Produktive Rezeption und dekonstruktive Produktion

Der Film: Jonatan Briel's Lenz – Eine deutsche Physiognomik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Verschmelzung von Dokumentation und Fiktion im Genre Essayfilm

2. Die produktive Rezeption von Jonatan Brie
2.1 Dem Geiste des Künstlers nachgespürt: Vom sozialen Drama zum Essayfilm
2.2 Eine deutsche Physiognomik durch formatfüllende Gesichtsportraits
2.3 Der Film JONATAN BRIEL’S LENZ in Relation zu historischen Begebenheiten und biographischen Aspekten von J. M. R. Lenz sowie den literarischen Grundlagetexten
2.3.1 Die Umsetzung biographischer Aspekte der historischen Figur Jacob Michael Reinhold Lenz in den Film
2.3.2 Der Aufenthalt im Hause des Pfarrers Oberlin im Steintal
2.4 Georg Büchners Lenz-Novelle und Jonatan Briels Lenz-Film – ein Vergleich

3. Die Visualisierung Lenzens Schizophrenie durch die Filmsprache in Jonatan Briel’s Lenz
3.1 Kamera, Schnitt und Montage als Zerspaltungstechnik
3.2 Derealisationsphänomene auf der Ebene der Mise en scène
3.3 Raum und Zeit

4. Resümee der Ausarbeitung und Reflexion über den Film

5. Literatur- und Medienverzeichnis

1. Die Verschmelzung von Dokumentation und Fiktion im Genre Essayfilm

Da beide Elemente – Dokumentation und Fiktion gleichermaßen – in dem Essayfilm JONATAN BRIEL’S LENZ – EINE DEUTSCHE PHYSIOGNOMIK verschmelzen, werde ich in vorliegender Arbeit versuchen, die Intentionen des Regisseurs Jonatan Briel, die für die Produktion seines Films ausschlaggebend waren, zu rekonstruieren, indem ich den Film in die Kategorien literarische Grundlagentexte, Umformung/Neuformung durch den Regisseur sowie historische respektive biographische Begebenheiten aufgliedere und somit von dem Gesamtzusammenhang isoliere. Dies geschieht im 2. Kapitel aus der subjektorientierten Perspektive, die vornehmlich dazu dient, die potentiellen Intentionen des Regisseurs während des Produktionsprozesses des Films zu eruieren. Dieses Ziel weiterverfolgend, werde ich unter Punkt 2.1 eine Parallele von der Konzeption des sozialen Dramas Jacob Michael Reinhold Lenz’ zu der Struktur des Essayfilms von Briel ziehen, ohne freilich damit eine Gleichrangigkeit oder Gleichsetzung beider Künstlerpersönlichkeiten in ihrem konzeptionellen Vorhaben implizieren zu wollen.1 Dies soll lediglich basale Ähnlichkeitsstrukturen in ihrer abstrakten Form aufzeigen, um zu einem besseren Verständnis des Films zu gelangen. In 2.2 werde ich den Terminus Physiognomik des Filmtitels herausgreifen, um die Bedeutung eines wesentlich in den Film integrierten Stilmittels – der Vielzahl an Gesichterportraits in der Großaufnahme – zu erschließen. Unter Punkt 2.3 stelle ich tabellarisch dar, inwieweit sich Briel an biographisch überlieferte Begebenheiten der historischen Figur J. M. R. Lenz orientiert hat, um bestimmte Themen, Motive sowie „Handlungen- und Figuren mit bestimmtem Ideengehalt“2 in den Film einzubauen. Die Kongruenz zwischen derartigen Bestandteilen, die sowohl in der filmischen Inszenierung als auch in der Biographie des Sturm- und Drangdichters Lenz auftauchen, konnte anhand von Sigrid Damms Lenz-Biographie „Vögel, die verkünden Land“ (1992) überprüft werden. Im Anschluss an diesen an der Lenz-Biographie ausgerichteten Abgleich werde ich in Punkt 2.3.2 den Fokus auf Lenzens Aufenthalt bei Pfarrer Oberlin in Waldersbach legen, wobei ich mich auf die wichtigsten Ereignisse konzentriere und dem Film die literarischen Grundlagetexte – Oberlins Bericht und Büchners Lenz-Novelle – tabellarisch gegenüberstelle. Die Parallelisierung zwischen der Novelle von Büchner und dem Film von Briel wird in 2.4 intensiviert, indem ich formelle und strukturelle Elemente der Novelle mit solchen des Films in Bezug setze. Im 3. Kapitel verlagert sich schließlich der Schwerpunkt vom subjekt- zum objektorientierten Ansatz.

