Der Einfluss des Rechtnaturalismus auf das deutsche Privatrechtsdenken

Von der Begriffs- zur Interessenjurisprudenz


Examensarbeit, 2022

37 Seiten, Note: 14


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Was ist Naturalismus?

III. Rudolf von Jhering- Einführung

IV. Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz

V. Im juristischen Begriffshimmel. Ein Phantasiebild

VI. Der Kampf um's Recht

VII. Der Zweck im Recht- Inhalt und System
1. Gott, Natur und Tier
2. Der Wille
3. Interesse und Zweck
4. Gesellschaft und Staat
a) Lohn als Hebel der Gesellschaft
b) Zwang als Hebel des Staates
c) Sittlichkeit und Ethik

VIII. Jherings Theorie- Stellungnahme

IX. Heck und Jhering

X. Das Problem der Rechtslücken

XI. Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz

XII. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

„ Wir blicken, so scheint es, in eine Kluft hinab, an welcher der Lebensfaden einer ablaufenden Epoche stockt1 und wir uns aufgefordert finden, Wärme, Frische und Leben in den kalten Steinpalast des Rechtes hineinzutragen.2 Wollen wir es nicht einmal anders versuchen, uns nicht einmal hinauswagen in die grüne, frische Natur, um aus dieser Natur den Strom organischen Lebens zur neunen Befruchtung und Verjüngung der Jurisprudenz auf deren Terrain herüberzuleiten?3 Es gibt Phänomene in der Rechtswelt, welchen denjenigen Werkzeugen unzugänglich sind, womit unsere Wissenschaft bis jetzt operiert hat, dass es für die zivilistische Logik eine Grenze gibt, jen­seits deren andere, ihr nicht erreichbare, Bezüge stattfinden.4

Ob sich Kuntzes so ausdrucksvoll umschriebene Vision eines neuen Zivil­rechtsdenkens, welches dem Schoß der Natur entspringt, tatsächlich be­wahrheitet hat, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es gilt zu klären, ob und inwieweit der Rechtsnaturalismus die Entwicklung unseres Zivilrechts­denkens verändert hat. Gab es tatsächlich eine Verwissenschaftlichung, die sich der Regeln der Naturwissenschaft bedient hat, die sich auf die gesell­schaftlichen Realitäten besinnt und nach dem Zweck allen Rechts fragt? Gab es ein sich- entfernen vom römischen Zivilrechtsdenken und die Kon­struktion einer Methodik, die sich den Interessen und Bedürfnissen des deutschen Volkes jener Zeit widmete? Ist der Rechtsnaturalismus für unser heutiges Zivilrecht gar als der letzte große rechtstheoretische Denkansatz anzusehen?

Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer exakten Sezierung der rechtshistorischen und rechtstheoretischen Quellen. Diese Arbeit beschränkt sich in ihrem Inhalt insbesondere auf die Rechtstheorie Rudolf von Jherings und die Interessenjurisprudenz Philipp Hecks. Diese Theorien werde ich Stück für Stück, der organischen Entwicklung nach, aufbauen. Von bloßen Denkansätzen hin zu systematisch ausgeklügelten Ausarbeitungen, hin zur Auswirkung auf spezifische Zivilrechtsgebiete. Vom Abstrakten zum Kon­kreten.

II. Was ist Naturalismus?

Wenn man den Naturalismus in seiner Gesamtheit betrachtet, so handelt es sich nicht um ein zeitlich begrenztes Phänomen, welches sich in einem ein­zelnen Lebensgebiet abgespielt hat. Das was wir nachträglich unter diesen Begriff subsumieren, ist vielmehr eine Entwicklung universellen Charak­ters, welche sich auf mehreren Gebieten, zwischen der Mitte des 19. Jahr­hunderts bis zum einsetzenden 20. Jahrhundert, gleichzeitig vollzog.5 Eine Entwicklung, die sich vor dem Hintergrund der Reichsgründung von 1871, dem zunehmenden Verstädterungsprozess und den damit einhergehenden Urbanisierungserfahrungen, sowie dem Anwachsen eines großen Arbeiter­milieus in den verschiedensten Disziplinen der Kunst, Literatur, Theologie, Philosophie, Wissenschaft und Jurisprudenz ausgewirkt hat.6

