Kinder depressiver Eltern

Zu den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit


Bachelorarbeit, 2022

55 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Elterliche Erkrankung
1.1 Klassifikation und Symptomatik nach der ICD-10
1.1.1 Affektive Störungen
1.1.2 Unipolar depressive Störungen
1.2 Entstehung und Aufrechterhaltung
1.2.1 Das Vulnerabilitäts-Stress Modell
1.2.2 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit
1.2.3 Das kognitive Modell

2 Kindliche Entwicklung
2.1 Kindheitsbegriff
2.2 Entwicklungsbegriff
2.2.1 Soziale Entwicklung
2.2.2 Emotionale Entwicklung
2.3 Bedeutung und Faktoren der sozial-emotionalen Entwicklung
2.3.1 Risikofaktoren
2.3.2 Schutzfaktoren

3 Einflussfaktoren der elterlichen Erkrankung auf die kindliche Entwicklung
3.1 Lebenssituation der Kinder depressiver Eltern
3.1.1 Belastungen der Kinder depressiver Eltern
3.1.2 Bewältigungsstrategien der Kinder depressiver Eltern
3.2 Erziehungsverhalten depressiver Eltern
3.3 Eltern-Kind-Beziehung
3.4 Ausblick ins Erwachsenenalter der Kinder

4 Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit
4.1 Die Kinder- und Jugendhilfe
4.1.1 Aufgaben und Ziele
4.1.2 Handlungsfelder
4.2 Hilfen zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz
4.2.1 Erziehungsberatung
4.2.2 Soziale Gruppenarbeit
4.2.3 Erziehungsbeistandschaft
4.2.4 Sozialpädagogische Familienhilfe
4.2.5 Erziehung in einer Tagesgruppe
4.3 Herausforderungen sozialarbeiterischer Maßnahmen

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Schätzungen zufolge wachsen etwa drei bis vier Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland bei mindestens einem psychisch erkrankten Elternteil auf (Geiger et al., 2021, S. 624). Unter den Erwachsenen in Deutschland stellt die unipolare Depression dabei die zweithäufigste psychische Erkrankung dar (Jacobi et al., 2014, S. 80f). Die depressive Erkrankung wirkt sich jedoch nicht nur auf das Erleben und Verhalten der Eltern aus, sondern konfrontiert ihre Kinder mit einer Reihe besonderer Belastungen (Lenz, 2014a, S. 40). Je nach Schwere und Verlauf der elterlichen Erkrankung sowie in Abhängigkeit von dem subjektiven Belastungserleben wie auch den verschiedenen Bewältigungsstrategien der Kinder, wirken sich diese Belastungen in unterschiedlich starker Weise auf ihre Entwicklung aus (Plass & Wiegand-Grefe, 2012, S. 23; Lenz & Wiegand-Grefe, 2017, S. 43). So sind Kinder depressiver Eltern nach Beardslee et al. (1998) einem erhöhten Risiko für die Entwicklung sozial-emotionaler Störungen wie auch einer depressiven oder anderen psychischen Erkrankung ausgesetzt. Außerdem stellen sie eine Risikogruppe für Kindeswohlgefährdung dar (Lenz & Wiegand-Grefe, 2017, S. 19).

Die Soziale Arbeit macht es sich zum Auftrag, soziale Probleme zu bearbeiten, indem sie Menschen in schwierigen Lebenslagen mittels bedarfsgerechter Hilfen unterstützt bzw. dazu befähigt, ihre Belastungen zu bewältigen (Mennemann & Dummann, 2020 S. 49f). Auch gegenüber Kindern depressiver Eltern hat die Kinder- und Jugendhilfe einen Schutzauftrag zu erfüllen, der sie zu AdressatInnen der Sozialen Arbeit werden lässt (Mennemann & Dummann, 2020, S. 202). Letztlich setzt sich die Soziale Arbeit als praxisorientierte Profession stets mit der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten auseinander (Mennemann & Dummann, 2020, S. 14).

Während Kinder psychisch kranker Eltern eine bereits vielfach erforschte Zielgruppe darstellen, bleibt die Frage nach den konkreten Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe und ihrer Wirksamkeit für die gesunde sozial-emotionale Entwicklung der Kinder jedoch weitestgehend unbeantwortet. Ziel der vorliegenden Bachelorarbeit ist es, die Auswirkungen einer unipolaren Depression der Eltern auf die sozial-emotionale Entwicklung ihrer Kinder herauszuarbeiten und aufzuzeigen, inwieweit die Hilfen zur Erziehung der Kinder- und Jugendhilfe für die Arbeit mit Kindern depressiver Eltern und insbesondere die Förderung ihrer sozial-emotionalen Entwicklung geeignet und wirksam sind.

