wirtschaftlichen Zentren der Welt zu einem hohen Bedarf an Arbeitskraften in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten und Beschaftigungsbereichen fuhrte, den die jeweiligen nationalen Arbeitskraftepotentiale bald nicht mehr zu decken vermochten.1 Gerade in der jungen Bundesrepublik war die Zahl der im erwerbsfahigen Alter stehenden Arbeitskrafte durch die Kriegsverluste im Zweiten Weltkrieg erheblich reduziert worden; so stand bei Kriegsende volkswirtschaftlich gesehen die im Rahmen der Kriegswirtschaft „stark ausgeweitete Produktionskapazitat der deutschen Wirtschaft einem erheblich verringerten Arbeitskrafteangebot gegenuber.“2 Als Reaktion auf diesen Arbeitskraftemangel setzte sich in der Bundesrepublik wie in den restlichen westeuropaischen Industriestaaten, abhangig von der Kolonial- und Migrationsgeschichte des jeweiligen Staates, im Bereich der Arbeitsmigration uberall das migrationspolitische Instrument der Anwerbeabkommen sowie das Prinzip der „Gastarbeiterbeschaftigung“ durch, „dessen Kennzeichen die befristete Dauer des Aufenthalts von Arbeitsmigranten war.“3 Von 1961, dem Jahr, in dem die Anwerbevereinbarung mit der Turkei abgeschlossen wurde, bis zum Anwerbestopp 1973 wuchs die auslandische Erwerbsbevolkerung in der Bundesrepublik Deutschland von ca. 550.000 auf rund 2,6 Millionen an;4 bereits seit Ende Januar 1972 stellten turkeistammige Arbeitsmigrant*innen die groftte unter den nationalen Gruppen der „Gastarbeiter“ in Deutschland.5 Der Begriff transnational beschreibt vor diesem Hintergrund nicht nur die Literatur der turkeistammigen Schriftstellerin Emine Sevgi Ozdamar, sondern auch das Arbeitsmarktsystem, dessen Aufbau „die migratorische Umbruchzeit der 1950er Jahre“6 kennzeichnete und in dessen Rahmen europaische Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland anfingen, interkontinentale Anwerbevertrage abzuschlieften, um das „Wirtschaftswunder" der Nachkriegsjahre aufrechtzuerhalten.

Ozdamar reiste 1966 im Alter von 18 Jahren als „Gastarbeiterin“ das erste Mal nach West-Berlin. Ihre Romane und Erzahlungen sind autobiographisch gefarbt und von ihren Erlebnissen als Arbeitsmigrantin in Deutschland, und damit von der deutschen Migrationspolitik, dem in diesem Kontext abgeschlossenen Anwerbeabkommen mit der Turkei und den prekaren Arbeits- und Lebensbedingungen, die das „Gastarbeiter“-Dasein in der Bundesrepublik mit sich brachte, gepragt. In ihrer fruhen, vom „Broken German der Gastarbeiter“7 gepragten Prosa beschreibt Ozdamar ihren Alltag als Arbeitsmigrantin und gibt ihren Gefuhlen von Entfremdung, Einsamkeit und Orientierungslosigkeit Ausdruck, weswegen es lohnenswert erscheint, erganzend zur geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung zum Themenkomplex „Gastarbeiter“, den Blick auf ihr literarisches Werk zu richten, um nachfolgenden Generationen, solchen mit- wie ohne Zuwanderungsgeschichte, die Lebensrealitat von den „Gastarbeitern“ in der Bundesrepublik erfahrbar zu machen.