Alles Natürliche erfreut sich größter Beliebtheit, eine regelrechte Schwär­merei und Anbetung der Natur bahnt sich ihren Weg durch die Gesellschaft, als träfe der Mensch das erste Mal auf jene.7 Es herrscht ein regelrechter Hass gegen das Urbane, alle Welt ist klügelnd und grübelnd und versucht die Weisheit des Universums in der sie umgebenden Natur zu finden. Inner­halb der literarisch- geisteswissenschaftlichen Kultur vollzieht sich eine Popularisierung der Naturwissenschaft, die abstrakten Theorien der Physik, Mechanik und Chemie werden in konkrete plastische Formen gegossen, die allegorische Verkörperung als Mittel des Übergangs dieser beiden Denkan­sätze.8

III. Rudolf von Jhering- Einführung

Wenn man den Einfluss des Rechtsnaturalismus auf die Entwicklung des deutschen Zivilrechtsdenkens behandelt, kommt man an der Person Jherings nicht vorbei. Jhering kann in vielerlei Hinsicht als die Inkarnation des Wen­depunktes und als der Vater des naturalistischen Rechtsdenkens betrachtet werden. Sein umfangreiches wissenschaftliches Werk in seiner Gesamtheit zu betrachten, ist vorliegend nicht die Intention des Verfassers, ie Zielset­zung liegt in einer chronologisch-systematischen Darstellung seines Rechts­denkens,welche sich als Ausgangspunkt Jherings Wendepunkt setzt. Da­raufhin erfolgt eine Auslegung und Auseinandersetzung mit seinen Schrif­ten, um den Grad seines Einflusses näher beziffern zu können. Jherings Rechtsdenken also, welches er insbesondere in den ersten drei Bänden sei­nes „Geistes“ zum Ausdruck brachte, wird daher nur in der Hinsicht be­leuchtet, als das es zum Verständnis seiner späteren Theorie notwendig er­scheint. Der Schwerpunkt zum Erarbeiten seiner Dogmatik liegt hier auf seinen Werken „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“, „Der Kampf ums Recht“ und der „Zweck im Recht“ mit Schwerpunktverlagerung auf den ersten Band von 1877.

IV. Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz

Das von Jhering im Jahr 1884 veröffentliche Werk Scherz und Ernst in der Jurisprudenz gliedert sich in vier Teile: Im ersten Teil wurden mehrere Brie­fe zusammengefasst, die Jhering anonym in der Preußischen, später Deut­schen Gerichtszeitung, unter dem Titel „Vertrauliche Briefe über die heutige Jurisprudenz. Von einem Unbekannten.“ zwischen den Jahren 1860—1866 veröffentlicht hat. Einer Auswahl dieser Briefe soll zunächst den Einstieg in Jherings Wandlung bilden. Der dritte Teil „Im juristischen Begriffshimmel. Ein Phantasiebild“ und vierte Teil „Wieder auf Erden. Wie soll es besser werden?“ werde ich im Anschluss thematisieren, auch wenn diese Teile erst 1884 veröffentlicht worden sind und von der Chronologie meiner Werk­auswahl daher zuletzt besprochen werden müssten. Der Dritte und vierte Teil sind jedoch als eine Art literarische Ausmalung der Quintessenzen der Briefe zu betrachten, diese zu einem späteren Zeitpunkt zu betrachten, wür­de einen thematischen Bruch erzeugen, der so verhindert werden soll. Die Untersuchung der Briefe konzentriert sich insbesondere auf den dritten, vierten und sechsten. Jhering beendet seinen dritten Brief mit folgendem Aphorismus: „daß man erst den Glauben an die Theorie vollständig verlo­ren haben muß, um ohne Gefahr sich ihrer bedienen zu können." 9