Aus den vorangegangenen Überlegungen lässt sich die folgende zentrale Fragestellung dieser Arbeit ableiten:

Wie wirken sich elterliche Depressionen auf die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder aus und was sind Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit?

Bei der vorliegenden Bachelorarbeit handelt es sich um eine theoretische Arbeit bzw. Literaturarbeit. Für die Beantwortung der zentralen Fragestellung der Arbeit wird auf bereits vorhandene empirische Erkenntnisse zurückgegriffen. Die Arbeit gliedert sich in ihrem Hauptteil in vier Kapitel, durch welche die zentrale Fragestellung der Arbeit heruntergebrochen und schrittweise beantwortet werden soll. In einem ersten Kapitel wird sich der elterlichen Erkrankung gewidmet. Im Rahmen dessen wird das Wissen über die Symptomatik, Entstehung und Aufrechterhaltung der unipolaren Depression gesichert. Das zweite Kapitel dieser Arbeit widmet sich grundlegenden Aspekten der (sozial-emotionalen) Entwicklung des Kindes, darunter insbesondere den Risiko- und Schutzfaktoren dieser. Vor dem Hintergrund des zuvor erarbeiteten Wissens über die elterliche Erkrankung und kindliche Entwicklung, wird in einem dritten Kapitel dieser Arbeit darauf eingegangen, welche krankheitsbedingten Aspekte des Erziehungs- und Bindungsverhaltens der Eltern sich inwiefern auf die sozial-emotionale Entwicklung ihrer Kinder auswirken. Im Sinne dessen werden die Belastungen und Bewältigungs-strategien der Kinder depressiver Eltern erläutert. Das vierte und letzte Kapitel dieser Arbeit stellt dar, wie sich einzelne Hilfen zur Erziehung der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf die Zielgruppe der Kinder depressiver Eltern realisieren lassen und wie wirksam diese sind. Dabei werden außerdem die Herausforderungen, die sich für die Soziale Arbeit mit Kindern depressiver Eltern ergeben, beleuchtet. Abschließend wird ein Fazit gezogen, das die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit zusammenfasst und auf Basis dessen die zentrale Fragestellung beantwortet.

1 Elterliche Erkrankung

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der psychischen Erkrankung der Eltern, der unipolaren Depression. Diese wird in Abgrenzung zu anderen psychischen Störungen klassifiziert und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen betrachtet. Im Rahmen dessen werden die jeweiligen Symptome und diagnostischen Kriterien erläutert. Zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung depressiver Erkrankungen, werden verschiedene Störungsmodelle herangezogen.

1.1 Klassifikation und Symptomatik nach der ICD-10

Bei der ICD-10, der zehnten Auflage der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems” handelt es sich um ein Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (2019), kurz WHO, das es ermöglicht, medizinische Diagnosen zu verschlüsseln und weltweit einheitlich zu benennen bzw. einzuordnen. Das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (2019), kurz DIMDI, ist Herausgeber der deutschen Übersetzung als „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme”. Die Kapitel der ICD-10 sind nummeriert und stellen Arten von Krankheiten dar (DIMDI, 2019). So finden sich „Psychische und Verhaltensstörungen” (DIMDI, 2019) in Kapitel fünf der Klassifikation. Die einzelnen Kapitel der ICD-10 (DIMDI, 2019) gliedern sich in Gruppen, die durch Buchstaben und Ziffern gekennzeichnet sind und denen einzelne Krankheitsbilder nach diagnostischen Kriterien zugeordnet sind (DIMDI, 2019). Das fünfte Kapitel umfasst die Gruppen F00 bis F99 (DIMDI, 2019). Die Gruppe F30 bis F39 beinhaltet dabei die Affektiven Störungen, denen u. a. die unipolare Depression angehört (DIMDI, 2019).