2. Anwerbung, Ankunft und Arbeit in Deutschland

Zu Beginn von Ozdamars Roman Die Brucke vom Goldenen Horn verkunden die Zeitungen in ihrer Heimatstadt Istanbul plakativ: „Deutschland mochte noch mehr turkische Arbeiter“, und: „Deutschland nimmt Turken.“8 Ozdamars Vater steht dem Vorhaben seiner Tochter, als Arbeiterin in die Bundesrepublik zu reisen, jedoch ablehnend gegenuber und rat ihr stattdessen: „Mach' die Schule fertig. Ich will nicht, daft meine Tochter Arbeiterin wird. Das ist kein Spiel."9 Das Bild von Europa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen, das sich aus den Aussagen der Figuren ergibt, die in Ozdamars Erzahlungen in der Turkei auftreten, ist hochgradig ambivalent. Einerseits erfahrt die junge Ozdamar schon von ihrem GroRvater vom „Oleimerkrieg“, in dem dieser „fur die deutschen Eimer in den Krieg“ musste.10 Ozdamar wird also fruh eingefuhrt in koloniale Ausbeutung und einen Krieg, in dem das Osmanische Reich Gegenstand von geopolitischen Interessen europaischer Kolonialmachte war. Auf der anderen Seite ist Europa fur viele Menschen in Ozdamars turkischem Umfeld der Inbegriff von Wohlstand und soziookonomischen Aufstieg; so soll bereits an dem Goldzahn eines heimgekehrten turkischen „Gastarbeiters“ zu erkennen sein, „wie schnell man in Alamania reich werden kann.“11 Neben dem vermeintlich sicheren wirtschaftlichen Erfolg geht mit einem Aufenthalt in Europa, dort, wo sogar die Hunde „in den europaischen Hundeschulen studier[en]“,12 auch ein hoheres MaR an Bildung und Kultur einher. Eine Frau in der Turkei stellt fest: „Europa gesehen zu haben, ist eine feine Sache. Man sieht einem Menschen im Gesicht an, daR er Europa gesehen hat. Die Europaer sind fortschrittlich, wir treten mit unseren FuRen auf der Stelle und bewegen uns einen Schritt vor und zwei Schritte zuruck.“13

In ihrem erstem Theaterstuck, der sozialkritischen Komodie Karagoz in Alamania, in der der Protagonist Karagoz als Teil der ersten turkischen „Gastarbeiter“-Generation gemeinsam mit seinem sprechenden Esel §emsettin in die Bundesrepublik reist, und ihrem autobiographischen Debutroman Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Turen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus, beschreibt Ozdamar die strenge Qualifikations- und Gesundheitsuberprufung, der sich die „Gastarbeiter“ aus der Turkei vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik unterziehen mussten. Bei der deutschen Vermittlungsstelle in Istanbul versichert die turkische Vermittlerin Ozdamar, nur Turk*innen mit Abitur kamen nach Berlin; in Berlin seien also „nur Turken mit Kultur“.14

[...]


1 Oltmer, Jochen: Einjuhrung: A4igrationsverhdltnis.se undMigratumsregjme nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Oltmer, Jochen et al.: Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (S.9).

2 Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausldnderbeschdftigung in Deutschland 1880 bis 1980: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter (S.180). Die folgende Untersuchung bezieht sich auf die BRD und lasst die DDR aus Platzgrunden auBen vor.

3 Berlinghoff, Marcel: Der europdisierte Anwerbestopp. In: Oltmer, Jochen et al.: Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (S.152).

4 Oltmer, Jochen: Einfuhrung: Migrationsverhdltnisse und Migrationsregime nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Oltmer, Jochen et al.: Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (S.11).

5 Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausldnderbeschdftigung in Deutschland 1880 bis 1980: Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter (S.216).

6 Sternberg, Jan Philipp: Auswanderungsland, Zuwanderungsland. Die Doppelrolle der Migrationspolitik in der fruhen Bundesrepublik. In: Oltmer, Jochen et al.: Das „Gastarbeiter“-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa (S.34).

7 Bax, Daniel: Deutschland, ein Wortermarchen.

8 Ozdamar, Emine Sevgi: Die Brucke vom Goldenen Horn (S.14).

9 Ebd.

10 Ozdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Turen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus (S.39).

11 Ozdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge (S.63).

12 Ozdamar, Emine Sevgi: Die Brucke vom Goldenen Horn (S.250).

13 Ebd. (S.107).

14 Ozdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Turen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus (S.371).

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Emine Sevgi Özdamar und die Erfahrungen einer türkischen "Gastarbeiterin" in Deutschland. Transnationale Literatur, transnationales Arbeitsmarktsystem
Hochschule
Leuphana Universität Lüneburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2021
Seiten
16
Katalognummer
V1234961
ISBN (eBook)
9783346659477
ISBN (Buch)
9783346659484
Sprache
Deutsch
Schlagworte
emine, sevgi, özdamar, erfahrungen, gastarbeiterin, deutschland, transnationale, literatur, arbeitsmarktsystem
Arbeit zitieren
Leon Maack (Autor:in), 2021, Emine Sevgi Özdamar und die Erfahrungen einer türkischen "Gastarbeiterin" in Deutschland. Transnationale Literatur, transnationales Arbeitsmarktsystem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1234961

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