Das Kino in Krisenzeiten. Ein Zuschauer- und Wirtschaftsmagnet?


Bachelorarbeit, 2012

66 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gesellschaftliche Krisenzeiten in Deutschland
2.1 Wirtschaftliche Krisen
2.2 Subjektive, individuelle Krisen

3. Ausgewählte theoretische Ansätze zur individuellen Mediennutzung
3.1 Bedürfnisse nach Abraham H. Maslow und Denis McQuail
3.2 Nutzen- und Belohnungsansatz
3.3 Eskapismusthese

4. Kinosituation in Deutschland 21
4.1 Überblick zur aktuellen Situation des Kinos in Deutschland
4.2 Einheimische Filmproduktionen im Fokus
4.3 Forschungsstand zu Kinopräferenzen

5. Ergebnisse einer quantitativen Online-Befragung zum Kinobesuch
5.1 Untersuchungsmethode
5.2 Vorüberlegungen zum Fragebogen
5.3 Aufbau des Fragebogens
5.4 Auswertungsergebnisse der erhobenen Daten
5.5 Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
5.6 Hypothesengenerierung

6. Zusammenfassung und Fazit

7. Literatur- und Internetquellenverzeichnis
7.1 Verwendete Literatur
7.2 Verwendete Internetquellen
7.3 Sonstige verwendete Quellen

8. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
8.1 Abbildungsverzeichnis
8.2 Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Bachelorarbeit „Das Kino in Krisenzeiten – Ein Zuschauer- und Wirtschaftsmagnet?“ versucht aufzuzeigen, weshalb in Krisenzeiten Lichtspielhäuser Umsatz- und Besucherrekorde verzeichnen. Die Medien haben diesen Trend bereits erkannt. So titelte beispielsweise die Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung: „Kino-Boom in der Krise“ (Häntzschel 2009). In diesem Beitrag thematisiert der Autor das Phänomen, dass „die Amerikaner so viele Kinokarten wie seit zwanzig Jahren nicht mehr [kaufen]“ (ebd.). „Nie sind die Leute gieriger auf Filme als in schlechten Zeiten.“ (ebd.) Dies verdeutlicht bereits, dass der Kinoaufschwung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit zu beobachten ist und sich nicht auf ein einziges Land beschränkt.

Die Ausarbeitung legt dabei das Hauptaugenmerk auf das Lichtspielhaus und seine
Filme, die seit der 2007 einsetzenden Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich seit 2008 auf globaler Ebene auswirkt(e), starteten. Dadurch wird ein aktueller Bezug zum Thema hergestellt. Aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit beschränken sich die Betrachtungen in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland. Die zu untersuchende Forschungs­frage lautet: „Inwieweit ermöglicht der Kinobesuch, vor allem in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenzeiten, die individuelle Bedürfnisbefriedigung?“

Kapitel 2 skizziert zunächst verschiedene Begriffsbestimmungen für „Krise“. Darauf aufbauend erfolgt ein kurzer Überblick der aktuellen Krisensituation anhand von drei Indikatoren. Dadurch soll die Finanz- und Wirtschaftskrise konkretisiert werden. Aber auch subjektive, individuelle Krisen finden in diesem Abschnitt ihre Berücksichtigung.

In Kapitel 3 erfolgt eine Darstellung von theoretischen Ansätzen, die es ermöglichen individuelle Präferenzen für die Auswahl von Medien zu erklären. Lösungsansätze sind die Bedürfnisse erstens nach Maslow und zweitens nach McQuail, der Nutzen- und Belohnungsansatz von Katz, Blumler und Gurevitch sowie die Eskapismusthese.

Die Kinosituation in Deutschland, v. a. in den letzten drei Jahren, wird in Kapitel 4 ausführlicher dargestellt. Hierbei erfolgt anfangs eine Definition des Begriffs „Kino“ sowie ein komprimierter Überblick über die Entstehungsgeschichte des Lichtspielhauses. Anschließend veranschaulichen aktuelle Daten die derzeitige Gegebenheit des Filmpalasts.

Durch Zahlen der FFA Filmförderungsanstalt (kurz: FFA) wird erkennbar, dass
(bestimmte) Kinofilme in dieser krisengeschüttelten Zeit Umsatz- und Zuschauer­rekorde erzielten. Ein weiteres Resultat ist zudem die Tatsache, dass das Kino in Deutschland im Jahr 2011 129,6 Mio. Besucher1 verzeichnen konnte (vgl. FFA Filmförderungsanstalt 2012:4). 2009 – im stärksten Krisenjahr der Nachkriegsgeschichte (vgl. Schulze-Steikow 2011:88; Mucha 2011:72) – waren es hingegen 146,3 Mio. Zuschauer. Damit erzielte das Filmtheater 2009 das höchste Besucherergebnis seit 2004 und den höchsten Umsatzwert seit 2001 (vgl. Berauer 2011:32). Die seit 2010 wieder abfallenden Zuschauerzahlen konnten hierbei mithilfe des Durchbruchs der digitalen Stereoskopie aufgefangen werden, da der Umsatz nur marginal sank und sich weiterhin auf einem hohen Niveau befindet (vgl. FFA Filmförderungsanstalt 2012:4). Die Ergebnisse der FFA belegen außerdem, dass spezielle Genres stets besonders dominant sind.