1.1.1 Affektive Störungen

Affektive Störungen zeichnen sich nach Dilling und Freyberger (2019, S. 119) durch eine abnorme Veränderung der Affektivität bzw. Stimmung aus. Diese verändert sich entweder in Richtung der Depression, der gedrückten Stimmung oder der Manie, der gehobenen Stimmung (Dilling & Freyberger, 2019, S. 119). Ein solcher Wechsel der Stimmung ist meistens mit einem entsprechend gesenkten oder gesteigerten Niveau der Aktivität verbunden (Dilling & Freyberger, 2019, S. 119). Depression und Manie stellen somit laut Nitkowski und Petermann (2021) die beiden Extrempole Affektiver Störungen dar. Eine Affektive Störung ist als unipolar zu bezeichnen, wenn lediglich ein Extrem, d. h. entweder die Depression oder die Manie ausgeprägt ist (Nitkowski & Petermann, 2021). Liegen beide Extreme, etwa in Abwechslung voneinander oder in Form einer Mischung der Symptome vor, handelt es sich um eine bipolare Störung (Nitkowski & Petermann, 2021).

Diese Arbeit bezieht sich ausschließlich auf die unipolar depressiven Störungen. Der Begriff der Depression bzw. depressiven Erkrankung wird im Rahmen dieser Arbeit als Sammelbegriff für die verschiedenen unipolar depressiven Störungen verwendet.

1.1.2 Unipolar depressive Störungen

Zu den unipolar depressiven Störungen gehören laut ICD-10 Klassifikation (DIMDI, 2019) die depressive Episode (F32), die rezidivierende depressive Störung (F33) und die Dysthymia (F34.1). Obgleich die unipolar depressiven Störungen zu der Gruppe der Affektiven Störungen zählen und alle drei Formen sich grundsätzlich durch eine gesenkte Stimmung, eine Verminderung des Antriebs bzw. der Aktivität sowie einen Verlust an Interesse und Freude auszeichnen, beschränkt sich ihre Symptomatik nicht auf den affektiven Bereich (Mohr et al., 2017, S. 26). Stattdessen sind die Symptome unipolar depressiver Störungen nach Mohr et al. (2017, S. 26) vielfältig und ebenfalls als behavioral, kognitiv, motivational, emotional und sozial-interaktiv zu bezeichnen. Menschen mit einer unipolar depressiven Störung sind in ihrem Wohlbefinden, ihrer Lebensführung sowie bei der Bewältigung ihres Alltages beeinträchtigt (Mohr et al., 2017, S. 26). Sie empfinden laut Mohr et al. (2017, S. 26) ein Leid, das sich negativ auf ihre Lebensqualität auswirkt. Für die Klassifikation bzw. Diagnose einer unipolar depressiven Störung bedarf es somit neben einer gesenkten Stimmung weitere, nicht- affektive Symptome (Benecke, 2014, S. 266). Diese sind insbesondere aufgrund ihrer langen Dauer und starken Intensität als abnormal bzw. krankhaft anzusehen (Mohr et al., 2017, S. 26). Von Trauer bzw. Traurigkeit unterscheiden sich Depressionen u. a. in genau diesen Aspekten, welches aus den Symptomen und diagnostischen Kriterien der verschiedenen unipolar depressiven Störungen hervorgeht (Mohr et al., 2017, S. 26).

Bei der depressiven Episode, in der ICD-10 (DIMDI, 2019) als F32 gekennzeichnet, sinkt die Stimmung für einen bestimmten Zeitraum in ein Tief ab, erholt sich jedoch anschließend wieder. Zu den Symptomen einer depressiven Episode zählen laut ICD-10 (DIMDI, 2019) eine eingeschränkte Konzentration und erhöhte Müdigkeit sowie ein gestörter Schlaf und verminderter Appetit. Eine depressive Episode geht darüber hinaus meistens mit einem verringerten Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen einher (DIMDI, 2019). In einer depressiven Episode fühlt sich die betroffene Person oftmals schuldig und wertlos (DIMDI, 2019). Je nach Anzahl und Schwere der vorliegenden Symptome wird zwischen einer leichten, mittelgradigen sowie schweren depressiven Episode unterschieden (DIMDI, 2019). Um eine depressive Episode diagnostizieren zu können, sollte diese laut Dilling und Freyberger (2019, S. 133) für einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen bestehen.

Die sogenannte rezidivierende depressive Störung findet sich in der ICD-10 (DIMDI, 2019) als F33 und zeichnet sich durch wiederkehrende depressive Episoden aus. Eine leichte, mittelgradige oder schwere depressive Episode, die mindestens zwei Wochen dauert, wird nach Dilling und Freyberger (2019, S. 141) von einem mindestens zwei Monate langem Zeitfenster ohne entsprechende Symptome gefolgt, bevor schließlich eine nächste depressive Episode auftritt.

