Die gesellschaftliche Konstruktion von Unsicherheit

Unsicherheit, Medien und Terrorismus


Magisterarbeit, 2008

87 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2. Angst aus soziologischer Sicht
2.1 (Un-) Sicherheit aus soziologischer Sicht
2.2 Die Entwicklung von Risiko in der Gesellschaft

3 Angst, Unsicherheit, Risiko. Der Wandel zur Sicherheitsgesellschaft

4. Der mediale Einfluss auf die Wirklichkeitskonstruktion der Sicherheitsgesellschaft
4.1 Mediale Wirkungsmodelle
4.2 Angst, Risiko – Die mediale Konstruktion von Unsicherheit
4.3 Medien und Terrorismus. Empirische Studien zur Verunsicherung der Bevölkerung

5. Terrorismus, Macht und Medien
5.1 Ursachen, Motive für Terrorismus
5.2 Terrorismus als Kommunikationsstrategie
5.3 Die symbiotische Beziehung zwischen dem Terrorismus und den Medien
5.4 Propaganda, Terrorismus und Medien. Die Konstruktion der globalen Unsicherheit

6 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Wie geht eine Gesellschaft mit Angst, Unsicherheit und Risiko um? Welcher Anteil an der Verbreitung von Angst und Unsicherheit und der Wahrnehmung von Risiko ist dabei den Massenmedien zuzurechnen? Nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem zunehmenden internationalen Terrorismus sind diese Fragen von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung. Ziel dieser Arbeit ist es insbesondere, die Wechselwirkungen zwischen terroristischen Aktionen und der Berichterstattung hierüber in den westlichen Medien herauszuarbeiten und die Folgen dieser Berichterstattung auf tatsächliche, aber oft auch nur auf gefühlte Bedrohungsszenarien und Angstzustände moderner Gesellschaften zu untersuchen. Dabei ist für das Verständnis des gesellschaftlichen Umgangs mit Angst und Unsicherheit zunächst entscheidend, eine Antwort auf die Frage zu finden, was Angst für den Menschen und die Gesellschaft bedeutet und wie sich diese im Laufe der Geschichte verändert hat. Soziologisch bedeutend ist hier insbesondere, inwieweit Angst das Handeln der Menschen beeinflusst. Desweiteren wird die Frage zu klären sein, inwieweit Angst und Unsicherheit bedeutsam für die gesellschaftliche Entwicklung sind. Eine zentrale Bedeutung kommt diesbezüglich der Handlungsproblematik in Bezug auf Erwartungssicherheiten einer sich wandelnden Gesellschaft zu, denn eine aufgrund funktionaler Ausdifferenzierung immer komplexer werdenden Gesellschaft produziert zunehmend Kontingenzen, welche alte Handlungssicherheiten in Frage stellen. Es wird demnach zu untersuchen sein, inwieweit Handlungssicherheiten und Ängste inter-kulturell divergieren und somit Rückschlüsse auf einen sozialen Ursprung liefern. Darauf aufbauend wird der Frage nachgegangen, inwiefern und aus welchen Gründen Unsicherheit und Angst in die gesellschaftliche Definition des Risikos verwandelt werden. Entscheidend für diese Definition des Risikobegriffs ist hierbei ein sich veränderndes Weltbild, welches sich im Zeitalter der Aufklärung in Europa manifestieren konnte. Was bedeutet die Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr für die Gesellschaft und wie wirkt sie sich auf die Handlung der Menschen aus? In der modernen soziologischen Risikoforschung herrscht Konsens darüber, dass soziale Gruppen ihre eigenen Risikobilder konstruieren (vgl. Renn/Schweizer 2007: 56). Zwar gibt es reale Ereignisse, die nicht durch soziale Konstruktionen uminterpretiert werden können, im Zusammenhang mit Risiko sind jedoch die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen der Wirklichkeit, die neben Interessensdivergenzen und Wertdifferenzen bedeutend die Entstehung und Austragung von Konflikten bestimmen, wichtig. Zu klären wird auch sein, inwieweit die Moderne unsere Vorstellung von Sicherheit und Risiken verändert? Wer definiert was sicher oder riskant ist und warum nehmen Individuen, Gesellschaften oder Kulturen diese unterschiedlich war? Es gilt der Frage nachzugehen inwieweit die Kultur einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Risiken und Sicherheiten ausübt, also ob diese sozial konstruiert sind. Wichtig erscheint hierbei, zu untersuchen welche Rolle bei der Definition von Unsicherheiten und Risiken die Medien einnehmen. Da sie in ihrer Funktion die gesellschaftlichen Teilsysteme beobachten und die Beobachtung an die Gesellschaft weitergeben scheint es besonders wichtig zu sein den medialen Einfluss auf die Unsicherheitswahrnehmung der Gesellschaft zu untersuchen. Ein weiteres Feld dieser Arbeit wird sich mit dem Wandel der Gesellschaft hin zur Sicherheitsgesellschaft beschäftigen. Es gilt der Frage nachzugehen warum sich eine Gesellschaft überhaupt zu einer solchen entwickelt und welche Faktoren günstige Bedingungen dafür entstehen lassen. Hier wird ebenfalls der mediale Einfluss im Hinblick auf Konstruktion von Unsicherheit betrachtet, wobei die Rolle des Staates diesbezüglich nicht übersehen werden soll. Zentral dabei ist die Manipulationsmöglichkeit der lebensweltlichen Wirklichkeit der Bevölkerung. Wer profitiert durch eine Verängstigung der Menschen? Inwiefern bestimmen die Medien und die Politik die Agenda der Gesellschaft und beeinflussen somit die Angstperzeption der Menschen? Inwiefern haben sie Einfluss auf unsere Wirklichkeitsvorstellung? Um den Einfluss der Medien zu untersuchen wird auf verschiedene Wirkungsmodelle Bezug genommen, die den theoretischen Rahmen für die Hypothese der gesellschafts-medialen Konstruktion von Unsicherheit liefern sollen. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf die Frage der gesellschaftlichen Definitionsmacht zurückgegriffen. Welche gesellschaftliche Gruppe oder Instanz besitzt die Macht die eigenen Definitionen und Vorstellungen einer Wirklichkeit zu verbreiten und als „Realität“ darzustellen. Wie wird Aufmerksamkeit erzeugt und in welchem Zusammenhang steht diese zur Definitionsmacht? Gerade terroristische Gruppen haben eine funktionierende Strategie gewählt Aufmerksamkeit auf ihre Botschaften zu lenken. Es gilt zu beleuchten warum Medien und Terrorismus geradezu symbiotisch miteinander verbunden sind und inwieweit sie das Sicherheitsempfinden ganzer Gesellschaften beeinflussen können. Besonders deutlich wird diese enge Beziehung durch die terroristischen Anschläge auf New York am 11.September 2001. Warum sind gerade moderne Gesellschaften so anfällig für terroristische Anschläge? Empirische Studien sollen der Frage nachgehen, inwieweit die Risikowahrnehmung und die mediale Berichterstattung über die Anschläge in einer Beziehung zueinander stehen. Es wird hierbei angenommen, dass eine verstärkte Berichterstattung über terroristische Anschläge die Angst- und Unsicherheitsperzeption der Bevölkerung erheblich erhöht oder zumindest auf gleich hohem Niveau stabilisiert (siehe Kap. 4.3). Zu untersuchen gilt hier, inwieweit es sich dabei um eine soziale Konstruktion der Angst handelt und inwiefern diese bewusst manipulativen Charakter besitzen. Desweiteren wird zu zeigen sein, dass die Angst vor dem Terrorismus aus der Gesellschaft selbst und nicht von außen an sie herangetragen wird. Gesellschaftlicher Wandel und der Umgang der Medien und des Staates mit dem Terrorismus sind hier andeutungsweise mit der Unsicherheitswahrnehmung in Verbindung zu bringen. Abschließend soll geklärt werden warum der Terrorismus als Kommunikationsstrategie verstanden werden kann. Die symbiotische Beziehung zwischen Medien und Terrorismus wird hierbei mit der Konstruktion von Unsicherheit in Verbindung gebracht. Den Schluss der Arbeit bildet der Bezug zur global vernetzten Welt und die Möglichkeit über diese weltweit die Wirklichkeitswahrnehmung vieler Menschen zu beeinflussen.