Diese Fakten zeigen bereits die nach wie vor starke wirtschaftliche, aber auch gesamtgesellschaftliche Relevanz der Lichtspielhäuser. Ein zusätzlicher Blick auf die „All-Time Worldwide Box Office“-Charts offenbart, dass sich unter den aktuell 50 weltweit erfolgreichsten Kinofilmen (nach Einspielergebnis) auch heute noch sieben Filme befinden­ – u. a. der erste Platz – die aus dem Krisenjahr 2009 stammen (vgl. IMDb 2012). In einer Zeit weltweiter Rezessionen erreichten diese Filme Rekordergebnisse.

Einen Grund für den stärkeren Konsum in Krisenzeiten könnte der Anstieg der einheimischen Produktionen darstellen (vgl. FFA Filmförderungsanstalt 2010:10). Insbesondere 2009 stieg der Anteil deutscher Spielfilme sowie gleichzeitig die Anzahl der Besucher des deutschen Films deutlich an (vgl. ebd.:11). Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass Individuen in Krisenzeiten Filme präferieren, die aus der eigenen Umgebung stammen. Darum steht das inländische Filmgewerbe in Kapitel 4.2 in einem stärkeren Fokus.

Der bisherige Forschungsstand zu Kinopräferenzen wird im Unterkapitel 4.3 dargestellt. Zu Beginn erfolgen die frühen Anfänge der Forschung (u. a. Altenloh und DeMaday), bevor die drei vorherrschenden Nutzungsmotive des Kinobesuchs „Self-Escape“, „Self-Development“ und „Entertainment“ nach Tesser, Millar und Wu vorgestellt werden. Im Anschluss daran folgen die Motivdimensionen gemäß Palmgreen u. a., die beim Besuch des Kinos und den gesuchten Gratifikationen eine zentrale Rolle spielen. Neuere Ergebnisse (seit den 1990er Jahren) stammen abschließend u. a. von Prommer und der FFA.

Diese Resultate dienen als Grundlage für die Vorstellung und Auswertung eines eigenen quantitativen Online-Fragebogens. In Kapitel 5 wird dieser zunächst methodisch vorgestellt (inklusive Aufbau der einzelnen Fragen und Zielgruppenausrichtung), und die gewonnenen Daten werden zu anwendbaren Ergebnissen akkumuliert. Die Umfrage als Methode wird eingesetzt, um subjektive Beurteilungen über Bedürfnisse und Verhaltensweisen zu erlangen. Die empirische Exploration dient als Ausgangspunkt, um Hypothesen bzw. Leitannahmen (Kapitel 5.6) zu generieren und ermöglicht die Beantwortung der eingangs formulierten Forschungsfrage.

Kapitel 6 fasst die zentralen Ergebnisse dieser Ausarbeitung zusammen, und es wird ein Fazit (inklusive Ausblick) herausgearbeitet.

An dieser Stelle möchte ich als Verfasser kurz meine Motivation zu dieser Arbeit schildern. Bereits in meiner Kindheit faszinierte mich das Filmtheater mit seinen audiovisuellen Möglichkeiten und Techniken. Seitdem beobachte ich die unterschiedlichen Entwicklungen der Kinospielstätten intensiver. Der explizite Anstieg der Besucherzahlen 2009, in einer weltweiten Krisenzeit, beeindruckte mich besonders. Gerade weil das Lichtspielhaus mit einer Vielzahl anderer Medien und Freizeitaktivitäten konkurriert und stetig um sein Überleben kämpfen muss. Darum versuche ich, das beobachtbare Phänomen eingehender zu beschreiben und zu untersuchen.

2. Gesellschaftliche Krisenzeiten in Deutschland

Die 2007 in den USA einsetzende Immobilienkrise führte zu einer globalen Finanz(markt)- und Wirtschaftskrise und damit zu einem Zusammenbruch der Ökonomie.

Finanz-, Wirtschafts-, Banken-, Euro-, Schulden-, Griechenland- oder Vertrauenskrise – kaum jemand konnte sich diesen Schlagwörtern in den letzten Jahren, vor allem in der medialen Berichterstattung, entziehen. Doch was ist eine Krise? Befinden wir uns aktuell in einer, wenn trotz dieser stetigen Krisendarlegungen Deutschland 2011 das höchste Exportergebnis in seiner Geschichte erzielen konnte (vgl. Zeit Online 2012)?

„Alltagssprachlich ist mit dem Wort Krise eine schwierige, gefährliche Entwicklung, Zuspitzung oder Verschärfung, eine Entscheidungs- oder Ausnahmesituation gemeint. Dies kann sich auf gesellschaftliche oder individuelle Prozesse bzw. Zustände beziehen: […] Wirtschaftskrise, ökologische Krise, Midlife-crisis, Sinnkrise“ (Schnell/Wetzel 1999:371).

Crisis – ein altgriechischer Begriff – bezeichnete vor vielen Jahrhunderten in der Medizin den Punkt, „an dem sich entscheidet, ob eine Krankheit zum Tode führt – oder zur Gesundung.“ (Etzersdorfer 2000:388)

Das „Große Knaur-Lexikon“ definiert den Begriff der Krise folgendermaßen:

„1) allg.: Wende­punkt, Höhepunkt; entscheiden­de, bedrohl. Situation. 2) Wirtschaft: langanhaltende Ab­schwächung der àKonjunktur (z. B. Weltwirtschaftskrise). […] 3) Med.: (Krisis), Bez. für plötzl. Temperaturabfall bei einer nicht chemotherapeutisch behandelten, hochfieberhaften Erkrankung" (Lexikographisches Institut 1982:4606; Herv. i. Original).

