Reenactment als neue Wiederholungsstrategie am Beispiel der "Moskauer Prozesse" von Milo Rau. Ereignis, Dokumentation und Neuverhandlung


Hausarbeit, 2022

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Zum Ereignis und dessen Spur

III. Exkurs: Wiederholungsstrategien der bildenden Kunst

IV. Performancekunst und Reenactment

V. Die Moskauer Prozesse von Milo Rau

VI. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

I. Einleitung

Diese Abbildung wurde aus urheberrechtlichen Gründen von der Redaktion entfernt.

Abbildung 1: Maskierte Aktivistinnen der russischen Frauenpunkband Pussy Riot protestieren am 21.02.2012 in der Erlöser-Kirche in Moskau.

Nur wenige Sekunden protestieren vier junge Frauen unmittelbar vor den russischen Präsidentschaftswahlen in der Erlöser-Kirche in Moskau. Mit einem „Punk-Gebet“ demonstrieren sie gegen Wladimir Putins Wiederwahl sowie die enge Verbindung zwischen ihm, Staat und Kirche.1 „Während sie im Westen zu einem […] Symbol des Protests gegen das Putin-Regime geworden sind, wird ihre Aktion laut Umfragen von einer überwältigenden Mehrheit der Russen scharf abgelehnt.“2 Auf ihre Festnahme im März 2012 folgt ein Prozess, welcher von westlichen Politikern als politischer Schauprozess bezeichnet wird, der einer Demokratie nicht würdig zu sein scheint und Regierungskritiker mundtot machen soll. Obwohl die Künstlerinnen bei ihrem Protest keinerlei Gewalt anwendeten und auch keinen Schaden an der Erlöser-Kirche angerichtet haben, folgten harte Urteile mit mehrjährigen Lagerhaftstrafen, die sowohl in Russland als auch in der Welt Diskussionen über Kunst, Religion und Politik auslösten. Es stellte sich die elementare Frage was Kunstfreiheit ausmacht und wie die Gesellschaft sowie das russische Recht in einem unabhängigen Prozess entschieden hätten.

Milo Rau versucht auf diese Fragen Antworten zu finden. Er ist ein Schweizer Theater- und Filmregisseur und für seine Vielzahl an politischer Theaterprojekte bekannt. Seine Arbeiten, zu denen auch die Moskauer Prozesse zählen, spielen insbesondere mit den Grenzen des Dokumentarischen, indem er die künstlerische Strategie des Reenactments für seine Performances nutzt. Diese künstlerische Strategie scheint sich insbesondere in der gegenwärtigen Medien- und Performancekunst als eine unabhängige Kunstform durchzusetzen. Um zu klären, ob das Reenactment tatsächlich eine eigenständige künstlerische Strategie ist und sich damit von anderen künstlerischen Formaten abgrenzen kann, beschäftigt sich die folgende Arbeit mit verschiedenen künstlerischen Wiederholungsstrategien sowie deren Funktion und Wirkung, ordnet das Reenactment in die Entwicklung der aktuellen Performancekunst ein und untersucht abschließend inwiefern sich Milo Raus „Moskauer Prozesse“ in diese einordnen lässt und, ob sich seine Herangehensweise von anderen Reenactments unterscheidet.

An dieser Stelle muss vorab angemerkt werden, dass, obwohl sich der Begriff „Reenactment“ im Kontext von Kunst und Theater zu einer wichtigen Strömung entwickelt hat, beachtet werden muss, dass dieser „keine scharfen Konturen auf[weist]. Während der Anglizismus eine spezifische Hobbykultur bezeichnet, schwindet seine Klarheit mit der Konjunktur in verschiedenen Disziplinen.“3 Es stellt sich dabei die Frage, ob mit einem Reenactment beispielsweise eine Rekonstruktion, eine Wiederholung oder eine Neuverhandlung gemeint ist und wie deren Verhältnis zum Original gestaltet ist. Aufgrund dieser Unklarheit, welche bereits bei der Begriffsdefinition des übergeordneten Performancebegriffs und dessen Abgrenzung vom Theaterbegriff vorliegt,4 wird die folgende Ausarbeitung auch keine allgemeingültige Definition formulieren können. „Als kleinsten gemeinsamen Nenner der Begriffsdiskussion kann man festhalten, dass als Reenactment das (künstlerische) Wieder-In-Akt-Setzen eines vergangenen (Kunst-)Ereignisses verstanden wird.“5