2. Angst aus soziologischer Sicht

„Angst“ ist seit Sören Kierkegaard der Ausdruck für beim Individuum auftretende Gefühle, die seine „normale“ Befindlichkeit stören oder völlig aufheben. Sie können psychisch oder entwicklungspsychologisch bedingt sein, immer haben sie eine gewisse Orientierung an der Zukunft: man hat Angst, man fürchtet sich vor etwas, das kommen kann, kommt, oder kommen wird. Angst ist der auf ein Objekt, eine Person oder eine Sache gerichtete Ausdruck, welcher das Handeln lähmen und Aktivitäten behindern kann. Bevor jedoch ein solcher Zustand erreicht ist, wirken Angst oder Furcht aktivierend, als sie mindestens zum Nachdenken, wie die entstandene Situation behoben werden kann, anregen.

Des Weiteren soll nun von Angst und Furcht gesprochen werden, soweit sie durch die Gesellschaft hervorgerufen werden. Da Angst das Verhalten der Menschen beeinflusst, hat ihre Behandlung einen gewichtigen Platz in der Soziologie, die sich besonders mit den Verhaltensweisen des Menschen befasst (vgl. Wiesbrock 1967: 135). Obwohl es angeborene und infolgedessen persistierende Furchtreaktionen gibt, darf man den größten Teil des Angstverhaltens als abhängig von bestimmten sozialen und kulturellen Entwicklungsbedingungen, in Form von den Erziehungsmethoden der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen ansehen (vgl. Mühle 1967: 223). Es handelt sich dabei um einen Sozialisationsprozess, der sich der Angst als eines stimulierenden und motivierenden Faktors bedient. Dieser ist notwendig um ein erwünschtes Niveau des sozialen Verhaltens und der gesellschaftlichen Eingliederung zu erreichen. Um diesen Zustand zu stabilisieren bedarf es unter anderem auch der Angst als eines erlernten und in den Grenzen des Normalen gehaltenen Antriebs. Diese von Allison Davis (1944) beschriebene „sozialisierte Angstbereitschaft“ wirkt in mindestens gleicher Intensität wie die individuellen Komponenten auf die Entwicklung der Persönlichkeit ein. Und diese ist, wie es die Kulturanthropologie herausgearbeitet hat (vgl. hierzu Douglas 2001[zuerst 1982]), von Gesellschaft zu Gesellschaft wie in Bezug auf die verschiedenen Schichten einer Gesellschaft veränderlich und auch im Laufe der historischen Epochen variabel. Dabei sind die kulturell bedingten Formen leichter in Richtung auf die geforderte Normierung aus- und anzugleichen, während sich die individuellen Einstellungen als stärker resistent erweisen.

Montesquieu behauptete in seinem 1748 erschienenen Werk De L`Esprit des Lois, Furcht oder Angst besäßen nur in der Despotie eine politische Bedeutung (vgl. Nitschke 1967: 22). Da sich die republikanische Verfassung auf die Liebe aller Bürger zum eigenen Staat und die Monarchie sich auf das Ehrgefühl des einzelnen stützt, sei das Prinzip der Angst und Furcht politisch nicht notwendig. Die Despotie hingegen benötigt die Angst und Furcht seiner Bürger als „Triebkraft“ zum existieren. Als einer der ersten beschrieb der christliche Staatstheoretiker Lactanz im dritten Jahrhundert (vgl.Nitschke 1967: 25) diesen Mechanismus bei dem ein Mensch nur dann dazu gezwungen werden kann, sich gerecht und freundlich gegenüber den Mitmenschen zu verhalten, wenn er bei Ungerechtigkeit eine Strafe zu fürchten hat. Damit diese Strafe auch wirklich gefürchtet werden kann, muss sie auch nach dem Ende des Lebens noch spürbar sein. Eine Strafe diesen Ausmaßes kann aber nur Gott verhängen. Will man also die Bürger dazu erziehen, sich gegenseitig zu respektieren, müssen sie einen bei unrecht zürnenden Gott fürchten. So formuliert Lactanz seine Lehre von Gottes Zorn:

„Was man nicht fürchtet, schätzt man gering; und was man gering schätzt, wird man sicherlich nicht verehren. So ergibt sich, dass Religion, Würde, Ehre auf der Furcht gründen; Furcht kann aber nicht bestehen, wo niemand zürnt.“ (zitiert nach Nitschke 1967: 25)