Es wird deutlich, dass keine einheitliche Definition für Krise vorliegt und eine Vielzahl von Begriffsbestimmungen existiert. Der Schwerpunkt der vorliegenden Bachelorarbeit liegt einerseits auf wirtschaftlichen und andererseits auf subjektiven, individuellen Krisen. Für beide Betrachtungen sind eigene Erklärungen zu berücksichtigen. Die ökonomische Perspektive des Begriffs Krise kommt den anfangs genannten Schlagwörtern am nächsten und wird in Kap. 2.1 näher skizziert. Doch den Schwerpunkt auf wirtschaftliche Krisen zu legen, würde der Gesamtheit des Begriffes nicht gerecht werden. Daher erfolgt im Anschluss eine Betrachtung auf der Mikroebene.

2.1 Wirtschaftliche Krisen

In der Wirtschaft wird der Begriff Krise, als eine von vier Etappen des Konjunkturzyklus, als „die Phase des konjunkturellen Niedergangs (auch Depression) [bezeichnet]“ (Gabler Verlag 2012b). Für Varga ist, gemäß Marx, „die Hauptursache der Krisen […] der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der kapitalistischen Aneignung “ (Varga 1979:9; Herv. i. Original). Krisen sind „gekennzeichnet durch hohe Arbeitslosigkeit, geringe Kapazitätsauslastung, geringe Investitionstätigkeit und hohe Bankenliquidität“ (Gabler Verlag 2012a). Die international bekannteste Depression ist die Weltwirtschaftskrise, die 1929 begann und sich bis in die späten 1930er Jahre zog. Das Statistische Bundesamt führt eine Vielzahl von weiteren Konjunkturindikatoren auf: u. a. Bruttoinlandsprodukt, Verbraucherpreise, private Konsumausgaben oder Arbeitskosten (vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland 2012). Im Folgenden werden drei konjunkturelle Indikatoren für die letzten Jahre näher aufgezeigt.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist eine der wichtigsten ökonomischen Kennzahlen. Sie „misst den Marktwert aller im Inland produzierten Güter und Dienstleistungen innerhalb eines bestimmten Zeitraums.“ (Wieland/Carstensen2011:14) Das BIP spiegelt das Wirtschaftswachstum wider, darf aber nicht mit Wohlstand gleichgesetzt werden.

Tabelle 1: Das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland von 20072011

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent. Preisbereinigt, verkettet. (Quelle: Eigene Darstellung nach Räth/Braakmann 2012:14)

Tabelle 1 zeigt die Entwicklung des BIP (preisbereinigt) seit 2007 im Vergleich zum Vorjahr. 2009 brach das Bruttoinlandsprodukt „durch die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise“ (Mucha 2011:72) um -5,1 % ein, und Deutschland erlebte „die schlimmste Rezession der Nachkriegszeit“ (ebd.). Daher wurden seit Ende 2008 u. a. zwei Konjunkturpakete, ein Investitions- und Tilgungsfonds sowie der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung „mit einem Finanzrahmen von bis zu 480 Mrd. Euro“ (Schulze-Steikow 2011:88) ins Leben gerufen (vgl. ebd.).

Eine „entscheidende Rolle für das Wirtschaftswachstum einer Volkswirtschaft“ (Strobel 2011:20) spielt die Investitionsquote . Diese ist Voraussetzung für ein nachhaltiges Wachstum. Im Zeitraum 1995–2008 besaß Deutschland „die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder“ (ebd.). 2009 betrugen die in der gesamten EU (27) getätigten Bruttoanlageinvestitionen in Prozent des BIP 19 % (vgl. Wirtschaftskammer Österreich 2011:1). Die inländische Quote lag hingegen bei niedrigeren 17,2 % (vgl. ebd.).

Ein weiterer Indikator ist die Arbeitslosenquote. 2007 lag diese in Deutschland durchschnittlich bei 10,1 %, 2009 bei 9,1 % (vgl. Asef/Wingerter 2011:106). Im März 2012 wies die Quote einen Wert von 7,2 % auf (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012:1).

Das Sinken der Arbeitslosenzahlen widerspricht auf den ersten Blick einer „wirtschaftlichen“ Krise. Doch bei näherer Betrachtung wird erkennbar, dass die heutigen, offiziellen Arbeitslosenzahlen zunehmend an Bedeutung verlieren (vgl. Vobruba 2000:129). Der stetige Anstieg von atypischen Beschäftigungsverhältnissen auf mittlerweile 25 % (vgl. Asef/Wingerter 2011:100), Stand 2009, ist ein Grund. Atypische Beschäftigungsverhältnisse sind Teilzeitbeschäftigungen, geringfügige und befristete Beschäftigungen sowie Zeitarbeitsverhältnisse, auch Leiharbeit genannt (vgl. ebd.). Diese Beschäftigungsformen werden deutlich geringer bezahlt als Normalarbeitsverhältnisse (vgl. Bick 2011:122) und reichen oft nicht zum Leben aus. Kriterien von Normalarbeitsverhältnissen sind u. a. Ausübung in Vollzeit sowie ein unbefristetes und rechtlich abgesichertes Arbeitsverhältnis (vgl. Asef/Wingerter 2011:100). Ebenso werden Menschen in Weiterbildungen, ältere Mitmenschen (vgl. ebd.:98) oder Ehefrauen, die noch „traditionell“ durch ihren Mann „ernährt“ werden und sich nicht arbeitslos melden, in der Statistik nicht aufgeführt. Zusätzlich kommt es gemäß Vobruba (vgl. 2000:141) generell zu einem Sinken der Arbeitslosenzahlen aufgrund des demografischen Wandels.

