Menschlichkeit im Ghetto: Jurek Beckers Jakob der Lügner und Edgar Hilsenraths Nacht


Hausarbeit, 1999

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Figuren in „Jakob der Lügner“
2.1 Die Hauptfigur Jakob Heym
2.2 Der Erzähler
2.3 Kowalski
2.4 Mischa und Rosa
2.5 Herschel Schtamm, Leonard Schmitt und Prof. Kirschbaum
2.6 Lina

3. Figuren in „Nacht“
3.1 Die Hauptfigur Ranek
3.2 Debora
3.3 Weitere Figuren

4. Vergleich

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1969 erscheint in der DDR Jurek Beckers Erstlingswerk „Jakob der Lügner“[1]. Der Roman stößt im In- und Ausland auf eine außergewöhnlich positive Resonanz. Becker erhält dafür den Heinrich-Mann-Preis der DDR und den Schweizer Charles-Veillon-Preis. Der Autor schreibt auf eine leichte, amüsante Art, mit Humor Charme und Grazie über ein unerfreuliches und düsteres Thema: das Leben und Überleben von Juden in einem nationalsozialistischen Ghetto.[2]

„Nacht“[3] erscheint erstmals 1964 in einer Miniauflage bei Kindler. Der Titel verschwindet jedoch schnell wieder in der Versenkung, aus dem Kindler Verlag hieß es damals zur Begründung: „in Deutschland darf ein solches Buch nicht verbreitet werden.“[4] Nina Raven-Kindler, Frau des Verlegers und damalige Geschäftsführerin sagte sogar: „In unserem Verlag fand sich keine Stimme dafür... Ich fürchte die falsche Reaktion des Publikums, das sehr gerne etwas finden möchte, um seine antisemitische Haltung zu rechtfertigen.“[5] Diese Angst, Antisemitismus zu schüren, liegt darin begründet, daß Hilsenrath in seinem Roman erstmals mit der damaligen Tradition bricht, jüdische Figuren ausschließlich positiv darzustellen. Er schreibt gegen philosemitische Haltungen an, indem er ohne Schönfärberei schildert, wie die Bewohner eines jüdischen Ghettos unter Hunger, Kälte und Krankheiten leidend, zu kämpfenden Rivalen um jedes Stück Brot oder einen Schlafplatz werden.[6] Erst nach weltweitem Erfolg wird der Roman 1978 neu verlegt.

Die offensichtliche Gegensätzlichkeit zweier von jüdischen Autoren geschriebenen Ghettoromane hat mich zur genaueren Betrachtung der beiden Werke veranlaßt. Da für eine umfassende Interpretation in dieser Arbeit nicht genug Platz sein wird, möchte ich mich auf die Untersuchung wichtiger Figuren konzentrieren. Ich werde zeigen, wie unterschiedlich, in einigen Punkten aber doch ähnlich, die Autoren ihre Figuren im Ghetto agieren lassen, wie diese sich zwar an das Grauen gewöhnt haben, dennoch aber versuchen, dagegen anzukämpfen. Ich habe mich dabei auf die Opfer – also auf die jüdischen Ghettobewohner – konzentriert. Die Täter spielen in beiden Romanen keine große Rolle, bei Becker bleiben sie meist typenhaft. In „Nacht“ werden die Opfer gleichzeitig zu Tätern, die wahren Täter tauchen nur schemenhaft auf.

2. Figuren in „Jakob der Lügner“

2.1 Die Hauptfigur Jakob Heym

Jakob ist in einer kleinen polnischen Stadt aufgewachsen, hat in seinem Restaurant als kleiner Gewerbetreibender im Sommer Eis und im Winter Kartoffelpuffer verkauft, hier hatte er Freunde und Bekannte und auch eine langjährige Freundin. Diese schließlich zu heiraten konnte er sich allerdings nicht durchringen. So lebt er jetzt, 1943, als Junggeselle im Ghetto der kleinen Stadt, aus der er in seinem Leben nie länger weggekommen ist als eine Woche. Hier arbeitet er auf einem Güterbahnhof und kümmert sich wie ein Vater um die kleine Lina. Jakob kommt mit allen gut aus. Auf die Menschen in seiner Umgebung macht er einen zuverlässigen, soliden Eindruck. Sein Freund Kowalski sieht ihn folgendermaßen:

„... mürrisch und zänkisch ist er von Zeit zu Zeit [...] Wehklagend kennt man ihn nicht, wehklagen alle andren. Jakob war so etwas ähnliches wie ein Seelentröster.“[7]

Jakob hat sich an das Leben im Ghetto so gut wie möglich angepaßt. Einige Annehmlichkeiten aus seinem früheren Leben hat er in den Ghettoalltag übernommen, „... der Hang zum Schlendern ist ihm noch geblieben, trotz Scheinwerfer und Revier“[8], und wenn die harte Arbeit auf dem Bahnhof es zuläßt, schwätzt er auch schon mal gerne wie zu Friedenszeiten. Meistens werden dann Geschichten aus der Vor-Ghetto-Zeit ausgetauscht.