Wie die Geschichte gezeigt hat übernahmen viele Herrscher diese Anschauung, vor allem, wenn sie sich selbst für Stellvertreter Gottes auf Erden hielten oder machten. So wurde vor allem in christlichen Kulturen gefordert, dass Untertanen Furcht vor ihren Herren haben mussten. Diese Ideologie diente der Vorstellung durch Erzeugung von Angst und Furcht die Untertanen zu disziplinieren und somit die gesellschaftliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung zu erhalten (vgl. hierzu auch Foucault 2007 [zuerst 1975]). Gleichzeitig erwirbt die herrschende Schicht damit die Legitimation, für Gott als dessen Stellvertreter auf Erden zu handeln (vgl. Nitschke 1967: 27). Die Furcht vor Gott wird also eins mit der Furcht vor der Obrigkeit. Die Angst hatte dabei die Funktion, die Menschen am Unrechttun zu hindern, die Furcht war notwendig, um Gehorsam zu erzeugen. Seit der Antike wird die Angst immer wieder als Mittel von Herrschenden benutzt, Mitarbeiter und Untertanen zu willfährigen Befehlsempfängern zu machen. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle zum Beispiel berichtete nach einem Besuch bei Stalin in Moskau über solcherlei Maßnahmen. Auf einem Bankett zwang Stalin die anwesenden Beamten, an ihn heranzutreten und mit ihm anzustoßen. Er drohte dabei dem Stabschef der Luftstreitkräfte: „Du hast unsere Flugzeuge einzusetzen. Wenn du es schlecht tust, weißt du, was dir blüht!“ (Zitat siehe ebenda: 30).

Wie am Anfang dieses Kapitels erwähnt, behauptete Montesquieu, dass nur Despotie darauf angewiesen sei, bei Untertanen Angst und Furcht zu bereiten. Alle anderen Regierungsformen könnten ohne Furcht auskommen. Gerade die Demokratie lebe von der Tugend ihrer Bürger, bedeutet von der Liebe zum Staat. Montesquieu bezieht sich darauf, dass die Menschen in der Demokratie politisch aktiv werden, ohne dass sie von Angst oder Furcht zu ihrem Handeln angespornt werden. Allerdings ist die Vorstellungen, Demokraten seien stets frei von Furcht, ein Irrtum. Menschen, die aus Tugend handeln, bei denen also im Sinn von Montesquieu die Treue zum Staat dominiert, werden doch oft von Angst und Sorge um das künftige Geschick des eigenen Landes beschlichen (vgl. ebenda: 31). Ferner erwacht die Furcht, sich nicht im konkurrierenden Wirtschaftskreislauf behaupten zu können. Diese Angst kann nicht nur ein Ansporn zu wirtschaftlicher Aktivität werden, sie wirkt sich auch auf Sitte, Moral und Mode aus. Dieser soziale Druck, das Verhalten den ethischen Gesetzen der Kirche und den Regeln der maßgebenden Gesellschaft anzupassen, zielt auf die Anerkennung der Mitmenschen. Diese Anerkennung wird erworben, wenn der Mensch für sich oder für den Staat eine ungewöhnliche Machtposition erwirbt, die den anderen Mitbürgern ihnen imponiert oder zumindest nicht negativ auffällt (vgl. hierzu auch Elias 2003 [zuerst 1969]). Das eigene Handeln vermindert so die Gründe, die Angst auslösen könnten. Die Angst der gegenwärtigen Gesellschaften beschreibt Nitschke mit der Metapher zweier Räume, einer der Freiheit und einer der Bedrohung. Das besondere ist die Tatsache, dass aus dieser Angst keine Verhaltensempfehlung resultiert. Die Angst vor der Strafe Gottes oder des Herrschers veranlasste die Menschen gesetzeskonform zu leben oder ganz auf den eigenen Willen zu verzichten. Bei Gehorsam brauchten sie keine Strafe zu fürchten. Die Angst im Beruf zu versagen oder von anderen Menschen geächtet zu werden, zwingt die Betroffenen, noch intensiver zu arbeiten und noch mehr auf die soziale Stellung zu achten; die Angst wird somit umgangen. Ist nun aber die Welt in zwei Räume aufgeteilt, und zwar zum einen in den Raum der Freiheit und des Vertrauens und zum anderen in den Raum der Bedrohung und des Misstrauens, so kann man sich nicht mehr so verhalten, dass in der Zukunft kein Grund mehr zur Angst bestehen wird. Beide Räume werden existent bleiben, so dass der Raum der Freiheit immer gefährdet sein wird und die Angst zum menschlichen Leben dazu gehört. Der Mensch kann ihr nicht entgehen. Allein das Wissen, dass auch ein anderer Zustand möglich ist, welcher als weniger angenehm empfunden werden kann, erzeugt ein Gefühl der Angst. Angst hat demnach nicht mehr die Funktion, eine Korrektur menschlichen Handelns zu bewirken, die es wahrscheinlich macht die angstvollen Stimmungen zu nehmen, sondern sie macht dem Menschen bewusst, dass es Bereiche des Vertrauens gibt und diese immer bedroht sind.