Auf weitere Indikatoren sowie einzelne Ursachen und Wirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise kann aufgrund der Begrenztheit dieser Arbeit nicht eingegangen werden.
Es wird aber durchaus schon erkennbar, dass die 2007 begonnene und weltweit schwerste „Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit“ (Schulze-Steikow 2011:88) auch in der Bundesrepublik Deutschland starke Auswirkungen hatte. Vor allem das BIP manifestiert, dass der einheimische Staat speziell im Jahr 2009 eine schwere Wirtschaftskrise erlebte. Aktuelle Nachrichten über den deutschen Export-Boom werden durch hohe Staatsschulden, 2009 bei 1.694,4 Mrd. Euro (vgl. ebd.:85), sowie durch jährlich rasant steigende Schuldenzuwächse (vgl. Breuer 2011:210f.) getrübt.

Aufgrund dieser Fakten wird das Jahr 2009 in dieser Arbeit stärker berücksichtigt. Denn obwohl die Medien fast täglich Krisen thematisieren, so dokumentiert die rein ökonomische Betrachtung (BIP, Arbeitslosenquote) diese seit 2010 nicht ohne Weiteres.

Abschließend darf nicht unerwähnt bleiben, dass Krisen (in den letzten Jahren) in den Medien Konjunktur besaßen. Ob hierbei immer alle Fakten in den Nachrichten berücksichtigt worden sind oder evtl. der Auflagen- und Quotendruck zu einer „Medienhysterie“ führte, ist eine andere Frage (vgl. Sorge 2011). Sie verdeutlicht jedoch die kontinuierlich bedeutsame Relevanz der Krisen-Themen in den Berichterstattungen.

2.2 Subjektive, individuelle Krisen

Ökonomische Kennzahlen können nur wenig bis nichts über die gefühlten, subjektiven Krisen von Individuen aussagen. So kann das BIP zwar steigen, die Arbeitslosenquote sinken oder der Export anziehen, das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass dies bei dem Einzelnen spürbare Verbesserungen nach sich zieht. Eine geringe Arbeits-losenquote ist als wirtschaftlicher Indikator relevant. Doch Menschen, die genau unter diese Quote fallen und arbeitslos sind, hilft die statistische Kennzahl im wirklichen Leben selten.

Der Begriff der Krise ist im Vergleich zur Alltagssprache in der Sozialpädagogik klarer definiert. Eine „psychosoziale“ Krise ist:

„[der] Verlust des seelischen Gleichgewichts, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und vom Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel […] überfordern“ (Sonneck 1997:31; in Anlehnung an den Überlegungen von Caplan 1964 und Cullberg 1978).

Naturkatastrophen, Vergewaltigung, Verlust, Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Beziehungs-probleme oder Armut sind nur einige Beispiele für Aspekte, die zu einer individuellen Krise führen können (vgl. D´Amelio 2010:3). Krisen sind Notsituationen, die eine enorme Belastung für die betreffende Person bedeuten und jeden treffen können.

„Die Auswirkungen von Krisen auf die Befindlichkeit und das Verhalten des Individuums resultieren […] aus der subjektiven Bewertung des Krisenanlasses und der zur Verfügung stehenden Ressourcen.” (ebd.:4; Herv. i. Original ) Je mehr ein Mensch seine Situation als kritisch oder gefährlich ansieht, desto höher ist sein Gefühl der Überforderung und je geringer sind seine Aussichten zum Bestehen oder zur Überwindung der Krise (vgl. ebd.). Ressourcen nehmen daher im Verlauf einer Notsituation eine zentrale Rolle ein (vgl. ebd.). Der Verein „Irrsinnig Menschlich“ schätzt:2

„Etwa jeder dritte Mensch hat bereits einmal in seinem Leben eine behandlungsdürftige psychische Krise oder Krankheit durchlebt oder leidet noch an ihr. […] Zwischen 1,6 und 4 Millionen Menschen suchen jährlich in Deutschland psychiatrische Hilfe“ (zitiert aus Andelfinger 2011:148).

Der „ARD-DeutschlandTrend“ versucht Meinungen in der inländischen Bevölkerung widerzuspiegeln. Bei der Nachfrage, ob die Interviewten persönlich von dem derzeitigen Wachstum profitieren, antworteten 73 % im Januar 2012 mit „Nein“ (vgl. Schönenborn 2012:27). 79 Prozent stimmten der Ansicht zu, dass der schlimmste Teil der Euro- und Schuldenkrise noch bevorsteht, und 51 % machen sich Sorgen um ihre persönliche wirtschaftliche Zukunft (vgl. ebd.:32).

Während die ökonomischen Kennzahlen eine (Wirtschafts-)Krise v. a. für 2009 belegen, ist dies für die einzelnen Menschen gesehen unmöglich. Krisen sind nach außen oft nicht sichtbar und etwas sehr Individuelles. Die in Kapitel 5 vorgestellte empirische Methode versucht u. a. diese subjektiven Krisen(-wahrnehmungen) näher zu erfassen.