Bei der Dysthymia handelt es sich um eine anhaltende affektive Störung (F34), die in der ICD-10 (DIMDI, 2019) entsprechend als F34.1 gekennzeichnet ist und sich durch eine dauerhafte bzw. dauerhaft wieder auftretende depressive Stimmung auszeichnet. Diese umfasst u. a. eine verringerte Motivation und Aktivität, einen gestörten Schlaf wie auch den Verlust von Interesse und Freude (Dilling & Freyberger, 2019, S. 148). Betroffene sind außerdem oft weniger gesprächig und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück (Dilling & Freyberger, 2019, S. 148). Sie fühlen sich laut Dilling und Freyberger (2019, S. 148) meist hilflos und verzweifelt, blicken pessimistisch in ihre Zukunft, denken vermehrt über ihre Vergangenheit nach und sind mit den Aufgaben ihres Alltags überfordert. Während diese Symptome denen einer depressiven Episode bzw. einer rezidivierenden depressiven Störung ähneln, ist die depressive Stimmung im Falle der Dysthymia weniger stark ausgeprägt, dafür insgesamt länger andauernd (DIMDI, 2019). Sie besteht oftmals über viele, mindestens jedoch zwei Jahre und ist als chronisch zu bezeichnen (Dilling & Freyberger, 2019, S. 147). Gleichzeitig ist sie weder schwer genug ausgeprägt noch sind ihre einzelnen Episoden ausreichend lang, um die diagnostischen Kriterien der rezidivierenden depressiven Störung abzudecken (DIMDI, 2019).

1.2 Entstehung und Aufrechterhaltung

Eine genaue und einheitliche Erklärung dafür, wie eine unipolare depressive Störung entsteht und aufrechterhalten wird, existiert nach dem aktuellen Stand der Forschung nicht (Haag, 2020, S. 72). Stattdessen existieren viele verschiedene Störungsmodelle, die psychische bzw. depressive Erkrankungen auf unterschiedliche Art und Weise zu erklären versuchen (Mohr et al., 2017, S. 30ff). Dies kann vor allem damit begründet werden, dass sich eine psychische Erkrankung, wie etwa eine unipolare Depression, durch eine hohe Komplexität wie auch Heterogenität auszeichnet (Mohr et al., 2017, S. 29f). Ihre Entstehung und Aufrechterhaltung eindeutig zu erklären, gestaltet sich daher als schwierig oder gar unmöglich (Mohr et al., 2017, S. 29ff). Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass sich eine depressive Störung durch das Zusammenspiel verschiedener biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren entwickelt (Mohr et al., 2017, S. 29). Ob es sich bei den einzelnen Faktoren um Ursachen, Symptome oder Folgen einer Depression handelt, ist ebenfalls nicht völlig eindeutig (Ihle et al., 2012, S. 15).

Zu den biologischen Faktoren gehören laut Mohr et al. (2017, S. 29) u. a. die erhöhte Freisetzung von Stresshormonen, Müdigkeit und Schlafstörungen sowie körperliche Schmerzen und Appetit-, Gewichts- und Libidoverlust. Als psychologische Faktoren werden u. a. negative Kognitionen über die Gegenwart, die Zukunft sowie die eigene Person und der Verlust von Freude und Antrieb bezeichnet (Mohr et al., 2017, S. 29). Soziale Faktoren sind z. B. ein erhöhtes Erleben von Stress in Beziehungen oder am Arbeitsplatz, ein sozialer Rückzug sowie eine verringerte Sozialkompetenz (Mohr et al., 2017, S. 29). Die spezifischen Wechselwirkungen der einzelnen Faktoren werden im Rahmen verschiedener Modelle erklärt (Mohr et al., 2017, S. 30).