Wie dieser kurze Überblick gezeigt hat, scheint der Mensch immer mit einer gewissen Angst zu leben und seine Handlungen scheinen von Angst beeinflusst. Aus diesem Grund ist Angst schon seit jeher Thema soziologischer Betrachtungen. Angst ist ebenso angeboren wie sozial vermittelt, um als Druckmittel Gehorsam und Normkonformität in der Gesellschaft zu erreichen. Die „sozialisierte Angst“ (z.B. bei einer Bahnfahrt ohne Fahrausweis erwischt zu werden) variiert in ihrer Ausprägung innerhalb und zwischen den Gesellschaften. Der Wandel der Inhalte, vor denen man Angst hat, entspricht dem gesellschaftlichen/kulturellen Wandel im Ablauf der Geschichte. Menschen, Gesellschaften und Kulturen sehen sich selbst und ihre Umwelt in unterschiedlicher Weise und jede Sicht der Wirklichkeit wird durch eine bestimmte Art der Angst mitbegründet (vgl. Nitschke 1967: 32). Die Angst eines Menschen eröffnet so einen Zugang zur sozialen Wirklichkeit, in der dieser Mensch lebt und beeinflusst das gesellschaftliche, sowie das politische Handeln. Nach Meinung vormoderner Staatstheoretiker ist eine soziale Ordnung nur durch die Androhung von Strafe bei Ungehorsam zu erreichen. Da die oberste Instanz der Vormoderne die göttliche Macht darstellte, wurde die ausführende Instanz auf den weltlichen Herrscher übertragen. Nach der Aufklärung und der Idee vom freien Individuum und Staat verschwand die Angst jedoch nicht, sondern verwandelte sich in die Furcht, nicht genug zum Wohle der Gemeinschaft und des Staates zu tun. Im „Prozess der Zivilisation“ (Elias 2003 [zuerst 1969]) wächst der soziale Druck, sich der Gesellschaft anzupassen und nicht gegen herrschende Normen und Ethik zu verstoßen. Es wächst die Angst vor individuellen Nachteilen und der sozialen Ächtung bei Abweichung. Richtiges Handeln, so die Vorstellung der Menschen, kann Situationen der Angst verhindern. Bleiben wird jedoch immer die Angst vor der Angst.

Im folgenden Kapitel wird nun eine Verbindung zwischen der Angst und der damit verbundenen Unsicherheit geknüpft und deren Bedeutung für den gesellschaftlichen Umgang beleuchtet.

2.1 (Un-) Sicherheit aus soziologischer Sicht

„Angst steigert die Unsicherheit, und Unsicherheit erzeugt Angst“ (Sofsky 2005: 30)

Der Diskurs der Unsicherheit hat bereits in den Anfängen der soziologischen Reflexion eine Rolle gespielt (vgl. Bonß 1991: 258f). Eines der bekanntesten Beispiele in diesem Zusammenhang ist Thomas Hobbes „Leviathan“ aus dem Jahre 1651 (vgl. Hobbes 2006 [zuerst 1651]), welches sich nach Bonß und Zinn (vgl. 2005: 187ff) als eine paradigmatische Reaktion auf die zeitgenössischen Erfahrungen von Kontingenz, Zukunftsoffenheit und Unsicherheit interpretieren lässt. Der Hobbessche Leviathan entsteht in Reaktion auf die Unsicherheiten, die aus dem Naturzustand resultieren, wobei Hobbes sich die Herstellung von Eindeutigkeit, also die Beseitigung von grundlegender, handlungsbedrohender Kontingenz, nur durch die Ausbildung des absoluten Staates vorstellen kann. Es entsteht ein Gesellschaftsvertrag, indem sich nach Hobbes die Individuen darauf einigen, alle Kontingenzen und Probleme auf einen Dritten, nämlich den absoluten Staat, abzuwälzen und dadurch eine grundlegende Sicherheit zu erhalten. Inspiriert von Hobbes stehen in der neueren Soziologie u.a. bei Talcott Parsons (vgl. 1961 [zuerst 1937]; Bonß 1991: 259) die Hobbesschen Überlegungen im Zentrum der soziologischen Theoriebildung wobei insbesondere die Frage, wie soziale Ordnung möglich ist, im Vordergrund des Interesses steht. Bei Hobbes jedenfalls taucht Unsicherheit als Abweichung von der Ordnung und damit als ein Problem der sozialen Kontrolle auf.

In der geisteswissenschaftlichen Literatur wird Unsicherheit meist grundlegend verortet; sie gilt als Hintergrund allen biologischen, als auch gesellschaftlichen Lebens - das Streben nach Sicherheit erscheint für viele als ein Grundbedürfnis des Menschen (vgl. u.a. Maslow 1967, Cube 1990). Unsicherheit ist deshalb kein Phänomen der Moderne, sondern findet sich ebenso in vormodernen Gesellschaften. Immer schon waren und sind Individuen existentiellen und akzidentiellen Gefährdungen ausgesetzt, stets strebt der Mensch nach dem Gefühl der Sicherheit. Douglas und Wildavsky konnten in kulturanthropologischen Studien zeigen, dass das Sicherheitsbestreben ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Gesellschaften divergieren demnach zum einen in der Art, wie Unsicherheiten wahrgenommen werden, zum anderen bezüglich der Strategien zur Herstellung von Sicherheit. Differenzierungen reichen von reaktiv-symbolischen, magischen Formen, bis zur rationalen Kalkulation und Vorsorge. Für die aktuelle soziologische Betrachtung ergeben sich daraus folgende Erkenntnisse (vgl. dazu auch Bonß;Hohl;Jakob 2001: 147ff.):

Sicherheit und Unsicherheit sind keine konstanten, eindeutig bestimmbaren Größen, sondern veränderbare gesellschaftliche Konstruktionen. In der Soziologie hat vor allem Luhmann (vgl. 1984: 417ff.) den Begriff der Sicherheit mit Erwartungssicherheit, also der Bewältigung einer unsicheren Zukunft gleichgesetzt. Erwartungssicherheit wird ebenso wie Unsicherheitserfahrungen auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Folgen ausgebildet. Nach Bonß und Zinn (vgl. ebenda 2005: 186ff) sind in systematischer Hinsicht drei Ebenen voneinander abzugrenzen:

(a) Auf der makrotheoretischen Ebene geht es um sozialstrukturelle und institutionelle Handlungskontexte, bei denen die Dynamik des Modernisierungsprozesses und die damit verbundene Vervielfältigung von Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund stehen. Strukturelle Eindeutigkeiten lösen sich auf, es entsteht Kontingenz.
(b) Die mikrotheoretische personale Ebene analysiert Probleme der individuellen Erwartungsbildung und Strukturwahrnehmung in Bezug auf Sicherheit und Unsicherheit.
(c) Auf der personalen Ebene sind des Weiteren noch die subjektiven (Un-) Sicherheitsgefühle zu notieren. Diese verweisen auf kognitive und emotionale Bestandteile der Wahrnehmung. Für die einen sind Unsicherheiten eine Bedrohung, für die anderen positiv bewertete Herausforderungen. Dies ist ein Grund, weshalb strukturelle Unsicherheiten nicht automatisch mit personaler Verunsicherung gleichgesetzt werden können.