Im folgenden Kapitel 3 werden zunächst Erklärungsansätze zur individuellen Mediennutzung vorgestellt. Sie bilden im späteren Verlauf die theoretischen Grundlagen.

3. Ausgewählte theoretische Ansätze zur individuellen Mediennutzung

Der empirische Teil dieser Arbeit (Kapitel 5 – Online-Fragebogen) basiert auf den nachfolgenden theoretischen Ansätzen, mit denen individuelle Mediennutzung (z. B. der Kinobesuch) erklärt werden kann. Vorab erfolgt eine Einführung in die Bedürfnisse des Menschen gemäß Maslow. Darauf aufbauend werden die kommunikativen Bedürfnisse nach McQuail vorgestellt. Der Nutzen- und Belohnungsansatz nach Katz, Blumler und Gurevitch sowie die Eskapismusthese vervollständigen im Anschluss den Theorieteil.

Zu Beginn der einzelnen theoretischen Konstrukte erfolgt in diesem Abschnitt ergänzend eine Bedeutungszusammenfassung der Begriffe „Theorie“ und „Mediennutzung“.

Der Ausdruck Theorie stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Betrachtung“ bzw. „Zuschauen“ (vgl. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion 2000:1333). Eine Theorie wird in der Wissenschaft als „ein System von Aussagen oder Sätzen [definiert], das in gewissem Umfang der Zusammenfassung, Beschreibung, Erklärung und Vorhersage von Phänomenen dient.“ (Brockhaus Deutsche Enzyklopädie 1993:84)

Die Theorie konstruiert ein Abbild der Realität, in vereinfachter Darstellung, welche am Anfang zunächst beschrieben und dann erklärt wird (vgl. Batinic/Appel 2008:5). Theoretische Ansätze versuchen somit, im Kreis ihres jeweiligen Gegenstandsbereichs,
Erscheinungen zusammenzufassen, um sie im Anschluss daran als wissenschaftliche Erkenntnisse auszuweisen. Jede Theorie sollte hierbei stets zwei Kriterien genügen:
„a) in sich widerspruchsfrei sein und b) die Ableitung empirisch gehaltvoller, d. h. durch eine systematische Untersuchung realer Phänomene überprüfbare Hypothesen ermöglichen.“ (ebd.)

Der Nutzen für die Wissenschaft ergibt sich daraus, dass Theorien forschungsleitend und untersuchungsstrukturierend sind (vgl. Weber 2003:14). In dieser Arbeit wird anhand der theoretischen Ansätze versucht, das Phänomen, das Ansteigen des Kinobesuchs in Krisenzeiten, zu deklarieren bzw. einen Erklärungsansatz zu liefern.

Unter Mediennutzung wird ganz allgemein der Kontakt eines Individuums mit einem medialen Angebot (z. B. eines Filmes) verstanden (vgl. Hasebrink 2006:220). Sie ist Grundlage jeglicher Medienwirkung und steht somit stets am Anfang.

Die Mediennutzung ist in der Wissenschaft auf der Mikro-, Meso- und Makroebene erklärbar. Schweiger plädiert auf eine Unterscheidung verschiedener Perspektiven in der Mediennutzungsforschung3 : funktional, individual-prozessual und strukturell (vgl. Schweiger 2007:15).

Mediennutzung bedeutet in unserem gegenständlichen Erkenntnisinteresse: die Nutzung des Mediums Kino durch das Publikum, wobei „die Summe der Empfänger publizistischer Aussagen […] allgemein als Publikum [bezeichnet wird]“ (Pürer 2003:311).

In dieser Arbeit wird unter Publikum/Zuschauer der rezipierende Anwesende verstanden, der Filme im Lichtspielhaus aktiv konsumiert (vgl. Schell 1996:208). Der Fokus liegt damit stets auf dem Nutzer als handelnden Akteur. Neben dem reinen Kontakt mit einem Medienangebot umfasst die mediale Nutzung folgende zusätzliche Aspekte:

„1) die à Medienauswahl, also die Frage, welche Medien und Inhalte sich die Menschen zur Nutzung auswählen; 2) die Medienrezeption, also die Frage, wie die Menschen die ausgewählten Angebote wahrnehmen, verarbeiten und interpretieren […] sowie 3) die Medienaneignung, also die Frage, wie die Menschen die wahrgenommenen Inhalte in ihren Alltag hineinholen, welche Bedeutung sie ihm im Hinblick auf ihr Wissen, ihre Einstellungen und ihr Handeln zumessen.“ (Hasebrink 2006:221; Herv. i. Original)

Der Schwerpunkt dieser Ausarbeitung liegt anfangs auf dem Aspekt der Medienauswahl. Diese umfasst ganz allgemein betrachtet u. a. die Besucherzahlen des Filmtheaters und die rezipierten Kinofilme. Damit wird zunächst aufgezeigt, dass ein Anstieg bei der Medienauswahl für das Kino in Krisenzeiten vorliegt. Danach setzt die eingangs skizzierte Forschungsfrage an: „Inwieweit ermöglicht der Kinobesuch, vor allem in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisenzeiten, die individuelle Bedürfnisbefriedigung?“ Es geht dabei um einen tief greifenden Aspekt, einem „Warum“. Warum wählt der Mensch das Kino zur individuellen Nutzung in Krisenzeiten aus?

Im Folgenden werden drei ausgewählte theoretische Ansätze näher vorgestellt, die im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitung das gedankliche Grundgerüst darstellen.