Es wird demnach nicht mehr primär vom Regisseur, sondern vom Filmtext ausgegangen3, wobei ich die ästhetischen Stilmittel herausdestilliere, mittels derer Briel die Schizophrenie der Lenz- Figur visuell und akustisch in die Sprache des Films transponiert. In diesem Kontext darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass der weitere Krankheitsverlauf und Identitätsverlust Lenzens von der Vorlage Oberlins abweicht und somit auf einer Eigenleistung Büchners beruht.4 Aus diesem Grund scheint es mir unabdingbar, die Novelle von Büchner, sofern nötig, in den Sinnzusammenhang einzubeziehen und bei Bedarf auch literarische Werke von J. M. R. Lenz für die Interpretation heranzuziehen.

2. Die produktive Rezeption von Jonatan Briel

Der Bereich der ‚produktiven Rezeption’ umfaßt den gesamten von Rezeption entweder veranlaßten oder stark beeinflußten Produktionsprozeß eines Werkes. Naturgemäß überwiegt in diesem Bereich, bei Betonung der Aktivität des ‚handelnden’ Subjekts, der produktions- gegenüber dem rezeptionsästhetischen Aspekt, da die Rezeption hier eindeutig im Dienst der Produktion steht und als eines ihrer Mittel unter anderen fungiert [...].5

Im Gegensatz zu dem Film LENZ von George Moorse (1971) wird in JONATAN BRIEL’S LENZ – EINE DEUTSCHE PHYSIOGNOMIK aus demselben Jahr nicht explizit im Vorspann auf die Lenz - Novelle von Georg Büchner verwiesen. Stattdessen visualisiert Briel seine Lenz-Figur noch vor Beginn der filmischen Handlung, im Vorspann, als Zeichner [00:00:31 - 00:00:48], was meiner Meinung nach mit der Intention des historischen Jacob Michael Reinhold Lenz, mittels einer „realistischen Ästhetik, die nutzbar gemacht werden müsse für die Darstellung sozialer Realität und deren kritischer Hinterfragung“6, ‘ein Gemälde der menschlichen Gesellschaft zu geben’7, korreliert.

Der gleichzeitig eingeblendete Filmtitel JONATAN BRIEL’S LENZ – EINE DEUTSCHE PHYSIOGNOMIK betont die Eigenständigkeit des filmischen Werkes des Autor-Regisseurs Briel gegenüber der Büchnerschen Vorlage, die, wenn auch nicht explizit als „Bedeutungselement“8 eingeführt, so doch implizit – nämlich durch deren intensive Rezeption – die Produktion des Films, initiiert oder zumindest stark beeinflusst hat. Auf diese These kann vermöge der Äußerung Briels in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung, in dem er sagt: „Lenz hat auf mich durch das Medium ‘Büchner’ gewirkt“9, geschlossen werden. An dieser Stelle muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass diese Wirkung Büchners auf Briels Film nicht im Sinne einer „kausalmechanischen“10 zu verstehen ist. Vielmehr hat sich der Regisseur über die Rezeption der Novelle hinaus intensiv mit Leben und Werk des Sturm- und Drangdichters Lenz befasst und lediglich „inhaltliche Teilmomente der Vorlagetexte“11 Büchners und Oberlins in den Film eingeflochten und manchmal auch umgedeutet.

Briel kehrt sich bewusst von dem pejorativ gezeichneten Lenz-Portrait Goethes in Dichtung und Wahrheit ab, ergreift Partei für Lenz, versucht Erklärungen zu finden, indem er sich nicht nur der Biographie und den Werken der historischen Figur Jacob Michael Reinhold Lenz sowie der Novelle Lenz von Georg Büchner zuwendet, sondern sich auch „transtextuell der Gestalt des Autors, [seiner] Lebenshaltung und Persönlichkeitsentwicklung“12 nähert. Dies versucht er zu bewerkstelligen, indem er Dokumente aus der deutschen Geschichte und individuelle Meinungen und Lebensläufe seiner Zeitgenossen in den Film integriert.

