Mensch sein ohne Ideal? Eine Betrachtung des Humanitätsbegriffs in Goethes Schauspiel "Iphigenie auf Tauris"


Hausarbeit, 2022

20 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Humanitat - Versuch einer begrifflichen Annaherung
2.1 Der historische Hintergrund des Humanitatsbegriffs
2.2 Der Humanitatsbegriff bei Goethe

3. Die Widerspruche des Humanitatskonzepts in Goethes Iphigenie
3.1 Autonomie und Bindung
3.2 Die unerhorte Tat als List der Vernunft
3.3 Die Bruchigkeit des Dramenendes

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

„Humanitat sei unser ewig Ziel.'

1. Einleitung

Der Iphigenie-Mythos wurde durch die gesamte Kulturgeschichte hindurch immer wieder zum Gegenstand von Kunst und Literatur. Das Goethesche Drama „Iphi- genie auf Tauris“ erlangte besondere Beruhmtheit und bildet in seiner 1786 er- schienenen, finalen Versfassung die explizite Textgrundlage fur diese Arbeit.1 2 Un- ter den zahlreichen Iphigenie-Transformationen sticht das Drama durch seine klassizistische Form und die humane Gesinnung der Hauptfigur heraus, die star­ker als zuvor betont wird.3 Dadurch wurde Iphigenie von einem breiten Publikum lange Zeit fast „zwangslaufig“4 zur Ikone der Humanitat erhoben.

Eine Zasur in dieser Auffassung stellt der Aufsatz von Arthur Henkel dar, in dem er von der Darstellung Iphigenies als Figuration reiner Menschlichkeit abruckt und betont, dass es sich bei der Postulierung dieses Ideals um eine einseitige Be- trachtung handele.5 Infolgedessen betrachtete die Forschung das Stuck verstarkt von einem dekonstruktivistischen Standpunkt aus, demzufolge das „Abgewertete“6 im Humanitatsbegriff bestimmend bleibe. Es wurde herausge- stellt, dass das Drama von Inkonsistenzen und Widerspruchlichkeiten durchzogen ist, die das Drama dem Anspruch eines vollendeten Humanitatsideal nicht gerecht werden lassen.7

In dieser Hausarbeit soll der Versuch unternommen werden, die beiden diametral entgegengesetzten Richtungen zu synthetisieren. Das Humanitatskonzept soll nicht demontiert, sondern vielmehr um das Verstandnis erweitert werden, dass das Widerspruchliche und Tadelnswurdige eine Facette des Menschlichen darstellt und der Begriff der Humanitat erst in der Anerkennung seiner „Bruchigkeit“8 sei­ne volle Bedeutung erhalt.

Zur Bestatigung dieser These muss die Humanitatsidee, die eines prazisen begriff- lichen Konsens' entbehrt, in ihrer Bedeutung umrissen werden. Dafur wird in ei- nem ersten Schritt die historische Entwicklung des Begriffs nachvollzogen (2.1) und anschlieBend versucht, Goethes Humanitatsverstandnis zu erortern (2.2). Im Anschluss daran werden die Erkenntnisse des theoretischen Teils auf das Drama angewendet (3.). Anhand von drei Komponenten - der Autonomie Iphigenies (3.1), ihrer Aufrichtigkeit (3.2) und der Versohnlichkeit des Schlusses (3.3) - die als konstitutiv fur das Humanitatsideals gelten, sollen die Widerspruchlichkeiten dieses Konzepts analysiert und gedeutet werden. Ein Fazit mit Ausblick auf wei- terfuhrende Fragestellungen beschlieBt die Arbeit (4.).

2. Humanitat - Versuch einer begrifflichen Annaherung

2.1 Der historische Hintergrund des Humanitatsbegriffs

Die Humanitat, die ein zentrales Konzept der Weimarer Klassik ist, hat ihre Wur- zeln in der Antike (lat. humanitas fur Menschennatur, das MenschengemaBe).9 GroBe Bedeutung erlangte jenes Humanitatskonzept, das im letzten Jahrhundert der romischen Republik von Cicero formuliert wurde.10 Cicero war zwar nicht der erste und nicht der einzige, fur den sich das Wort humanitas belegen lasst, der aber durch seine tiefgehende Beschaftigung mit dem Humanitatsbegriff zum wichtigsten Impulsgeber fur die Entwicklung der Humanitatsidee wurde.11

Dass humanitas gar zu Ciceros „Lieblingsvokabel“12 avancierte, erscheint zu- nachst paradox, wenn man bedenkt, dass zu seinen Lebzeiten Krieg, Gewalt und Barbarei vorherrschten.13 Zunachst hatte humanitas den Charakter einer „Protestvokabel“14, mit der Cicero vor dem Verlust des ,sensus humanitatis‘ aufgrund der Gewohnung an kriegsbedingte Grausamkeiten warnte.15