1.2.1 Das Vulnerabilitäts-Stress Modell

Die zentrale Annahme des sogenannten Vulnerabilitäts-Stress Modells besteht darin, dass eine psychische Erkrankung bzw. Depression durch die interaktive Wirkung von Vulnerabilität und Stress entsteht (Mohr et al., 2017, S. 30f). Vulnerabilität ist dabei laut Haag (2020, S. 73f) als Verletzbarkeit oder Anfälligkeit zu verstehen, die sowohl durch genetische Vererbung als auch infolge von Belastungen in der frühen Kindheit entsteht. Haag (2020, S. 72f) nimmt an, dass im Falle einer Depression eine Störung des Stoffwechsels des Gehirns und insbesondere der Botenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin vorliegt, die vererbbar ist. Darüber hinaus werden laut Haag (2020, S. 73) das Nervensystem und die psychosoziale Entwicklung eines Menschen durch seine sozialen Erfahrungen in der frühen Kindheit beeinflusst. Besonders bedeutsam sind darunter die Verhaltensweisen seiner Bezugspersonen (Haag, 2020, S. 73). Liegt eine erhöhte Vulnerabilität vor, so ist der Mensch grundsätzlich als anfälliger für die Entwicklung einer psychischen Erkrankung bzw. Depression anzusehen (Haag, 2020, S. 73). Diese entsteht gemäß der Idee des Vulnerabilitäts-Stress Modells dann, wenn nun schwere und andauernde Stressoren, wie etwa chronischer Stress im Alltag oder am Arbeitsplatz, Veränderungen in der Familie oder der Verlust einer nahestehenden Person sowie beliebige andere Schicksalsschläge einsetzen (Haag, 2020, S. 73). Laut Haag (2020, S. 73) reicht, im Fall einer erhöhten Vulnerabilität, ein einziger Stressor dieser Art aus, um eine Depression auszulösen.

Die erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer Depression, durch genetisch bedingte Vulnerabilität und ihr Zusammenspiel mit verschiedenen Stressoren, konnte u. a. von Colodro-Conde et al. (2018) in einer Beobachtungsstudie belegt werden. Im Rahmen der Studie wurden polygene Risikoscores zur genetischen Vulnerabilität und Daten zu belastenden Lebensereignissen sowie depressiven Symptomen erhoben. Es zeigt sich im Rahmen statistischer Analysen, dass eine signifikante Wechselwirkung genetischer Vulnerabilität mit belastenden Lebensereignissen besteht, die das Risiko für die Entstehung einer depressiven Erkrankung erhöht.

1.2.2 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit

Das Modell der erlernten Hilflosigkeit stammt aus den 1970er Jahren und wurde von dem US-amerikanischen Psychologen Seligman entwickelt (Essau, 2007, S. 106f). Er nimmt an, dass Menschen, die wiederholt die Erfahrung machen, dass sie Situationen aus ihrer Umwelt nicht kontrollieren können, eine Selbstunwirksamkeitserwartung an zukünftige Situationen entwickeln (Essau, 2007, S. 107). Sie erlernen laut Seligman, hilflos und handlungsunfähig zu sein, selbst wenn Handlungsmöglichkeiten bestehen (Essau, 2007, S. 107). Eine Depression entsteht somit nach dem Modell der erlernten Hilflosigkeit nicht etwa durch eine Situation selbst, sondern als Folge der wiederholt erfahrenen, erlernten und erwarteten Unkontrollierbarkeit bzw. Selbstunwirksamkeit (Essau, 2007, S. 107). Auf diese Weise lassen sich einige depressive Symptome, wie z. B. die fehlende Motivation zu handeln und das verringerte Selbstbewusstsein bzw. Selbstvertrauen erklären (Essau, 2007, S. 107; Mohr et al., 2017, S. 32).

Nicht mit diesem Modell der erlernten Hilflosigkeit zu erklären ist allerdings, dass es Menschen gibt, die trotz wiederholter Erfahrung von Unkontrollierbarkeit langfristig handlungsfähig bleiben, d. h. keine Erwartung ihrer Selbstunwirksamkeit entwickeln und nicht an einer Depression erkranken. In Anbetracht dessen wurde das Modell der erlernten Hilflosigkeit um die Attributionstheorie erweitert (Essau, 2007, S. 107). Als Attribution wird die Ursachenzuschreibung eines Menschen für ein Ereignis bezeichnet (Essau, 2007, S. 107). Je nach Attributionsstil des Menschen kann diese unterschiedlich ausfallen (Essau, 2007, S. 107). So werden grundsätzlich drei Dimensionen der Ursachenzuschreibung unterschieden (Essau, 2007, S. 107). Auf der Ebene der Internalität bzw. Externalität sieht das Individuum entweder sich selbst (internal) oder eine andere Person bzw. einen äußeren Umstand (external) als ursächlich für ein Ereignis an (Essau, 2007, S. 107). Die Stabilität bzw. Variabilität bezeichnet, ob das Individuum die Ursache für ein Ereignis als beständig (stabil) oder veränderbar (variabel) ansieht (Essau, 2007, S. 107). Weiterhin kann das Individuum auf der Ebene der Globalität bzw. Spezifität annehmen, dass die Ursache für ein Ereignis entweder generell bzw. weitreichend (global) oder eingegrenzt bzw. weniger umfassend (spezifisch) ist (Essau, 2007, S. 107).