Jhering zeigt in diesem Brief die Problematik des Verhältnisses der Theorie zur Praxis seiner Zeit auf. Er kritisiert die Historische Rechtsschule in der Hinsicht, als dass sie zwar einen großen Wert auf ein gründliches Quellen­studium in der Vergangenheit gelegt hat, jedoch zugleich die Praxisnähe vollkommen vernachlässigt hat. Jhering beschreibt die Funktion seines Brie­fes wie folgt: „wir Praktiker gehen in die Lehre bei dem Theoretiker. Daran liegt allerdings ein gewisser Übelstand, und ihn recht anschaulich vor Au­gen zu bringen, ist der Zweck des gegenwärtigen Briefes.“10 Als Anschau­ungsobjekt dieser Divergenz wählt er das Examen, bildet es doch die Schranke zwischen dem universitären und dem praktischen Leben. Er ver­gleicht seine beiden Lebensphasen, die des umfangreichen Pandektenstudi­ums zu Universitätszeiten und die seiner praktischen Laufbahn, vor allem während seines Assessorexamens. Jhering schildert seine Eindrücke wie folgt: „Im Laufe einer 15jährigen praktischen Thätigkeit ist mir auch nicht eine einzige von alle den fragen aus dem römischen Recht vorgekommen, die mir im Examen vorgelegt wurden.“11 Im Weiteren beklagt Jhering sich darüber, dass ihn das Examen gerade auf die vergleichsweisen einfachen Fälle des Alltagslebens nicht vorbereitet hat. Es stellt sich für ihn die Frage nach dem Warum bezüglich der großen Schlucht zwischen theoretischer und praktischer Arbeit.

Den vierten Brief eröffnet Jhering mit folgender Illustration: Ein Professor ist verreist und sein Stubenmädchen befreit sein Studierzimmer vom lästi­gen Staub. Aus Unachtsamkeit lässt sie das Fenster offenstehen, wie es der Zufall will, kommt eine Windböe durchs Fenster hinein und bringt sämtli­che, dem Professor gehörende, Unterlagen zur römischen Rechtsgeschichte durcheinander. Das Stubenmädchen muss das Chaos also nach eigenem Belieben neu sortieren und bringt dieses nach ihrem eigenen „System“ er­folgreich zu Ende. Der Professor kehrt zurück liest die neu sortierte römi­sche Rechtsgeschichte immer und immer wieder und gewöhnt sich auch an dieses neue „System“, auf dessen Basis er dann zuletzt ein neues Lehrbuch herausbringt. Diese Spitze galt Ernst Rudorff, einem großen Vertreter der historischen Rechtsschule, der in den Jahren 1857 und 1859 zwei neue Lehrbücher zur römischen Rechtsgeschichte herausbrachte. Der Vorwurf von Rudolf: Die historische Schule arbeitet ohne System.

Im sechsten Brief attestiert Jhering dem römischen Recht Senilität und ab­grundtiefe Langweiligkeit. Seit abertausenden von Jahren mühen sich Juris­ten ab, den letzten Inhalt aus dem römischen Recht herauszufiltern, wie den Saft aus einer Zitrone. Irgendwann aber, ist auch das umfangreichste Rechtsgebiet wissenschaftlich erschöpft, wenn man nicht die gleiche Idee des Vordermannes kopieren möchte und wenn man etwas Neues zu erken­nen versucht, entstehen daraus nur noch abstruse und abwegige Kreationen. In Jherings Worten: „Das verstehen Sie nicht! Lieber eine unsinnige Ansicht für sich allein, als eine vernünftige mit Andern gemeinschaftlich. Es ist wie mit den frauen, - wem wäre nicht eine häßliche für sich allein lieber, als eine schöne mit anderen zusammen? Oder wie mit den Kindern wer hat die eigenen nicht lieber, als die fremden, selbst wenn erstere noch so dumm sind? Wer wird fremde Kinder adoptiren, so lange er noch die Hoffnung hat, selber welche zu erzielen?"12