3.1 Bedürfnisse nach Abraham H. Maslow und Denis McQuail

„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“4 (Brecht 1928:67) So trivial dieser Satz von Brecht zunächst anmuten mag, so beschreibt er eine wichtige Erkenntnis: Erst müssen die primären Bedürfnisse des Individuums, wie Nahrung oder Schlafen, befriedigt sein. Erst dann folgen die sekundären, wie z. B. ein Kinobesuch oder just die
Moral. Eine Definition von Bedürfnis lautet:

„Einer von mehreren Ausdrücken für jene spontan entstehenden oder durch äußere Reize angeregten, subjektiv als àTrieb oder Beweggrund (àMotiv) erlebten Kräfte, die dem Erreichen eines Zieles dienen, das vom Handelnden als lustvoll oder nützlich empfunden wird.“ (Schmidbauer 1991:34)

Der US-amerikansiche Psychologe Abraham Harold Maslow (vgl. 1943:370–396) entwickelte eine Typologie der Bedürfnisse des Menschen – eine Art Bedürfnispyramide.

Abbildung 1: Die Bedürfnispyramide

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 stellt die Bedürfnisse/Motive des menschlichen Wesens (in Anlehnung an Maslow) hierarchisch dar.5 Das Grundgerüst der Pyramide bilden die so genannten Grundbedürfnisse. Danach folgen Sicherheits-, soziale und Ich-Bedürfnisse sowie Selbstverwirklichung, Wissen und Verstehen sowie zuletzt Ästhetik. Die in der Pyramide eher am Fuße abgebildeten Bedürfnisse, wie etwa Essen, aber auch Geborgenheit oder Liebe, sind so genannte Restitutionsbedürfnisse. Das bedeutet, sie unterliegen einer Sättigung (vgl. Fischer/Wiswede 2002:110). Die an der Spitze der Pyramide dargestellten Einteilungen sind so genannte Wachstums­bedürfnisse, das bedeutet dass „die Befriedigung keinen Grenzen unterworfen ist“ (Weber 2010:17). „Ein höheres Motiv kann erst dann Geltung erlangen, wenn das jeweils rangniedrigere Motiv befriedigt ist.“ (Fischer/Wiswede 2002:110)

Die Klassifikation Maslows ist heute nicht unumstritten. So fehlen Erklärungen dahin­gehend, was z. B. Selbstverwirklichung genau ist oder wo Motive wie Leistung oder auch Macht einzuordnen sind (vgl. ebd.). Die häufigste Kritik erntete der Psychologe aber deshalb, weil er eine „Reihenfolge hierarchische[r] Entwicklungsstufen sah, wie sie oft in einer Pyramide zum Ausdruck gebracht werden“ (Weber 2010:17). So wird der Mensch langfristig gesehen nicht ohne die Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen) auskommen können, „dennoch wird er gleichzeitig und nicht erst in zweiter Linie an sozialer Bindung und freier Selbstbestimmung interessiert sein“ (ebd.).

Als Einführung in die menschlichen Bedürfnisse liefert Maslow bis heute einen kompakten Überblick. Seine Typologie deutet bereits an: Jedes Individuum verfügt über unendliche Bedürfnisse, und ihre Anzahl ist unüberschaubar. Der Mensch versucht hierbei stets seine Wünsche zu befriedigen. Werden diese (auf Dauer) nicht erfüllt, so fühlt sich der Mensch häufig(er) schlecht und es entsteht ein unangenehm empfundener Gefühlszustand, das „etwas fehlt“. Langfristig gesehen kann die Nichtbefriedigung von (bestimmten) Bedürfnissen zu individuellen Krisen führen.

Die persönlichen Bedürfnisse bestimmen wesentlich „als auslösende Motive die Wahl der Kommunikationsinhalte und sogar die aus der Kommunikation resultierenden Wirkungen“ (Bonfadelli 1999:163). Aufbauend auf diese Einführung folgt der Gratifikations-Katalog von Denis McQuail. Er formulierte 1983 auf Basis zuvor quantitativ durchgeführter Befragungen die kommunikativen Bedürfnisse des Menschen und ist eng an den Nutzen- und Belohnungsansatz (siehe dazu Kapitel 3.2) gekoppelt.

Abbildung 2: Mediennutzungsmotive nach Denis McQuail

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Eigene Darstellung nach McQuail 1983:82f.; McQuail 1994:73)

Abbildung 2 stellt die vier Motiv6 -Dimensionen zur Nutzung von Medien nach McQuail dar. Diese bestehen aus einem Informationsbedürfnis, einem Unterhaltungsbedürfnis, einem Bedürfnis nach Identität sowie einem Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion. Die skizzierte Motivliste dient als Erklärung, weshalb Menschen ein Kino aufsuchen und einen Film konsumieren. Insbesondere die Aspekte der Unterhaltung mit seinen Unterpunkten (z. B. Realitätsflucht, Ablenkung oder Entspannung) sowie das Bedürfnis nach Integration und sozialer Interaktion (z. B. Gesprächsgrundlage oder Geselligkeitsersatz) können zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragen.

Der dargelegte Bedürfniskatalog gemäß McQuail ist nur einer von vielen. Das stetige Zusammentragen und die Prüfung der einzelnen Motive „in Bezug auf bestimmte Medien oder Medieninhalte“ (Pürer 2003:347) steht immer wieder im Interesse der empirischen Gratifikationsforschung. Auch wenn keine allgemeingültige Bedürfnisliste existiert, so zählen die Nutzungsmotive McQuails zu den bedeutendsten (vgl. ebd.). Sie ermöglichen, das Potenzial des Filmtheaters im Hinblick der Motivauswahl in Krisen­situationen zu ermitteln.