Inspiriert wurde er bei diesem Gedanken von dem ,philanthropischen'16 Men- schenbild der Griechen, das im Bewusstsein der menschlichen „Unvollkommen- heit“17 gegenuber dem Gottlichen, eine Empfindsamkeit und Verstandnis fur men- schliche Not sowie Milde dem Feind gegenuber kultiviert hatte. Davon ausgehend fachert sich humanitas bei Cicero in eine Reihe von Tugendbegriffen auf (u.a. Barmherzigkeit (misericordia), Sanftmut (clementia), Wohlwollen (benevolentia), die allesamt die Mitmenschlichkeit akzentuieren.18 Die als ,studia humanitatis' bezeichneten Bildungsbestrebungen kommen erst ein paar Jahre spater zu diesem Kanon hinzu.19 Der Zusammenhang zwischen den beiden Ausrichtungen liegt in der Vorstellung, dass die dem Menschen in seinen Anlagen von Natur aus gegebe- ne humanitas erst unter besonderer Schulung der sprachlichen Fahigkeiten entfal- tet werden kann.20 Die Befahigung zu gelingender Kommunikation trage dazu bei, dass dem Menschen seine Wildheit genommen und er mitmenschlich werde.21 Al- lerdings musse diese Errungenschaft immer wieder aufs neue „behauptet werden“22, da Cicero als Vertreter eines moderaten Menschenbildes der Ansicht war, dass Schwachen und Fehlbarkeiten zum Menschen konstitutiv dazugehorten.23

Im Mittelalter geriet das antike Humanitatskonzept in Vergessenheit und wurde erst mit dem Beginn der italienischen Renaissance im 13. Jahrhundert wieder auf- gegriffen.24 In den folgenden Jahrhunderten gab es eine Vielzahl an Stromungen, die sich mit der Humanitatsidee auseinandersetzten, deren Entwicklungen und Auspragungen im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht angemessen nachgezeichnet werden konnen. Festzuhalten ist nur, dass jede Stromung den Komponenten des Ursprungsbegriffs, unter Anpassung an die jeweiligen zeithistorischen und gesell- schaftlichen Umstande, eine andere Gewichtung gab, ohne dass der Kern verlo- renging.

Von Relevanz fur diese Arbeit ist erst wieder das Antikenverstandnis von Winckelmann, der ein wichtiges ,Scharnier' zwischen der (Spat-)Aufklarung und dem Klassizismus bildete. Seine Asthetik, die auch Einfluss auf andere Gelehrte und Schriftsteller dieser Zeit nahm, beinhaltete „das dialektische Verhaltnis von MaBvollem und Ungebardetem“25 als „konstitutives Element“26. Diese Opposition hat sich in ihrer Deutlichkeit nicht im Klassizismus erhalten, sondern wich einem auf Harmonie und Ausgleich bedachten Antikenbild, das unter dem geflugelten Wort „edle Einfalt / stille GroBe“ firmierte.27 Die von Winckelmann selbst stam- mende Formulierung, die eine „Asthetik der Affektbeherrschung“28 beschrieb, wurde als Streben nach „Dampfung bzw. Negation von Gewalt, Schmerz und Lei- denschaft“29 missverstanden.

Zwar spricht auch Herder noch davon, dass der Mensch seine „gegeneinander wirkenden Krafte in Einklang bringen“30 musse, um Humanitat zu erreichen, doch ist er im Gegensatz zu Cicero vom wahren Fortschreiten der Menschheit uber- zeugt und meint, im Ruckblick auf die Geschichte einen „unaufhaltsamen Fort- schritt der Humanitat“31 zu erkennen. Damit wird Herder zum Begrunder einer neuen humanistischen Bewegung32, die heute unter dem Begriff ,Neuhumanis- mus‘ firmiert, und sich ausgehend von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein erstreckte.33

[...]


1 Zitiert nach: Thomas Zabka: Humanitat, in: Theo Buck et al. (Hrsg.): Goethe Handbuch. Perso- nen Sachen Begriffe A-K Bd. 4/1, Stuttgart 1998, S. 498-501, hier S. 498.

2 Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel. Hrsg. von Rudiger Nutt-Kofoth, Ditzingen 2014. Im Folgenden wird das Drama unter Angabe des Verses im Text zitiert.

3 Vgl. Stefan Matuschek: Nachwort, in: Ders. (Hrsg.): Mythos Iphigenie. Texte von Aischylos bis Volker Braun, Leipzig 2006, S. 159. Zur Rezeption von Goethes Drama in modernen Transforma- tionen des 20. Jhds. vgl. Christine Hermann: Iphigenie. Metamorphosen eines Mythos im 20. Jahr- hundert (Forum Deutsche Literatur Bd. 4), Munchen 2005.