Jenseits dieser Differenzierung bleibt festzuhalten, dass Sicherheit und Unsicherheit unter soziologischen Perspektiven zunächst als Handlungsprobleme thematisiert werden. Sicherheit bedeutet Handlungssicherheit und baut demnach auf Erwartungssicherheiten auf. Diese Erwartungssicherheiten sagen zwar wenig über tatsächliche Bedrohungen oder Gefahrenbeseitigungen aus, gleichzeitig liefern sie aber viele Informationen über sozial wirksame Sicherheitskonstruktionen, die immer dann auftauchen, wenn nicht kontrollierbare Kontingenz in handhabbare Komplexität umdefiniert werden soll. Für Luhmann (vgl. 1984) hat Sicherheit nichts mit objektiver Gefahrenbeseitigung zu tun, sondern bezeichnet eine spezifische Strukturbildung zur Bewältigung einer prinzipiell unsicheren Zukunft. Die Umwandlung von Kontingenz in Komplexität beschreibt er als einen Prozess der Strukturbildung und meint damit nichts anderes, als dass aus einem Universum denkbarer Möglichkeiten bestimmte Möglichkeiten als handlungsrelevant ausgewählt, andere hingegen als irrelevant ausgeblendet werden, wobei genau dieser Selektionsprozess zu Sicherheit führt. Von Unsicherheit wäre umgekehrt zu sprechen, wenn derartige Antizipationsmöglichkeiten fehlen und der Transformationsprozess auf struktureller sowie personaler Ebene nicht oder nur teilweise gelingt. Ein einfaches Beispiel für diesen Selektionsprozess ist die Erwartung, dass morgen die Sonne wieder aufgehen wird: Da die Sonne seit Menschengedenken immer wieder aufgegangen ist, können diese Denkmöglichkeiten, ob sie aufgehen wird oder nicht ausgeblendet, d.h. ausselektiert werden. Erwartungssicherheiten entstehen nun dadurch, dass vergangene Erfahrungen in die Zukunft verlängert werden. Je weniger dabei mit anderen Ereignissen zu rechnen ist, desto größer ist die Sicherheit, dass die Erwartung eintritt.

Handeln ist nur dann möglich, wenn sich die Welt als erwartbar stabil darstellt und nicht permanent als auch anders möglich erscheint. Erwartungssicherheiten garantieren genau diese Stabilität, die als Handlungsvoraussetzungen universell sind und können somit als eine anthropologische Konstante begriffen werden, die natürlich in ihrer Umsetzung variieren kann. Dies macht deutlich, dass die Sicherheitsproblematik nicht unter der Perspektive unverrückbarer und eindeutiger Gewissheiten betrachtet werden kann, sondern auf soziale Gewissheiten bezogen werden muss. Erwartungssicherheiten sind also demnach subjekt- und situationsbezogene Konstrukte, die angenommen oder abgelehnt werden können und eher auf eine soziale als auf eine materielle Beseitigung von Ungewissheit verweisen (vgl. hierzu auch Bonß 1997: 24ff.). Natürlich gibt es unterschiedliche Formen (technisch, ökonomisch, sozial) und unterschiedliche Grade an Sicherheit. So ist die Wahrscheinlichkeit des Sonnenaufgangs ungleich größer als die Lieferung der Post jeden Morgen. Das gleiche gilt für die Sicherheit technischer Anlagen, einige sind weniger sicher als andere. Erwartungssicherheiten sind demnach nicht absolut, sondern gesellschaftliche Konstruktionen, die für soziales Handeln notwendig und unverzichtbar sind, sich in sozialen Interaktionsbeziehungen verfestigen, aber auch in Frage gestellt werden können.

Die Erwartungssicherheiten und die Strategien zur Herstellung von Sicherheit divergieren zwischen Vormoderne und Moderne. Ein Beispiel hierfür liefert die Kulturanthropologin Mary Douglas (vgl. 2001 [zuerst 1982]: 6ff.), die in ihrer Analyse von Unsicherheits- und Sicherheitskonzepten zeigen konnte, dass vormoderne Gesellschaften über völlig andere Konzepte verfügen als neuzeitliche. Dies gilt sowohl für das, was als Unsicherheit wahrgenommen wird, als auch für die Art und Weise, wie hiermit umgegangen wird. Douglas verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf den Fall der Lele, einem afrikanischen Stamm in Zaire. Die Mitglieder dieses „vormodernen“ Stammes sind zahlreichen Gefahren ausgesetzt, jedoch werden nur drei Bedrohungen als sozial erklär- und handhabbare und damit als sicherheitsrelevante Probleme realisiert: Unfruchtbarkeit, Bronchitis und die Möglichkeit vom Blitz getroffen zu werden. Sofern diese Unsicherheiten sozial erklärbar sind werden sie keineswegs ohnmächtig hingenommen, aber die verorteten Sicherheitsstrategien entsprechen kaum den Maßstäben, wie sie für Mitglieder okzidental rationalisierter Kulturen als „angemessen“ gelten. So besteht die Vorsorge vor den oben genannten Gefahren nicht darin, sich auf die Umwelt anders einzustellen oder die Umweltbedingungen zu verändern, sondern es kommen magische Praktiken zum Einsatz, wie etwa Amulette, die vor der transzendentalen Gefahr schützen sollen. Das Verhalten der Lele gründet auf der Erwartungssicherheit sich auf magische Weise vor den Gefahren zu schützen.

Die Moderne hingegen orientiert sich an der Idee einer kausalanalytisch orientierten Gefahrenbeseitigung, die sich vor allem seit der Aufklärung dadurch auszeichnet, dass Sicherheit nicht mehr als eine letztlich außerhalb der eigenen Welt liegende Angelegenheit ist, sondern zu einem dem eigenen Handlungskontext zuzurechnenden Phänomen wird (vgl. Bonß 1997: 26f). Die gezielte Suche nach Sicherheit wäre nicht ohne ein verändertes (Welt-)Verständnis von Unsicherheit möglich. Unsicherheiten werden demnach nicht länger als kosmologische Bedrohung und Gefahr begriffen, sondern erklären sich als selbst produziert und demnach als beherrschbar (vgl. Kaufmann 1973: 49ff.). Diese Säkularisierung ist die Voraussetzung, um Unsicherheiten aktiv beherrschbar zu machen oder jedenfalls so erscheinen zu lassen. Unsicherheiten lassen sich zwar nicht vollständig in Sicherheiten verwandeln, wohl aber in generalisierbarer Form rational kalkulieren und produktiv verarbeiten. Genau an diesem Punkt unterscheiden sich die modernen von den vormodernen Praktiken, die als magisch stets reaktiv bleiben, aufgrund ihrer Transzendenz nie beseitigt werden können und somit allgegenwärtig sind. Vollständige Sicherheit ist demnach unmöglich.