V. Im juristischen Begriffshimmel. Ein Phantasiebild.

Schon früh bringt Jhering diejenigen Ideen zum Ausdruck, welche ihn fort­an in seiner naturhistorischen Schaffungsphase prägen sollten. Aber dabei hat Jhering es nicht belassen. Zufällig gehörte nun zu dem Genie von Jhe- ring auch literarisches Genie, welches er im dritten und vierten Teil seines Buches bemerkenswert zum Ausdruck bringt. Gerade diese Teile stehen ganz unter dem Jheringschen Motto: „Wer ein Mal über eine ungesunde Ansicht gelacht hat, ist für immer dagegen gesichert; das Zwerchfell ist ein höchst werthvolles Stück des Verstandes."13

Wir begleiten Jhering in seinem Traum in das Jenseits- in das Jenseits der Theoretiker. „Es herrscht die finsterste Nacht. Der Weltkörper, auf dem das theoretische Jenseits sich befindet, gehört nicht mehr zum Sonnensystem, es scheint kein Sonnenstrahl hinein. Die Sonne ist die Quelle alles Lebens, aber die Begriffe vertragen sich nicht mit dem Leben, sie haben eine Welt für sich nöthig, in der sie ganz für sich allein existiren, fern von jeglicher Berührung mit dem Leben.“14 Die Seligen, welche in jenem Jenseits ihren Frieden gefunden haben, sind diejenigen, welche zu Lebzeiten an die Herr­schaft der Begriffe geglaubt haben- mithin überwiegend Romanisten der alten Schule. In diesem Himmel gibt es viel wundersame Maschinen, wie die Haarspaltemaschine, die Kletterstange der juristischen Probleme, oder auch den Konstruktionsapparaten. Die Kletterstange der juristischen Prob­leme zeichnet sich dadurch aus, dass die Probleme bloß dazu da sind, um zum Klettern anzuregen, nicht um gelöst zu werden- wo bliebe da der Spaß? Eine besonders interessante Materie bildet für den Konstruktionsapparat das Tüfteln an einfachen Verhältnissen. Denn „je komplizierter das Verhältnis, desto leichter die Konstruktion; je einfacher desto schwieriger.“15 Ein für die Theoretiker sehr angenehmer Zustand bildet auch der Umstand, dass in diesem Stückchen Himmel das Denken und das Sein zusammenfallen. Das Gedachte ist das Sein, über das Sein muss nicht gedacht werden, folglich ein glückseliger Zustand für die so zahlreich vertretenen Romanisten, die ihren Blick nicht aus ihrem Studienzimmer werfen müssen.

An der nächsten Ecke befindet sich das „Cerebrarium“- der Ort, wo die Ge­hirnsubstanz des Theoretikers hergestellt wird. Die eigentümliche Fähigkeit jener Gehirne beruht darauf, sich bei dem Denken juristischer Thematiken von den Voraussetzungen ihrer praktischen Verwirklichung frei zu machen- ihr Reich bildet ausschließlich das Abstrakte, das Konkrete überläßt es dem Praktiker. „Aus gerüstet mit dieser schöpferischen, das Sein lebenden und damit ersetzenden Macht des Denkens kennt er (der Theoretiker) auf dem Gebiete des Rechts kein Hindernis, das seinen Gedankenkombinationen Halt zuruft. Dem Adler gleich, der sich in die Wolken erhebt, schwingt er sich in die Regionen des idealen Denkens, und badet sich hier in dem reinen Gedankenäther, unbekümmert um die reale Welt, die tief unter ihm liegt und seinen Blicken entrükt ist.16

„Hier fragt Niemand nach dem Warum, die Savigny'sche Schule, will sagen die Rechtsschule des neun zehnten Jahrhunderts" ist längst darüber hinaus. Das fehlte noch, daß unsere erhabenen Begriffe einem Erdenwurm wie Dir über ihr Woher und Warum Rede und Antwort stehen müßten. Da müßten sie am Ende noch gewärtigen, daß Dir die Antwort nicht behagte. Die Be­griffe, die Du hier siehst, sind, und damit ist. Alles gesagt. Sie sind absolute Wahrheiten, sie sind von jeher gewesen - sie werden ewig sein. Nach ihrem Wesen und warum zu fragen ist um nichts besser, als zu fragen: warum zwei Mal zwei vier sei. Es ist vier. Mit diesem Ist ist alles gesagt, einen Grund dafür gibt es nicht."17