Menschen mit einer depressiven Erkrankung attribuieren negative Erfahrungen bzw. solche, die sie als unkontrollierbar erleben, internal, stabil und global (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011, S. 879). Sie suchen die Ursache für das Ereignis in sich selbst und sehen sie als unveränderlich und allgemeingültig an (Ihle et al., 2012, S. 29). Für das Erlernen von Hilflosigkeit und letztendlich die Entstehung einer Depression ist somit zum einen das Erleben von Unkontrollierbarkeit und zum anderen der pessimistische Attributionsstil von Bedeutung (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011, S. 879).

Dass ein solcher pessimistischer Attributionsstil in einem engen Zusammenhang mit einer depressiven Erkrankung steht, wird durch eine Vielzahl verschiedener Studien, die von Gladstone et al. (1995) und Sweeney et al. (1986) in Form von Metaanalysen zusammengefasst werden, belegt. So stellen Gladstone et al. (1995) im Rahmen ihrer Betrachtung von 28 Studien mit insgesamt 7500 Kindern und Erwachsenen fest, dass internale, stabile und globale Attributionen bei negativen Ereignissen mit depressiven Symptomen korrelieren. Umgekehrt zeigt sich außerdem, dass externale, variable und spezifische Attributionen bei positiven Ereignissen in einem, wenn auch geringerem, Zusammenhang mit depressiven Symptomen stehen. Sweeney et al. (1986) berichten diese Korrelationen in ihrer Metaanalyse von 104 Studien mit fast 15.000 Menschen.

1.2.3 Das kognitive Modell

Die Grundannahme des kognitiven Modells der Depression nach Beck besteht darin, dass eine depressive Erkrankung durch dysfunktionale, d. h. negative und irrationale Kognitionen bzw. Denkmuster entsteht (Benecke, 2014, S. 282f). Diese entstammen negativen Erfahrungen der frühen Kindheit und werden durch belastende Situationen in der Gegenwart wieder hervorgerufen (Ihle et al., 2012, S. 19). Das Modell besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten; der kognitiven Triade, den Schemata sowie den kognitiven Verzerrungen bzw. Fehlern (Benecke, 2014, S. 281).

Die kognitive Triade beinhaltet sowohl negative Wahrnehmungen und Bewertungen des Selbst als auch der Umwelterfahrungen und der Zukunft (Ihle et al., 2012, S. 19). So weisen depressive Menschen ein negatives Selbstbild auf, dass sich u. a. durch ihr Urteil der eigenen Fehlerhaftigkeit, Unzulänglichkeit und Wertlosigkeit sowie durch ihre Selbstkritik und Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten auszeichnet (Benecke, 2014, S. 282). Erfahrungen ihrer Umwelt interpretieren sie ebenfalls negativ bzw. als Misserfolge oder nicht zu bewältigende Herausforderungen (Benecke, 2014, S. 282). Darüber hinaus erwarten sie, dass auch ihre Zukunft von Problemen und Niederlagen geprägt sein wird (Benecke, 2014, S. 282). Ausgelöst wird eine kognitive Triade von sogenannten kognitiven Schemata (Ihle et al., 2012, S. 20).

Als kognitives Schema wird ein beständiges Muster bezeichnet, dem der Mensch bei der kognitiven Verarbeitung von Informationen folgt (Benecke, 2014, S. 282). Dabei wird angenommen, dass der Mensch gewisse äußere Reize wahrnimmt, sie zu einem Muster zusammenfügt und ein Konzept entwickelt (Benecke, 2014, S. 282). Im Falle einer Depression liegen negative bzw. dysfunktionale Schemata vor, die sowohl eine kognitive Triade als auch kognitive Fehler verursachen (Benecke, 2014, S. 282).