Kaufmann (vgl. 1973: 10ff.) betrachtet den Wunsch nach absoluter Sicherheit in der Moderne als eine „gesellschaftliche Wertidee“, denn erst unter den Bedingungen eines Weltverständnisses, in dem der Mensch und nicht mehr Gott als der eigentlich Handelnde verstanden wird, werden Unsicherheit und Sicherheit zu Faktoren, die die Menschen als Produkt ihres Handelns und insofern als beeinflussbar wahrnehmen. Max Weber hat diese Sichtweise bereits in seiner Theorie der okzidentalen Rationalisierung beschrieben (vgl. ebenda 2006 [zuerst 1922]: 311ff). In dieser verwies er auf eine neue Idee von Weltbeherrschung, nämlich auf

„den Glauben daran, daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen, unsichtbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen könne“ (Weber 1980 [zuerst 1919]: 317).

Das Sicherheitsversprechen der okzidentalen Rationalisierung bezieht sich also nicht unbedingt auf faktische Sicherheiten, sondern auf einen Glauben an die Sicherheit, und damit auf das, was von Luhmann als Erwartungssicherheit bezeichnet worden ist (vgl. Bonß 1997: 28). Sicherheit wird demnach durch den Glauben an die Berechenbarkeit der Welt hergestellt. Dieser Glaube wiederum findet seinen Ausdruck im Weberschen Prinzip der rationalen Kalkulation (vgl. ebenda 2006 [zuerst 1922]: 11ff), welches im Kern auf ein subjekt- und situationsunabhängiges Durchspielen von Unsicherheitskontexten hinausläuft. Die Unabhängigkeit von der konkreten Situation ermöglicht die Berechnung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses, welche dann auch seit dem 17./18. Jahrhundert zur Sicherheitsherstellung zu Rate gezogen wurde.

Die Muster der rationalen Kontrolle und persönlichen Entwicklungsfähigkeit geraten jedoch auch in der Moderne mehr und mehr unter Druck. Zunehmende Entwicklungsdynamiken (Globalisierung, Individualisierung) lassen die Idee der individuellen Handlungsrationalität zunehmend obsolet werden, da die einzelnen Menschen immer weniger in der Lage sind, Entscheidungssituationen zu überblicken (vgl. Bonß/Zinn 2005: 190f). Es sind vielmehr die durch den Kontingenzschub der Modernisierung bedingten mangelnden Sicherheiten und wachsenden Erwartungs un sicherheiten, die es immer schwieriger machen, langfristige kontext- und situationsunabhängige Entscheidungen zu fällen. Obwohl dem Menschen in der Moderne oft rationale Entscheidungskriterien fehlen, ist er trotz alledem gezwungen zu entscheiden. Das einzige, was sicher scheint ist die Unsicherheit und der Zwang zur Flexibilität, der nach Sennet (vgl. 2006: 99ff) völlig neue Sozialcharaktere wie den „flexiblen Menschen“ erzwingt.

Absolute Sicherheit ist also eine Illusion und so gibt es stets Restunsicherheiten die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Im Zuge einer beschleunigten, insbesondere technisch geprägten Veränderung nahezu aller Lebensbereiche im Rahmen fortschreitender gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse scheint „Vertrauen“ demnach ein geeigneter individueller Mechanismus zu sein Unsicherheiten zu bestehen, die nicht mittels Wissen oder rationaler Kalkulation kontrolliert werden können. Je ausgeprägter das Bewusstsein von Menschen für die Unsicherheiten und Unkalkulierbarkeiten des Lebens aufgrund von Intensität und Tempo dieser Wandlungsprozesse wird, desto eher müssen sie ihrer eigenen Handlungsmächtigkeit entzogenen Technik, Expertenwissen und Institutionen vertrauen (vgl. Endress 2002: 7). Vertrauen schafft zwar keine absolute Sicherheit, da es ja schließlich auch enttäuscht werden kann, es verringert jedoch die subjektive Wahrscheinlichkeit eines unerwünschten Ereignisses bis zu dem Grad, der es angemessen erscheinen lässt, diese Möglichkeit nicht weiter in Betracht zu ziehen (vgl. Bonß/Zinn 2005: 194f). Aus handlungstheoretischer Perspektive ist Vertrauen demnach ein Mittel, um ein Informationsproblem zu bearbeiten und zwar genau dann, wenn rationale Kalkulation nicht mehr ausreicht, wenn Zweifel an der Zukunft auftreten oder die Gültigkeit bestehender Handlungsabläufe gestört ist. In solch einem Fall ist Vertrauen gefragt, um die neu aufgetretene Unsicherheit auf ein handhabbares Maß zu reduzieren. Der Kern des Vertrauens besteht also darin, dass ein Informationsdefizit, das über Wissen und ausschließlich rationale Kalkulation nicht zureichend bearbeitet werden kann, anhand des Glaubens geschlossen wird. Dieser Glauben an das Vertrauensmoment ist Bonß und Zinn zur Folge (vgl. 2005: 195) durch sozio-kulturelle und subjektive Faktoren beeinflusst, also konstruiert.