Jhering merkt bald, dass er als praktisch denkender Theoretiker in diesem Himmel kein Frieden finden wird. Aus dem Traume erwacht stellt sich für ihn die Frage, wie es auf Erden wieder besser werden soll. Gerade er, ein ehemaliger Fanatiker der logischen Methode und Bewunderer Puchtas, kennt die Problematiken der „Begriffsjurisprudenz“ nur zu gut: „Wer selber Sklave gewesen ist, weiß, was die Knechtschaft bedeutet."18 Die Begriffsju­risprudenz muss aufhören sich als rechnende Wissenschaft zu betrachten, welche ihr Fundament nur auf Begriffe baut. Diese Begriffe fallen und ste­hen nämlich mit den Rechtsätzen, aus denen sie extrahiert werden. Das praktische Resultat hat vielmehr das Korrektiv des theoretischen Denkens zu sein. Jhering betrachtet die Jurisprudenz als praktische lebensnahe Wis­senschaft, die in ständiger Interaktion mit der Praxis stehen muss: „Die Stärke des juristischen Praktikers besteht in der Sicherheit und Leichtigkeit der sofortigen Anwendung, die des juristischen Theoretikers in der Fähig­keit der leichten und zutreffenden formulirung."19

Jhering eruiert im Folgenden, warum die Begriffsjurisprudenz ein spezifisch römisch-rechtliches Methodenproblem darstellt, dass in dieser Form im Staats-, Straf- oder Handelsrecht nicht auftaucht. Anders als das römische Recht stehen diese Rechtsgebiete im Strom der Zeit und sind durch die ge­sellschaftlichen Veränderungen unmittelbar angesprochen und verpflichtet zu agieren. Es kommt immer eine neue Materie dazu, die es zu regeln gilt, diese Gebiete befinden sich im beständigen Wandel. Das römische Recht ist alt und schwimmt nicht mit dem Fluss der Zeit, es ist ein festverwurzeltes in sich geschlossenes Konstrukt, ihm mangelt es an Innovation, an neuen Auf­gaben. Welche großen Errungenschaften kann man auf diesem Gebiet noch erwarten? „Wer Wild jagen kann, ist gegen die Versuchung, Mücken zu fan- gen, gesichert."20 Für Jhering ist deshalb allein der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit maßgebend. Das Recht muss in diesem Moment an diesem Ort zu dieser Zeit eine Antwort auf das gegebene Problem geben können und durchsetzbar sein. Jhering will dem römischen Recht dabei aber keines­falls seine Verdienste und Größe bezüglich seiner Geschichte absprechen. Jhering ist schließlich als ehemaliger Romanist gerade durch das römische Recht auch zu dem Juristen geworden, der jetzt für eine Erneuerung eintritt. Nur musste er auch erkennen, dass die Ausbeute an dogmatischer Weisheit verschwindend gering ausfiel und bezüglich der Methode auch keine neuen Kenntnisse mehr zu erwarten sind. Die Rechtslogik wurde damals geschaf­fen um den römischen Rechtssätzen, die das römische Leben abbilden, ein Skelett zu verschaffen. Man kann also durch die römische Rechtsgeschichte viel lernen, der Zugang zum Recht muss aber den gegenwärtigen Lebens­verhältnissen der jeweiligen Zeit angepasst werden. Daher auch Jherings berühmter Schlachtruf:

„Durch das römische Recht, aber über dasselbe hinaus."