Sowohl vom Charakter, als auch vom Äußeren erscheint Jakob nicht wie ein typischer Held: „Jakob ist viel kleiner, er geht dem Kerl wie ein Baum höchstens bis zur Schulter. Er hat Angst wie wir alle...“[9], dennoch sieht ihn der Ich-Erzähler als solchen: „Keine drei Sätze sind ihm über die Lippen gekommen, ohne daß von seiner Angst die Rede war, aber ich will von seinem Mut erzählen.“[10] Durch einen Zufall wird „dieser kleine, unwichtige, zitternde Jakob Heym“[11] nahezu gezwungen, seine Ängste zu verdrängen. Auf dem deutschen Polizeirevier schnappt er die verstümmelte Radionachricht auf, daß sich russische Truppen dem Ghetto nähern. Noch nie hat allerdings ein Jude dieses Polizeirevier lebend verlassen. Jakobs Hiobsbotschaft wird für die Ghettobewohner erst glaubhaft, nachdem er behauptet, selber ein Radio zu besitzen. Nicht ganz freiwillig fügt er sich in seine neue Rolle und erfindet immer weiter gute Nachrichten von der Front, erkennt er doch bald, wie wichtig diese für seine Mitmenschen sind: Die Selbstmordrate sinkt auf null, denn „... ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag“[12], und die Juden beginnen wieder Pläne zu machen. „Jakob wächst im Verlauf der Geschichte über sich hinaus und wird doch nie zum unerreichbaren Übermenschen.“[13] In der Erreichbarkeit dieser Figur hinsichtlich ihrer Taten und Gedanken liegt laut Brigitte Krüger auch die Ausstrahlungskraft auf den Leser.[14]

Auch wenn Jakob durch seine Radiolüge von den Ghettobewohnern nahezu umschwärmt und wie ein König behandelt wird, drängt ihn diese doch auch gleichzeitig in eine Art Isolation:

„Man ist seinen Mitbürgern kein Mensch mehr, man ist Besitzer eines Radios, unvereinbar miteinander, wie sich seit langem erweist, nun wieder, das Recht auf die normalen Gespräche alter Zeiten ist verwirkt. [...] dafür bist Du mit Deinem Schatz zu schade.“[15]

Diese Form der Ausgrenzung wird jedoch durch den Extremfall, der Isolation der Juden im Ghetto, überdeckt. Für Jakob kommt zu dieser Einsamkeit aber noch die Hoffnungslosigkeit, schließlich weiß er, daß die guten Nachrichten, die allen anderen Juden wieder Lebensfreude geben nur Lügen sind. Trotzdem findet er immer wieder aufs neue die Kraft und den Mut, weiter zu lügen und damit weiter zu kämpfen, „mit Worten [...], mit Worten versuche ich das! Weil ich nämlich nichts anderes habe!“[16] Am Ende, als das gesamte Ghetto deportiert wird, steht er dennoch als Lügner da. Nur der Leser weiß, was er wirklich geleistet hat. Der Erzähler gibt sich jedoch mit einem solchen Ende nicht zufrieden. Er erfindet ein besseres, indem Jakob zwar bei einem Fluchtversuch stirbt, noch in der selben Nacht aber wird das Ghetto von den Russen befreit. Damit werden Jakobs Lügen wahr.

2.2 Der Erzähler

1921 geboren, wohnt der Erzähler zum Zeitpunkt des Erzählens 46jährig in Berlin. Dort arbeitet er in einer Fabrik und lebt mit einer Frau zusammen, die er vielleicht einmal heiraten wird. Seine erste Frau Chana wurde unter einem Baum erschossen. Das ist nur einer der Gründe, warum Bäume für den Erzähler so wichtig sind. Als Kind ist er von einem Baum gefallen und hat sich dabei so die linke Hand verletzt, daß er seinen Traum, Geiger zu werden, begraben mußte; unter einer Buche hatte er sein erstes Liebeserlebnis mit einem Mädchen. In dem Ghetto, in dem er gelebt und zusammen mit Jakob auf dem Bahnhof gearbeitet hat, waren Bäume verboten. Ein Baum ist in diesem Roman mehr als nur ein Symbol für eine heile Natur, er ist ein Symbol des Lebens, ein Symbol der Hoffnung.[17] Auch wenn Bäume im Ghetto verboten waren, gelang es einem Menschen, den Bewohnern wieder Hoffnung zu geben. Immer wieder hat der Erzähler, einer der wenigen, der das Ghetto und die anschließende Deportation überlebt hat, versucht, die Geschichte dieses Menschen zu erzählen. Er kann sich nicht damit abfinden, daß es in diesem Ghetto keinen Widerstand wie in Warschau oder Buchenwald gegeben hat, also spricht er vom ganz eigenen Widerstand des Juden Jakob Heym. Dieser hat ihm die Geschichte auf dem Transport ins Konzentrationslager erzählt. Obwohl er auch einiges selbst miterlebt hat, gibt es Lücken. Um diese zu füllen hat er zum Teil sehr sorgfältige Recherchen durchgeführt:

„... ich bin so akkurat [...] weil ich später dort gewesen bin, bei meiner Suche nach Zeugen und Spuren und nicht vorhandenen Bäumen. Genau wie ich die Entfernung zwischen dem Revier und der nächsten Ecke mit einem Bandmaß nachgemessen habe, ...“[18]

oder seine Phantasie benutzt.

Auch Jurek Becker hat für seinen Roman ausführlich in Archiven recherchiert, nicht um Ghettowirklichkeit möglichst genau darzustellen, sondern um zu wissen wo er sie verläßt.[19]

Am stärksten greift der Erzähler am Ende der Geschichte ein, als er einen zweiten Schluß erfindet. Claudia Brecheisen begründet das damit, daß der tatsächliche Schluß die gesamte vorhergehende Geschichte und damit auch die Existenz des Erzählers in Frage stellen würde. Der Erzähler sei sich darüber im klaren, daß sich Fakten des Holocaust nicht für Geschichten eignen, weiß aber auch um die Notwendigkeit seiner Erzählung. Durch den zweiten „erfundenen“ Schluß legitimiere er erst seine Bemühungen.[20]

„Denn schließlich: Verhält sich der Erzähler denn anders als Jakob, den er als Held zu preisen versucht? Jakob will mit seiner Radiolüge Hoffnung stiften – ebenso wie der Erzähler mit seiner Geschichte über Jakob.“[21]

[...]


[1] zitiert wird nach Becker, Jurek: Jakob der Lügner. Frankfurt am Main. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. 20. Aufl. 1998

[2] Reich-Ranicki, Marcel: Roman vom Ghetto. In: Heidelberger-Leonard, Irene: Jurek Becker. Frankfurt am Main. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. 2. Aufl. 1997. S. 133

[3] zitiert wird nach: Hilsenrath, Edgar: Nacht. München. Piper Verlag. 3. Aufl. 1997

[4] Nagel, Wolfgang: Schon mal von diesem Hilsenrath gehört? In: Zeitmagazin. Nr. 40/ 29.09.1978, S. 43

[5] ebd.

[6] vgl. Brecheisen, Claudia: Literatur des Holocaust: Identität und Judentum bei Jakov Lind, Edgar Hilsenrath und Jurek Becker. Universität Augsburg. 1993, S. 68

[7] ebd., S. 250

[8] ebd., S. 185

[9] ebd., S. 9

[10] ebd., S. 44

[11] Becker, J. a.a.O., S. 20

[12] ebd., S. 32

[13] Brecheisen, C. a.a.O., S. 86

[14] vgl. Krüger , Brigitte: Zum Zusammenhang von künstlerisch-ästhetischer Wertung und ethisch-moralischen Wirkungspotenzen im literarischen Kunstwerk als Rezeptionsvorgabe – untersucht an Jurek Becker: „Jakob der Lügner“. Potsdam. 1977. zit. nach Brecheisen, C. a.a.O., S. 86

[15] Becker, J. a.a.O., S. 192

[16] ebd., S. 194

[17] vgl. Michaelis, Rolf: Der andere Hiob. „Jakob der Lügner“ – Der moralische Roman aus den mörderischen Jahren von dem Ost-Berliner Jurek Becker. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 75, 30.03.1971, (Beil.), S. II

[18] Becker, J. a.a.O., S. 163

[19] vgl. Graf, Karin und Ulrich Konientzky: Werkheft Literatur. Jurek Becker. München. Iudicum-Verlag. 1991, S. 58f

[20] vgl. Brecheisen, C. a.a.O., S. 216

[21] ebd.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Menschlichkeit im Ghetto: Jurek Beckers Jakob der Lügner und Edgar Hilsenraths Nacht
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Neuere deutsche Literatur)
Veranstaltung
Jüdische Schriftsteller in Berlin nach 1945
Note
1,3
Autor
Jahr
1999
Seiten
18
Katalognummer
V12368
ISBN (eBook)
9783638182706
Dateigröße
382 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
jüdische Autoren/ Schriftsteller, Jurek Becker, Edgar Hilsenrath, Jakob der Lügner, Ghettoliteratur
Arbeit zitieren
Juliane Barth (Autor:in), 1999, Menschlichkeit im Ghetto: Jurek Beckers Jakob der Lügner und Edgar Hilsenraths Nacht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12368

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