Zusammenfassend soll hervorgehoben werden, dass Sicherheit schon seit jeher ein elementares Grundbedürfnis des Menschen gewesen ist und dass diese in der Wahrnehmung sowie in der Herstellung zwischen den Kulturen und Gesellschaften im Verlauf der historischen Entwicklung variiert. Die Soziologie hat sich schon in ihren Anfängen mit diesem Thema beschäftigt - der Hobbessche Gesellschaftsvertrag baut maßgeblich auf dem Wunsch auf, mehr Sicherheit für den Menschen zu erreichen. Beim Diskurs über Sicherheit besteht in der Soziologie Konsens darüber von Erwartungssicherheit zu sprechen und Unsicherheit als ein Handlungsproblem zu betrachten. Erst soziale Sicherheitskonstruktionen, z.B. die Sicherheit beim Kaufprozess für Geld eine Leistung in Form einer Ware oder Dienstleistung zu bekommen, transformieren Kontingenz (z.B. Geld wird verbrannt) in Komplexität – so eröffnet die erworbene Ware/Dienstleistung wiederum neue Möglichkeiten des Handelns (z.B. Kauf eines Farbeimers ermöglicht die Handlung das Zimmer zu streichen). Die Erfahrung, wie in der Gesellschaft Interaktionen ablaufen (Ware für Geld) grenzt die möglichen Alternativen ein (Kontingenz) und schafft somit Handlungssicherheit. Diese Sicherheiten sind nicht global eindeutig, sondern variieren innerhalb und zwischen Gesellschaften; sie sind also sozial konstruiert. Den entscheidenden Wendepunkt im Sicherheitsdiskurs zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften stellt die Epoche der Aufklärung dar. Erst mit der Überzeugung selbst für eigenes Handeln verantwortlich zu sein und Ereignisse nicht mehr einer transzendentalen Macht zuordnen zu sollen, wurde es den Menschen möglich, (Un-) Sicherheiten rational, also situationsunabhängig zu kalkulieren. Nicht mehr ein Gott ist verantwortlich für einen möglich tödlichen Autounfall, sondern die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses beträgt XY%. Dennoch ergibt sich insgesamt ein widersprüchlicher Befund: Zwar haben „die Menschen (…) noch nie so sicher gelebt (…) wie in den modernen, industriellen oder postindustriellen Gesellschaften“ (Kaufmann 1987: 38). Dies lässt sich allerdings weniger auf linear wachsenden Sicherheitsgewinne, als vielmehr auf eine neue Zusammensetzung von Sicherheit und Unsicherheit zurückführen (vgl. Beck/Bonß 2001: 149). Wachsende Naturbeherrschung wird mit neuen Uneindeutigkeiten erkauft, die zu anderen Sicherheitsdiskursen zwingen, und zwar unter technischen Gesichtspunkten (z.B. Atomkraft) wie auch unter ökonomischen (z.B. Globalisierung), politischen (z.B. Arbeitslosigkeit), sozialen (z.B. Terrorismus) und biographischen (z.B. Flexibilität) Aspekten. Moderne Gesellschaften unterscheiden sich im Diskurs der (Un-) Sicherheit von Vormodernen durch einen unübersehbaren Kontingenzschub und Möglichkeitszuwachs. Es besteht der Zwang sich auch bei Unsicherheit entscheiden zu müssen. Da das Ideal der vollständigen Kontrollierbarkeit nicht realisierbar ist, wird Vertrauen in unsichere Situationen immer wichtiger. Vertrauen hat demnach die Aufgabe durch Glauben Informationsdefizite zu lösen, um somit Unsicherheit in handhabbare Komplexität zu reduzieren (z.B. das Fliegen mit dem Flugzeug, ohne genau zu wissen wie und ob die Technik funktioniert). Inwieweit nun Unsicherheiten und Ängste in der Gesellschaft in Risiken verwandelt werden, soll im folgenden Kapitel beschrieben werden.

2.2 Die Entwicklung von Risiko in der Gesellschaft

Vorab soll erwähnt werden, dass sich die folgenden Ausführungen bewusst nicht mit der technischen „Risikogesellschaft“ a la Beck und der sehr umfangreichen Literatur zu dieser Problematik auseinandersetzen. Verzichtet wird ebenfalls auf die Zusammenstellung und Beschreibung der unterschiedlichen Ansätze der soziologischen Risikoforschung (siehe hierzu Renn/Schweizer/Dreyer/ Klinke (2007): 44ff). Vielmehr bezieht sich die hier zu untersuchende Risikoproblematik überwiegend auf soziale Risikolagen und deren Konstruktion, da dies im Zusammenhang mit Angst und Unsicherheit als fruchtbarer Ansatz erscheint.

Schon die Betrachtung der Etymologie des Risikobegriffs bestätigt, dass die Konzeption des Risikos auf einen evolutionär späten Sonderfall von Unsicherheitshandeln verweist (vgl. Bonß 1995: 49ff). Nachgewiesen und abgegrenzt von der Gefahr ist die Rede von Risiko zunächst in den italienischen Städten und Stadtstaaten des 12. und 13. Jahrhunderts. Der Risikobegriff taucht hier ursprünglich im Kontext des Seehandels auf, schließlich war dieser eine zwar gezielt geplante, aber doch unsichere Angelegenheit. Jederzeit konnten Schiffe untergehen oder Transporte überfallen werden. Diese Unsicherheiten wurden als Risiken und nicht mehr als Gefahren bezeichnet. Der Händler, der sie einging, war jemand, der etwas „riskierte“, d.h. „wagte“ (ital. Risciare = wagen). Er unterwarf sich nicht der Unsicherheit, sondern forderte sie kalkulierend heraus und spekulierte gleichzeitig auf etwas Glück. Mit dem Glauben an die richtige Entscheidung konnte der Kaufmann seine Ware losschicken.

Dass eine solch kalkulierende Einstellung gegenüber Unsicherheiten nicht selbstverständlich war, sondern erst zu einer bestimmten Zeit, unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen entstehen konnte, haben in der Soziologie als erste Werner Sombart (vgl. 1987 [zuerst 1916]) und Max Weber (vgl. 2006 [zuerst 1922) aufgezeigt (vgl. Priddat 1993: 15ff). Ihre Untersuchungen zur „okzidentalen Rationalisierung“ (siehe auch Kap. 2.1) machen deutlich, dass riskantes Handeln im heutigen Sinne ein spezifisches Natur- und Selbstverständnis voraussetzt, welches für die Vormoderne untypisch ist. Der italienische Händler der frühen Neuzeit wusste zwar durchaus, dass er nicht die Macht besaß einen Sturm und Überfälle zu verhindern, aber solche Unsicherheiten – und dies ist entscheidend – wurden nicht als schicksalhafte Bedrohungen angesehen, sondern als kalkulierbare Wagnisse. Dies bedeutet, dass Probleme, sich nur dann negativ bemerkbar machten, wenn sie falsch kalkuliert waren, oder keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden. Genau hier schließt der Risikobegriff an die Handlungsmodelle eines entkontextualisierten, zweckrationalen Handelns an. Bonß (1995: 52) bemerkt dazu: „Risiken erscheinen nun als Unsicherheiten, die eingegangen werden, um Nichtkalkulierbares kalkulierbar zu machen, und die eingegangen werden müssen, um sich die Natur untertan zu machen“. Voraussetzung für dieses Denken ist die subjektzentrierte Weltsicht des Handelnden. Nach Beck betritt das Risiko genau dann die Weltbühne, wenn Gott sich verabschiedet hat (vgl. Beck 2007a: 138). Die Zukunft muss als Ergebnis des eigenen Handelns und nicht als blinde Reproduktion einer kosmologischen Ordnung begriffen werden. Exemplarisch sind hierfür die Unsicherheiten, die der risikobereite Kaufmann eingeht. Diese wären gar nicht existent, wenn er nicht Handeln wollen würde und so handelt er im Vertrauen auf die eigenen Möglichkeiten, die unsichere Situation bewältigen zu können.