Jhering nennt nun drei konkrete Ziele, um die gegenwärtige Gegensätzlich­keit von Praxis und Theorie zu verringern und die Verschmelzung beider, hin zu einer organischen Einheit anzuregen. Zum einen darf Privatdozent, also Lehrender nur werden, wer das Assessorexamen durchlaufen hat. Es soll keine rein theoretisch ausgebildeten Lehrer geben. Ich bin der Überzeu­gung, daß nur derjenige das Recht der Vergangenheit begreifen kann, der das der Gegenwart versteht."21 Zudem soll die Lehre an den Universitäten verändert werden: Das römische Recht soll aufgeteilt werden in seinen dogmatischen und rechtshistorischen Teil. Darüber hinaus muss das akade­mische Rechtsstudium seinem praktischen Endzweck angenähert werden.Dies soll über die Ergänzung von praktischen Übungen, den Pandekten­oder Zivilpraktika geschehen. Als dritten Punkt nennt Jhering die Verände­rung des Examinierens. Neben den üblichen rechtshistorischen Fragestel­lungen, sollen nun im ersten Examen auch Rechtsfälle den Kandidaten vor­gelegt werden, die diese im Klausurformat lösen sollen. Jhering ist es wich­tig, dass die Kandidaten nicht nur rechtshistorische Notizen und Entschei­dungen auswendig lernen, sondern auch in der Lage sind, einen Rechtsfall durch die Interpretation des Gesetzes lösen zu können. Dieses Anliegen war Jhering Zeit seines Lebens ein äußerst wichtiges, so brachte er auch Fall­sammlungen zur Unterstützung der praktischen Lehre heraus. Jherings Fallsammlung „Zivilrechtsfälle ohne Entscheidungen“ stellt ein bemer­kenswertes Phänomen der Ausbidlungsliteratur dar. Sowohl Verbreitung als auch Dauer der Rezeption belegen einen erheblichen Einfluss dieses Werks, welches stellvertretend für die Bedeutung von Jhering als Rechtslehrer steht“22

VI. Der Kampf um's Recht

Die Schrift mit dem Titel: „Der Kampf um's Recht“ baut auf einem Vortrag auf, den Jhering im Frühjahr 1872 vor der juristischen Gesellschaft in Wien hielt. Seine Schrift ist insbesondere auch für den Nichtjuristen geschrieben, die Botschaft, die er verkündet, ist für das gesamte Volk gedacht. Wenn Jhering von einem Kampf spricht meint er damit den „legalen Kampf“, kei­neswegs handelt es sich um eine Schrift, die zu einer Revolution motivieren soll. Für Jhering ist der Zustand des Rechtsfriedens auf Erden bedingt- er kann nur durch unablässige Anstrengung, durch den Kampf, erreicht wer­den. In diesem Kampf geht es nicht nur um die Behauptung der Person selbst und ihres Judizes, sondern auch um eine Pflichterfüllung- eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft und des Rechts selbst. „...denn die Idee des Rechts ist ewiges Werden, das Gewordene aber muß dem neuen Werden weichen, denn- Alles, was entsteht, Ist wert, daß es zugrunde geht.“23 Jhe- ring appelliert vor allem an das Rechtsgefühl der Menschen- man muss nicht gegen jedes objektive Unrecht einschreiten, aber vor allem gegen die Willkür, also gegen eine Auflehnung gegen die Idee des Rechts. Wenn eine andere Person einen mir gehörenden Gegenstand gutgläubig besitzt, so ne­giert sie nicht die Idee des Eigentums, und ich würde bei einem Vorgehen mein Eigentum nur in materieller Hinsicht verteidigen. Ein Dieb negiert aber die Idee des Eigentums und damit eine Grundvoraussetzung meiner Person, denn das Eigentum ist nichts anderes als die sachlich erweiterte Pe­ripherie meiner Person. Es ist entscheidend gerade das Rechtsgefühl im Pri­vatrecht zu stärken, denn das Privatrecht bildet die erste Stufe einer Gesell­schaft. Lange bevor der erste Staat entstanden ist, gab es bereits Handel zwischen den Menschen und wenn man das Volk politisch so erziehen möchte, dass es erforderlichenfalls seine völkerrechtliche Stellung vertei­digt, so fängt am besten zunächst bei jedem einzelnen an, sodass er zunächst die richtige Charakterstärke entwickelt, um seine Rechte im alltäglichen Leben zu verteidigen.