In der Performancekunst tritt der Begriff des Reenactments als neue Wiederholungsstrategie besonders ab den 1990er Jahren auf. „Die Wiederaufführung an sich mutet dabei im Kontext des Theaters zunächst als wenig innovative Strategie an, schließlich ist jeder auf einer Inszenierung basierenden Aufführung doch ihre Wiederholung bereits von vornherein eingeschrieben.“6 Doch das Reenactment will etwas anderes als nur abzubilden. „Es strebt nämlich nicht nach einer Wiederholung der Inszenierung, sondern nach jener einer Aufführung, Performance oder eines anderen Ereignisses.“7 Es zielt damit darauf ab andere Konsequenzen zu haben und nicht nur passiv auf der Ebene des Darstellens zu bleiben. Um genauer erklären zu können, was dies bedeutet, ist es zunächst nötig einen Schritt zurückzugehen und sich im folgenden Kapitel mit dem Ereignis und der Ereignisspur einer künstlerischen Arbeit zu beschäftigen.

II. Zum Ereignis und dessen Spur

Es kann festgestellt werden, dass auch ein Reenactment wie die Performancekunst auf einer performativen Handlung basiert. Das Entscheidende ist folglich, dass Ereignisse, Performanzen und Präsenzen immer flüchtig sind. Aufgrund dessen haben sich Positionen entwickelt, die dafür stehen, dass diese performativen Ereignisse festgehalten werden sollten. So „fragt der Diskurs [der amerikanischen Performancetheorie] seit Ende der 1990er Jahre stärker nach den Verflechtungen von ›Performance‹, Geschichte und Erinnerung“8 und gewinnt mit künstlerischen Impulsen an Interesse.9 Als Folge dieser Entwicklung rückt die Erzeugung von Ereignisspuren in den Fokus. Die Performancekunst fokussiert das Ereignishafte und macht den Prozess zum zentralen Aspekt. Das Problem bei diesem Vorgehen ist jedoch, dass je stärker das Ereignishafte aufgewertet wird, umso weniger Stabiles an Spuren übrigbleibt. Es muss sich daher die Frage gestellt werden, wie Performancekunst überdauern kann und darauf aufbauend in welchem Verhältnis das Ereignishafte und die Ereignisspur stehen.

Bei der Beschäftigung mit der Performancekunst kann schnell festgestellt werden, dass einige Performancekünstler sich strikt gegen eine Dokumentation ihrer Kunst positionieren. Ein Beispiel ist hierfür Tino Sehgal, mit seinen Werken, die er „konstruierte Situationen“10 nennt. „Er besteht darauf, Reproduktion durch Erlebtes, Banalisierung durch echtes Gefühl und Konzeptualisierung durch Empfindsamkeit zu ersetzen.“11 Seine Performance kann dementsprechend nur im Ereignis erfahren werden. Eine Ereignisspur in Form von Aufzeichnungen oder Reproduktionen wird mit Absicht verhindert, sodass seine Arbeit nur für die Dauer einer Ausstellung erlebt werden kann. Ausschließlich die Erinnerung der Besucher*innen kann als eine äußerst flüchtige Spur angesehen werden.

Das Reenactment konfrontiert damit direkt diese Performancekunst, welche für eine Unwiederholbarkeit steht. „Die […] Theoretisierung der Performance [ist] also von einem Essentialismus gekennzeichnet, der auf die Einmaligkeit der Aktionen sowie auf die Präsenz der Performer [abhebt], die sich von der Fiktion der auf Wiederholbarkeit angelegten Theateraufführung unterscheiden.“12 Es darf nichts aufgezeichnet werden, da bereits die Aufzeichnung eine Verfälschung darstellt, um die es dem Künstler nicht geht. Die „Performance bestehe in ihrem ständigen Verschwinden und ihrer Nicht- Reproduzierbarkeit. Die Stärke der Performance als ein immer schon flüchtiger Moment liege darin begründet, aufgrund ihrer Widerständigkeit gegen Aufzeichnung und Wiederholung mit den wirtschaftlichen Mechanismen des Kunstmarktes zu brechen.“13 Damit einher ergibt sich jedoch gleichzeitig eine Limitation bezogen auf bestimmte Formen der Auseinandersetzung. „Am Ende bleibt nichts von [Tino Sehgals Performance] zurück - außer der Frage: Wie lässt sich seine Kunst vermitteln, darstellen und in den Kanon der Kunstgeschichte einschreiben?“14