Aus alledem wird ein Unterschied in der Unsicherheitssituation zwischen Risiko und Gefahr deutlich (vgl. Bonß 1995: 53ff):

- Unsicherheiten als „Gefahr“ existieren unabhängig von den Handelnden
- Unsicherheiten als „Risiko“ hingegen entstehen nur nach Maßgabe von Handlungsabsichten und deren Umsetzung

Gefahren sind also subjekt- und situations un abhängig; Risiken setzten demgegenüber stets die subjektive Entscheidung für eine Unsicherheit voraus. Aus diesem handlungstheoretischen Blickwinkel werden Risiken folgerichtig als „Entscheidungen unter Unsicherheit“ definiert (ebenda: 53). Die handlungsabhängigen Risiken sind, gerade weil sie handlungsabhängig sind, nicht nur zu einer Bedrohung (wie die Gefahren), sondern auch zu einer Chance. Aus soziologischer Perspektive bedeutet dies, dass Risikohandeln traditionelle Handlungsgrenzen durchbrechen und mehr oder neue Handlungsmöglichkeiten schaffen kann. Niklas Luhmann formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: „Risikoentscheidungen setzen auf Kontingenz, wobei die systematische Suche nach Kontingenzen und der Bezug auf ein hochstufiges Kontingenzarragement erst mit den neuzeitlichen Vergesellschaftungsformen beginnt“ (ebenda 2003 [zuerst 1991]: 25).

Neben der beschriebenen Handlungs- und Entscheidungsbezogenheit von Risiken gibt es einen weiteren interessanten Bereich im Risikodiskurs. Die Zurechenbarkeit und die Verantwortbarkeit von Risiken spielen bei der alltäglichen Abgrenzung von Risiko und Gefahr eine erhebliche Rolle (vgl. Bonß 1995: 55). Als unbeherrschbare, subjektunabhängige Unsicherheiten können Gefahren nicht verantwortet werden. Bei Risiken hingegen kann man einen Verantwortlichen finden. Allein der Versuch Kontingenzen zu eröffnen und etwas Neuartiges zu erreichen, kann als bewusstes Wagnis verstanden werden, für dessen Folgen der Handelnde grundsätzlich geradestehen muss. Dies bedeutet, dass Unsicherheiten nur dann als Risiken wahrgenommen werden, wenn sie als soziale Konstruktionen zurechenbar gemacht werden können. Lassen sich Risiken hingegen nicht zuordnen, verwandeln sie sich in Gefahren. Dabei handelt es sich keineswegs um einen selten auftretenden Vorgang, denn was für den einen ein freiwillig eingegangenes Wagnis ist, welches er zu verantworten hat, kann für den anderen eine unfreiwillige Bedrohung sein. Für den italienischen Kaufmann der Neuzeit stellte Seehandel lediglich ein Risiko dar, für die beteiligten Matrosen hingegen war es eine Gefahr, die durchaus tödlich enden konnte. Luhmann spricht in diesem Fall von einem Doppelcharakter des Risikos und der Gefahr, da es oftmals bei einem Sachverhalt Handelnde und von diesen Handlungen Betroffene gibt (vgl. ebenda: 2005 [zuerst 1990]: 152).

So unterschiedlich Gefahren und Risiken auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen die ausgelöste Unsicherheit, die auf gegebene oder produzierte Kontingenzzusammenhänge verweist. Die offenen Möglichkeiten schließen negative Folgen nicht aus, sie bergen stets ein Bedrohungspotential in sich, wobei Risiken auch, Gefahren hingegen nur bedrohlich erscheinen. Diese Bedrohungen in Form von Unsicherheiten führen zu latenten oder manifesten Ängsten, die sich nur begrenzt aushalten lassen. Um die eigene Handlungsfähigkeit nun zu erhalten, müssen die Unsicherheiten längerfristig ausgeschaltet, relationiert, neutralisiert oder die gefährlichen Aspekte in irgendeiner Form in Sicherheit umdefiniert werden. Nach Bonß (vgl. 1995: 85) ist der Zwang zur Umdefinition von Unsicherheit in Sicherheit Bestandteil jeder Gesellschaft, da es sonst zu einer vollständigen Handlungslähmung kommen würde.

Die moderne Gesellschaft kann insofern als eine Risikogesellschaft bezeichnet werden, als sie alle Gefahren als Risiko interpretiert und dadurch einen immensen Bedarf und Zwang zugleich an Entscheidungen produziert. Gefahren werden heute auf Handlungen und Entscheidungen bezogen und dadurch in die Form von Risiken gebracht. Konnte man noch vor einigen Jahrhunderten viel der Natur, ihrem Eigensinn oder auch dem Schicksal zurechnen, so besteht in der Gesellschaft des 21 Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen Konsens, dass Gefahren, die uns bedrohen, im Prinzip auf Entscheidungen oder Fehlentscheidungen beruhen (vgl. Bechmann 1993: 244).

[...]

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Die gesellschaftliche Konstruktion von Unsicherheit
Untertitel
Unsicherheit, Medien und Terrorismus
Hochschule
Universität Trier  (Soziologie)
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
87
Katalognummer
V123767
ISBN (eBook)
9783640285556
ISBN (Buch)
9783640286089
Dateigröße
1401 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktion, Unsicherheit
Arbeit zitieren
Magister Artium Martin Syrek (Autor:in), 2008, Die gesellschaftliche Konstruktion von Unsicherheit , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/123767

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