Diesen Idealismus vermisst Jehring schmerzlich im gegenwärtigen gemei­nen Privatrecht. Das römische Recht sieht im Privatrecht nur den blinden Materialismus, die Vermögensgerechtigkeit, aber nicht die ideellen, ätheri­schen Werte, die sich in den Privatrechtsnormen verkörpern. Jhering möchte den klaffenden Riss, welcher sich zwischen dem nationalen Rechtsgefühl und dem römischen Recht befindet, schließen. Das römische Recht ist für eine andere Zeit bestimmt, was bringt einem Volk ein Recht, welches es nicht versteht und was bringt einem Recht ein Volk, das es nicht versteht. Einzig und allein das Vertrauen in das Recht verschwindet. Zusammenfas­send beschreibt Jhering seine Quintessenz wie folgt: „...der Kampf ist die ewige Arbeit des Rechts. Ohne Kampf kein Recht, wie ohne Arbeit kein Ei­gentum. Dem Satz: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot es­sen«, steht mit gleicher Wahrheit der andere gegenüber: »Im Kampfe sollst du dein Recht finden.« Von dem Moment an, wo das Recht seine Kampfbe­reitschaft aufgibt, gibt es sich selber auf. “24

VII. Der Zweck im Recht- Inhalt und System

Jhering wollte es nicht bloß bei einem die historische Rechtsschule und die „Begriffsjurisprudenz“ angreifenden destruktiven Beitrag belassen. Für Jhe- ring gehörte zum Juristendasein auch ein schöpferisches Element, seine Schöpfung, sein Lebenswerk bildet seine nie vollendete Schrift der „Zweck im Recht“. Der erste Band des Zwecks erscheint im Jahre 1877 und Jhering befand sich in der Blütezeit seiner „naturhistorischen“ Schaffungsphase. Jhering, mittlerweile 59 Jahre alt, suchte nicht mehr nach der metaphysi­schen Wahrheit, als Kind seiner Zeit schien ihm die sinnlich wahrnehmbare Natur alle Antworten für unser Leben bereitzustellen. Nicht der geschichtli­chen Entwicklung, sondern dem, wohin sie führen soll, galt Jherings Bemü­hung. Jhering sieht sich in seiner Schrift als den wahren Vollender der guten Ansätze der historischen Schule.25 Im „Zweck“ geht er über das römische Recht hinaus und bildet sein eigenen philosophisch-theoretischen Rechts­schöpfungsbericht.

[...]


1 Johannes Emil Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft (1856), S. 5.

2 Johannes Emil Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft (1856), S. 97.

3 Johannes Emil Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft (1856), S. 98.

4 Johannes Emil Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft (1856), S. 94.

5 Alfred Fried, Der Naturalismus: Seine Entstehung und Berechtigung (1890), S. 4ff.

6 Ingo Stöckmann, Naturalismus: Lehrbuch Germanistik (2011), S. 12ff., 23 ff.

7 Alfred Fried, Der Naturalismus: Seine Entstehung und Berechtigung (1890), S. 13ff.

8 Alfred Fried, Der Naturalismus: Seine Entstehung und Berechtigung (1890), S. 26.

9 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 54.

10 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 38, 39.

11 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 47.

12Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 111.

13Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 100.

14 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 251.

15 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 261.

16 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 274.

17 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 287.

18 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 340.

19 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 350.

20 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 359.

21 Rudolf von Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz (1885), S. 365.

22 Michael N. Rempel, Jherings Juristisches Kabinett (2018), S. IX These 1.

23 Rudolf von Jhering, Der Kampf um's Recht (1877), S. 69

24 Rudolf von Jhering, Der Kampf um's Recht (1877), S. 151.

25 Okko Behrends, Jherings Rechtsdenken (1996), S. 258

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss des Rechtnaturalismus auf das deutsche Privatrechtsdenken
Untertitel
Von der Begriffs- zur Interessenjurisprudenz
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
14
Autor
Jahr
2022
Seiten
37
Katalognummer
V1240000
ISBN (eBook)
9783346662880
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jura, Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Recht, Gerechtigkeit, Recht im Wandel der Zeit
Arbeit zitieren
Maximilian Wöhler (Autor:in), 2022, Der Einfluss des Rechtnaturalismus auf das deutsche Privatrechtsdenken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1240000

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