Kognitive Fehler entstehen bei der verzerrten Wahrnehmung von äußeren Reizen, die die vorliegenden dysfunktionalen Schemata aufrechterhält (Benecke, 2014, S. 282f). Zu den bedeutsamsten kognitiven Fehlern gehören z. B. das willkürliche Ziehen von Schlüssen, die unter- oder übertriebene Einschätzung der Bedeutung einer Situation oder das Denken in zwei gegensätzlichen Kategorien (Benecke, 2014, S. 282)

2 Kindliche Entwicklung

In diesem Kapitel werden grundlegende Aspekte der sozial-emotionalen Entwicklung von Kindern dargestellt. Im Rahmen dessen werden zunächst die beiden Begriffe der Kindheit und der (sozial-emotionalen) Entwicklung bestimmt. Anschließend wird die Bedeutung der sozial-emotionalen Entwicklung für verschiedene Lebensbereiche des Menschen erläutert. Letztlich werden Risiko- und Schutzfaktoren, die einen Einfluss auf die sozial-emotionale Entwicklung des Kindes nehmen, dargelegt. Da die Familie des Kindes als frühster Raum für emotionales Lernen und soziale Erfahrungen sowie die Entwicklung von Bindungen angesehen werden kann, wird besonderer Bezug zu familiären Faktoren, die die Entwicklung des Kindes beeinflussen, genommen.

2.1 Kindheitsbegriff

Während es nicht möglich ist, konkrete und allgemeingültige Zeitpunkte und Muster der menschlichen Entwicklung festzulegen, werden in der Entwicklungspsychologie verschiedene altersbezogene Phasen, die der Mensch typischerweise in seinem Leben durchläuft unterschieden (Berk, 2020, S. 9). Zu diesen typischen Lebensabschnitten, für die sich teilweise unterschiedliche Bezeichnung finden, gehört auch die Kindheit (Berk, 2020, S. 9).

Die Kindheit folgt laut Berk (2020, S. 9) auf das Säuglingsalter, das die ersten beiden Lebensjahre umfasst und geht der sogenannten Adoleszenz, die sich vom 14. bis zum 18. Lebensjahr erstreckt voraus. Sie wird oft in die frühe, mittlere und späte Kindheit unterteilt (Berk, 2020, S. 9). Jeder Altersstufe bzw. Entwicklungsphase werden dabei typische Ereignisse, sogenannte Meilensteine zugeordnet (Berk, 2020, S. 9).

Als frühe Kindheit wird laut Berk (2020, S. 9) die Zeit vom zweiten bis zum sechsten Lebensjahr bezeichnet. In diesem Zeitraum steht typischerweise die Entwicklung der Sprache und Motorik, die Ausbildung einer Moral sowie der Aufbau von Bindungen im Vordergrund (Berk, 2020, S. 9). Die mittlere Kindheit bezieht sich auf das sechste bis elfte Lebensjahr (Berk, 2020, S. 9). In diesem Alter spielen Lesen, Schreiben und Rechnen, Logik und Ethik sowie Freundschaften und Zugehörigkeit eine große Rolle (Berk, 2020, S. 9). Die späte Kindheit, die vom elften bis zum 14. Lebensjahr dauert, ist geprägt von dem Erreichen einer Unabhängigkeit, der Entwicklung eigener Werte und Ziele sowie dem Beginn der Pubertät (Berk, 2020, S. 9).

Obgleich sich im Rahmen dieser Arbeit auf die Kindheit bzw. die Auswirkungen der elterlichen Erkrankung auf die kindliche Entwicklung fokussiert wird, soll angesichts der heutigen Erkenntnisse über Entwicklung auch ein Ausblick ins Erwachsenenalter der Kinder depressiver Eltern geworfen werden.

2.2 Entwicklungsbegriff

Während im frühen 20. Jahrhundert noch davon ausgegangen wurde, dass es sich bei der Entwicklung um einen Prozess handelt, der sich auf das Säuglingsalter sowie die Kindheit beschränkt, geht man heute davon aus, dass Entwicklung über das gesamte Leben hinweg stattfindet (Berk, 2020, S. 8).

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Details

Titel
Kinder depressiver Eltern
Untertitel
Zu den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Bildungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
55
Katalognummer
V1238311
ISBN (eBook)
9783346657046
ISBN (Buch)
9783346657053
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale Arbeit, Depressionen, Kinder- und Jugendhilfe, Kindliche Entwicklung
Arbeit zitieren
Louisa Pause (Autor:in), 2022, Kinder depressiver Eltern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1238311

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