Ergänzend sei an dieser Stelle noch die Einteilung der Mediennutzung nach Meyen
erwähnt. Der Autor nennt diese „Funktionen der Medien“ und unterscheidet drei Gruppen: 1.) Unterhaltung (z. B. Entspannung, Abwechslung, Zeitfüller, Zufluchtsort), 2.) Überblickswissen (z. B. Sicherheit, Orientierung) und 3.) Weitere Funktionen (z. B. Strukturierung im Tagesablauf, Gesprächsstoff oder Ratgeber) (vgl. Meyen 2004:110).

Laut Bonfadelli lässt eine Betrachtung der unterschiedlich existierenden Bedürfnislisten erkennen, dass vier „klassische“ Bedürfnisgruppen immer wieder auftauchen: kognitive, affektive, sozial-interaktive und integrativ-habituelle (vgl. Bonfadelli 1999:163f.).

Nach diesem Überblick über die verschiedenen Bedürfnisse/Motive des Menschen steht im nächsten Abschnitt ein theoretischer Ansatz im Fokus, der die Medienwahl anhand der unterschiedlich existierenden Bedürfnisse von Individuen zu erklären versucht.

3.2 Nutzen- und Belohnungsansatz

Elihu Katz und David Foulkes postulierten 1962 die Voraussetzung des Nutzen- und Belohnungsansatzes (engl. Uses-and-Gratifications-Approach): „This is the approach that asks the question, not ‘What do the media do the people?’ but, rather, ‘What do people do with the media?’” (Katz/Foulkes 1962:379). Mit der Frage nach dem „Was machen die Menschen mit den Medien?“ wird der zentrale Aspekt dieser Denkrichtung, der sich der funktionalen Perspektive der akademischen Nutzungsforschung zuordnen lässt, bereits deutlich. Es soll herausgefunden werden, warum Individuen (bestimmte) Medien nutzen und was sie sich hierbei genau erhoffen/wünschen.

In den darauffolgenden Studien von Katz, Blumler und Gurevitch wurde versucht, die subjektive Mediennutzung der Rezipienten über ihre Bedürfnisse bzw. Motive näher zu deklarieren (vgl. Katz/Blumler/Gurevitch 1974:21f.). Auch wenn die moderne Gratifikationsforschung immer wieder erweitert und ausdifferenziert wurde, so stützt sie sich überwiegend auf die im Folgenden skizzierten Grundannahmen der genannten Autoren.

Ausgangspunkt ist die Ansicht, dass die Individuen Fernsehen schauen, im Internet „surfen“ oder ins Kino gehen, weil sich die Subjekte davon einen Nutzen bzw. eine Art Belohnung (Gratifikation) versprechen (vgl. ebd.). Der Empfänger strebt eine individuelle Bedürfnisbefriedigung mittels Medien an, in unserem konkreten Fall durch den
Kinobesuch, um damit gewünschte Wirkungen zu erzielen. Der einzelne Mensch kennt seine Bedürfnisse genau und stellt verschiedene Erwartungen an die Kommunikationsmedien (vgl. ebd.). Der Rezipient handelt hierbei stets aktiv, größtenteils zielgerichtet und rational, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. ebd.).

Damit kann der Ansatz auch als Gegenentwurf zu dem damaligen Stimulus-Response-Modell (SR-Modell) der früheren Kommunikationsforschung angesehen werden. Im klassischen SR-Modell wurde der Rezipient stets als passiv betrachtet, bei dem der Reiz (z. B. ein Film) bei allen Menschen eine gleiche Reaktion auslöst (vgl. Pürer 2003:360).

Der entscheidende Punkt des Nutzen- und Belohnungsansatzes ist, dass die Rezeption zielorientiert geschieht. Der Rezipient ist nicht passiv; es wird ihm eine aktive Rolle zugeschrieben (=aktives Publikum7 ), und er möchte durch den Medienkonsum bewusst Bedürfnisse befriedigen.

Der Wunsch und die Art nach Belohnungen sind je nach Individuum verschieden. Medieninhalte (z. B. der eines Kinofilms) sind nicht mehr allein relevant, sondern vielmehr auch die individuelle Zuwendung zu einem Medium sowie der situationale Kontext, in dem der Konsum stattfindet (vgl. Katz/Blumler/Gurevitch 1974:24).

So können beispielsweise drei Menschen gemeinsam ins Kino gehen und sich ein und denselben Film zusammen anschauen. Der Erste interessiert sich dabei für den gesellschaftskritischen Inhalt des Spielfilms, der Zweite schaut das audiovisuelle Medium, damit er am nächsten Tag in der Schule/auf der Arbeit mitreden kann und der Dritte, weil er gerne wieder etwas mit seinen Freunden unternehmen möchte. Auch weitere als diese drei skizzierten Gratifikationen sind denkbar.

Die Medien dienen der Befriedigung der vielfältigsten Motive und können mehrere gleichzeitig erfüllen (vgl. ebd.:21). Sie stehen dabei jedoch stets in einem Konkurrenzverhältnis zueinander und wettstreiten mit anderen Freizeitaktivitäten (vgl. ebd.), wie
z. B. Sport treiben, ein Instrument erlernen oder verreisen.