In der Kunstform der Musik liegt diese Flüchtigkeit als spezifische Eigenheit schon immer vor. Die Prozessualität stellt sich als eine Grundlage ihrer Existenz heraus. Ein musikalisches Werk kann nur durch den Prozess einer Aufführung realisiert werden und muss für jede Rezeption neu erzeugt werden. Doch kann diese strikte Verknüpfung mit einer Flüchtigkeit auch bei der Performancekunst aufrechterhalten werden? „In der Performancetheorie wird die Vorstellung von ›Performance‹ als radikal ephemeres Ereignis, das sich in seinem Hier und Jetzt erschöpft und sich als unweigerliches Verschwinden vollzieht, vor allem in den Debatten zur Performancekunst als eigenständiger Gattung vertreten, setzt sich jedoch nicht als dominante Leseart von ›Performance‹ durch.“15 In aktuellen Entwicklungen scheint die Performancekunst nichtmehr unvereinbar mit Wiederholungen und Dokumentationen zu sein.

Ähnliche Überlegungen können auch bei der Malerei durchgeführt werden. Selbstverständlich ist es möglich zu formulieren, dass man bei der Malerei einen so stabilen Werkcharakter gefasst hat, sodass das Ereignishafte von keinerlei Bedeutung mehr ist. Doch kann eine Malerei nichtsdestotrotz eine performative Kunst sein, obwohl sie gar nicht unter performativer Kunst fungiert? So kann man beispielsweise der Auffassung sein, dass die Malerei erst existiert, wenn sie angeschaut wird. Folglich ist nicht das Werk interessant, sondern die ständige Wiederaufführung des Werkes, indem es von einer Person betrachtet wird.

Ungeachtet dessen gewinnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Idee einer Avantgarde an Relevanz, die vorsieht, dass statt eines autonomen Kunstwerks das Performative an Fokus gewinnen sollte. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass der Werkcharakter abgewertet werden und der Ereignischarakter aufgewertet werden soll. „Die Idee […] geht nicht in der geschlossenen, durchkomponierten Gestaltung des Werks auf […], sondern bleibt in seiner immateriellen Kraft von der konkreten Inkarnation unabhängig erlebbar.“16

[...]


1 Vgl. Schmidt: „Reenactment impossible“, S. 483f.

2 Veser: „Unaufgeregte Einblicke“.

3 Engelke: „Geschichte wiederholen“, S. 9.

4 Vgl. Fischer-Lichte: „Performativität“, S. 33-36.

5 Schmidt: „Reenactment impossible“, S. 478.

6 Kalu: „Ästhetik der Wiederholung“, S. 207.

7 Kalu: „Ästhetik der Wiederholung“, S. 207.

8 Aehlig: „Die Theatralität der Performance“, S. 262.

9 Als Beispiel für einen solchen Impuls wird in Kapitel IV Marina Abramovićs Performance-Serie „Seven Easy Pieces“ vorgestellt.

10 „Sehgal, Tino“.

11 „Live Art“.

12 Kalu: „Ästhetik der Wiederholung“, S. 138.

13 Engelke: „Geschichte wiederholen“, S. 14.

14 „Live Art“.

15 Aehlig: „Die Theatralität der Performance“, S. 265.

16 Huber: „Ästhetik der Begegnung“, S. 231.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Reenactment als neue Wiederholungsstrategie am Beispiel der "Moskauer Prozesse" von Milo Rau. Ereignis, Dokumentation und Neuverhandlung
Hochschule
Universität zu Köln  (Department Kunst und Musik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2022
Seiten
18
Katalognummer
V1236495
ISBN (eBook)
9783346658692
ISBN (Buch)
9783346658708
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Reenactment, Wiederholungsstrategien, Moskauer Prozesse, Milo Rau, Neuverhandlung, Dokumentation, Lehramt, Master, Performance, Performancekunst, Ereignis, Spur, Prozess, Pussy Riot, Ereignishaft, Flüchtigkeit, Wirklichkeit, Wirklichkeitsbezug, künstlerische Autonomie, Autonomie, Ereignisspur, künstlerische Strategie, Fiktiv, Russland, Machtstruktur, Kunstfreiheit, Umsetzungsform, Unwiederholbarkeit, Transformation, künstlerische Formate, Erlöser-Kirche, Moskau, Punk-Gebet, Wladimir Putin, Schweizer Theater- und Filmregisseur, politische Theaterprojekte, Dokumentarisch
Arbeit zitieren
Felix Straub (Autor:in), 2022, Reenactment als neue Wiederholungsstrategie am Beispiel der "Moskauer Prozesse" von Milo Rau. Ereignis, Dokumentation und Neuverhandlung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1236495

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