4 Lena Ekelund / Stefan Hermes: Gerettete Konigskinder. Orest, der Wahn und die Schwester(n) bei Goethe und Euripides, in: Ortrud Gutjahr (Hrsg.): Iphigenie von Euripides / Goethe. Krieg und Trauma in Nicolas Stemanns Doppelinszenierung am Thalia Theater Hamburg (Theater und Uni- versitat im Gesprach Bd. 7), Wurzburg 2008, S. 113-126, hier S. 117.

5 Arthur Henkel: Die „verteufelt humane“ Iphigenie. Ein Vortrag, in: Euphorion 59 (1965), S. 1-18.

6 Volker C. Dorr: „Ganz verteufelt human“. Bemerkungen zur Humanitat beim klassischen Goethe, in: Ders., Michael Hofmann (Hrsg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitatsideal der Weimarer Klassik (Philologische Studien und Quellen Bd. 209), Berlin 2008. S. 101-114, hier S. 112.

7 Vgl. Walter Erhart: Drama der Anerkennung. Neue gesellschaftstheoretische Uberlegungen zu Goethes Iphigenie auf Tauris, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 140-155, hier S. 144.

8 Theodor W. Adorno: Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie, in: Rolf Tiedemann (Hrsg.): Ge- sammelte Schriften Bd. 11, Frankfurt a. M. 1997, S. 502.

9 Wilfried Stroh: „Der Ursprung des Humanitatsdenkens in der Romischen Antike“, Vortrag vor der Goethe-Gesellschaft in Munchen 1989, unter https://epub.ub.uni-muenchen.de/1273/1/senior_- stud_2006_11_01.pdf (aufgerufen am 31.3.2022), S. 5.

10 Wilfried Stroh: Von der humanitas zum Humanismus. Vortrag zum Festakt des Realgymnasiums Ramibuhl, 4.9. 2008, in: Forum Classicum 3 (2008), unter: https://journals.ub.uni-heidelberg.de/ index.php/fc/article/view/38659 (aufgerufen am 31.3.2022), S. 158-164, hier S. 163.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 160.

13 Arnd Morkel: „Was es heiBt, menschlich zu leben“. Anmerkungen zu Ciceros Begriff humanitas, in: Glanzlichter der Wissenschaft (2008), S. 79-91, hier S. 87.

14 Stroh, Von der humanitas zum Humanismus, S. 161.

15 Vgl. Morkel, „Was es heiht, menschlich zu leben“, S. 87.

16 Vgl. Ebd., S. 82. Wichtig zu betonen ist, dass philanthropisch hier die Perspektive Ciceros wie- dergibt. Die Altertumsforschung betrachtet diesen Begriff mittlerweile kritischer und differenzier- ter.

17 Helmut Storch: Humanitas, in: Der Neue Pauly, unter: https://referenceworks.brillonline.com/ entries/der-neue-pauly/humanitas-e518330 (aufgerufen am 31.3.2022).

18 Vgl. Stroh, „Der Ursprung des Humanitatsdenkens in der Romischen Antike“, S. 10.

19 Vgl. Morkel, „Was es lieiBt. menschlich zu leben“, S. 80.

20 Vgl. Ebd. S. 80.

21 Vgl. Stroh, Von der humanitas zum Humanismus, S. 160.

22 Morkel, „Was es heiht, menschlich zu leben“, S. 80.

23 Vgl. Ebd, S. 85.

24 Vgl. Stroh, Von der humanitas zum Humanismus, S. 162.

25 Christian Horn: Remythisierung und Entmythisierung. Deutschsprachige Antikendramen der klassischen Moderne, Karlsruhe 2008, S. 42.

26 Ebd.

27 Ebd.

28 Ebd.

29 Ebd.

30 Anne Lochte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitatsidee der Ideen, Humani- tatsbriefe und Adrastea (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 540), Wurzburg 2005, S. 50.

31 Ebd., S. 49.

32 Vgl. Rainer Wisbert: Humanitat und Bildung, in: Stefan Greif et al. (Hrsg.): Herder Handbuch, Paderborn 2016, S. 711-722, hier S. 712.

33 Vgl. Stroh, Von der humanitas zum Humanismus, S. 162. Zur Genese des Begriffs ,Neuhuma- nismus' vgl. Stroh, S. 158.

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Details

Titel
Mensch sein ohne Ideal? Eine Betrachtung des Humanitätsbegriffs in Goethes Schauspiel "Iphigenie auf Tauris"
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
1,7
Jahr
2022
Seiten
20
Katalognummer
V1236457
ISBN (eBook)
9783346656964
ISBN (Buch)
9783346656971
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mensch, ideal, eine, betrachtung, humanitätsbegriffs, goethes, schauspiel, iphigenie, tauris
Arbeit zitieren
Anonym, 2022, Mensch sein ohne Ideal? Eine Betrachtung des Humanitätsbegriffs in Goethes Schauspiel "Iphigenie auf Tauris", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1236457

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