Die Grundannahmen dieses Ansatzes sind in der folgenden Übersicht noch einmal zusammengefasst (vgl. Katz/Blumler/Gurevitch 1974:21f.; nach Meyen 2004:16–18):

- „Mediennutzung kann über Bedürfnisse und Motive der Rezipienten erklärt werden.
- Das Publikum ist aktiv, kennt seine Bedürfnisse und handelt zielgerichtet. Die Handlung wird dabei durch eine Kosten-Nutzen-Kalkulation gesteuert und damit auch von den Erwartungen an die Medien. Diese Medien-Images werden davon beeinflusst, ob man die gesuchten Belohnungen bekommt oder nicht […].
- Medien konkurrieren nicht nur untereinander um Zeit und Aufmerksamkeit der Menschen, sondern auch mit anderen Quellen der Bedürfnisbefriedigung. Mediennutzung ist deshalb nur zu verstehen, wenn man diese Alternativen berücksichtigt.
- Massenmedien können eine ganze Reihe von Bedürfnissen befriedigen, wobei ein und dasselbe Angebot zu ganz verschiedenen Zwecken genutzt werden kann.
- […] Die Menschen sind in der Lage, über ihre Bedürfnisse Auskunft zu geben.“

Im Laufe der Zeit kam es zu wichtigen Erweiterungen des Lösungsansatzes. So erkannte Greenberg (vgl. 1974:89), neben Katz und Rosengren, dass es relevant ist, zwischen gesuchten und erhaltenen Gratifikationen zu unterscheiden (vgl. Palmgreen 1984:53). Denn die Befriedigung bzw. Nichtbefriedigung von gesuchten Belohnungen schlägt sich im weiteren Verlauf des Medienkonsums und der Medienbewertung nieder und damit im künftigen Rezeptionsverhalten (vgl. Palmgreen/Wenner/Rosengren 1985:27). Die individuelle Suche nach Belohnungen und die Medienauswahl erfolgt 1.) aufgrund einer bestimmten Erwartung und 2.) einer Bewertung (vgl. Palmgreen 1984:55).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Das Erwartungs-Bewertungsmodell nach Palmgreen

(Quelle: Palmgreen 1984:56)

Abbildung 3 deskribiert den Prozessverlauf von gesuchten und erhaltenen Gratifikationen nach Palmgreen. Die gewünschten Belohnungen (Motive) werden aus einer Kombination von Erwartungen (Vorstellungen) und Bewertungen beeinflusst. Eine Person sucht zum Beispiel ein Lichtspielhaus auf, weil sie einen aktuellen Film für relevant hält (Bewertung) und glaubt, beim dortigen Kinobesuch diesen neuen Film auch konsumieren zu können (Erwartung).

[...]


1 Auf geschlechtsneutrale Formulierungen wurde aus Gründen der Leserlichkeit in aller Regel verzichtet. In diesem Abschnitt und in den folgenden Kapiteln sind stets beiderlei Geschlechter gemeint.

2 Vgl. zu diesen Daten bspw. auch die im Fachmagazin „European Neuropsychopharmacology“ (2011;21: 655–679) veröffentlichten Ergebnisse einer Studie aus 27 EU-Staaten. Ein Resultat der Studie ist, dass es zu einer steigenden Anzahl psychischer Störungen in den EU-Ländern gekommen ist. Der Artikel ist online abrufbar unter: http://tu-dresden.de/aktuelles/news/Downloads/artikel_wittchen [Abruf am 23.2.2012].

3 Für eine umfangreichere Übersicht zu den „Grundlagen der Mediennutzungsforschung“ siehe Schweiger, W. (2007): Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 15–59.

4 In: Die Dreigroschenoper. Lied: „Wovon lebt der Mensch?“

5 Zunächst hatte Maslow fünf Stufen entwickelt, später wurden diese auf acht erweitert. Für eine inten­sivere Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen siehe Maslow (1943:370–396) und Maslow (1971).

6 Motive und Bedürfnisse werden in der Literatur oft synonym bzw. nicht trennscharf verwendet. Nach Meyen (2004:18) sind aber beide Begriffe „Mangelzustände, die ein Individuum überwinden möchte.“

7 Zum Konzept des „aktiven Publikums“ siehe u. a. näheres bei Levy, M./Windahl, S. (1985): The concept of audience activity. In: Rosengren, K. E./Wenner, L. A./Palmgreen, P. [Hrsg.]: Media gratifications research. Current perspectives. London, Beverly Hills: Sage Publications, S. 109–122.

Ende der Leseprobe aus 66 Seiten

Details

Titel
Das Kino in Krisenzeiten. Ein Zuschauer- und Wirtschaftsmagnet?
Hochschule
Universität Leipzig  (Kommunikations- und Medienwissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
66
Katalognummer
V1239945
ISBN (eBook)
9783346664617
ISBN (Buch)
9783346664624
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kino, Cinema, Krise, Zuschauer, Film, Belohung, Eskapismus, Maslow, McQuail, Filmproduktion, Kinobesuch, Lichtspielhaus, Kinokarte, Einspielergebnis, Bedürfnisbefriedigung, Finanzkrise, Wirtschaftskrise
Arbeit zitieren
Timmy Ehegötz (Autor:in), 2012, Das Kino in Krisenzeiten. Ein Zuschauer- und Wirtschaftsmagnet?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1239945

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