2.1 Dem Geiste des Künstlers nachgespürt: Vom sozialen Drama zum Essayfilm

Wie Lenz stammt auch Briel aus einer Generation, die darauf drängt, sich ‚der großen Zeitfragen [zu] bemächtigen.’13 Sie beide – Lenz und Briel – versuchen, eine Ausdrucksform zu finden, mittels derer sie ihre „politischen, sozialen und ästhetischen Interessen“14 artikulieren können. Lenz findet sie in der Form des sozialen Dramas – den Tragikkomödien, die aufrütteln, Fragen aufwerfen anstatt Identifikationsmöglichkeiten anzubieten15 und Briel sieht seine Chance in den Darstellungsmitteln Kamera und Film, deren Form er gleichsam durch eine explizit herausgestellte individuelle, ja autonome Urheberschaft als Autor-Regisseur in der Nachfolge der Nouvelle Vague und des Neuen Deutschen Films zu sprengen beabsichtigt. Er findet zu einer hybriden, intermedialen Form, die sich durch strukturelle Offenheit auszeichnet und stellt sich somit gegen die Maxime und Konventionen des standardisierten, homogenisierten deutschen Heimatfilms, der eine Idealisierung der Wirklichkeit erreicht, indem er die Natur in ihrer Schönheit inszeniert und somit Eskapismus statt Realismus propagiert. Mimesis – das ist für Lenz und auch für Briel „die empirisch wahrnehmbare Außenwelt“16, die real existiert und nicht subjektiv konstruiert oder gar idealisiert ist. Briel bekennt sich mit seinem Film, wie Lenz mit seinen Dramen, zu einem Individualismus, den er mit programmatischen Aspekten des Sturm- und-Drang-Autors Lenz, dem Genie, das jedoch an der deutschen Gesellschaft und an seinem Zeitgenossen und Dichterkollegen Goethe scheitert, parallelisiert. „Warum hat Goethe Lenz verlassen?“ fragt sich der Regisseur, der sich selbst als authentische Person in den Film einbaut und artikuliert die Intention des Films mit den Worten „Ich glaube, dass wir heute herausfinden können, warum Goethe so gehandelt hat, wie er gehandelt hat und warum Lenz, dieser Jacob Reinhold Michael Lenz [!], warum dieser Lenz gescheitert ist an der deutschen Gesellschaft“ [00:03:40 - 00:05:06]. Fast könnte man Briel das Postulat Lenzens ‚Der Geist des Künstlers wiegt mehr als das Werk seiner Kunst’17 in den Mund legen, denn auch Briel passt die Form des Films seinem inhaltlichen Anliegen an.18 Bedient sich Lenz primär des Reproduktionsmittels Sprache, die er in seinen Anmerkungen übers Theater mit technischen Begriffen ausstattet – von „ camera obscura“19 und „Projektionstafel“20 ist die Rede – so stehen Briel 1971 quantitativ wesentlich mehr Mittel in Form von Aufzeichnungs- und Dokumentationsmedien wie Zeichnungen, Fotografien, Interviews, Originaltöne und natürlich Filmaufnahmen zur Verfügung, deren Einsatz im Produktionsprozess des Films nicht kaschiert, sondern im Gegenteil exhibitionistisch zur Schau gestellt wird. Briel bedient sich dieses Brechtschen Verfremdungseffektes, um explizit auf den Konstruktionscharakter seines Films zu verweisen und somit jeglicher Illusion und Identifikation während des Rezeptionsprozesses entgegenzuwirken. Das Ziel dieser empirischen Annäherung an die Realität, die Lenz seiner Zeit der Genialität des ‚poetischen Genies’21

zuschrieb, basiert auf einer „reflektierte[n] Distanzierung und somit kritische[n] Bewußtmachung“22 und ist ein Weg, um zu der Wahrheit zu gelangen: „Theater machen ist Lüge und Lüge hasse ich. Das Edelste ist die Wahrheit, reine Wahrheit, was es auch sei – selbst wenn es weh tut.“ [01:10:14 - 01:10:27] sagt eine der Akteurinnen namens Heide, die die „Rolle“ der Seherin spielt, im Film.

Ähnlich wie die Dramen von Lenz, ist auch der Film über Lenz, oder besser im Geiste von Lenz, Briels gesellschaftspolitischer Abriss, in seiner offenen, montierten Form und mit seinem Fingerzeig auf die „noch immer ›offene‹ Frage dieser Jahrzehnte: die ›soziale Frage‹“23, ein „Angriff auf den gesellschaftlichen Status quo“24 innerhalb Deutschlands. In der Nachfolge von Lenz nimmt der Regisseur eine beobachtende, registrierende Position ein. Als Bühne dienen ihm real existierende Schauplätze; die Mitwirkenden25 werden aus ihren Rollen herauskatapultiert, ihre gesellschaftliche Position in der sozialen Wirklichkeit, ihre „physische, psychische und soziale Existenz“26, die sich außerhalb des Filmes abspielt, wird in den Plot integriert.

Die Dominanz der Beobachtung und des Registrierens menschlicher Verhaltens- und Sprechweisen sowie die genaue Beschreibung der Lebensräume und des Milieus dienen der Erfassung der Psyche des Menschen. Das äußerlich wahrnehmbare Verhalten ist Symptom der inneren Verfassung und erlaubt daher Rückschlüsse auf die psychische Disposition.27

Die Fokussierung des menschlichen Individuums zieht bei Lenz eine Revolutionierung der Sprache nach sich, denn die Sprache als identitätsstiftendes Merkmal konnte nur in ihrer natürlichen, ungekünstelten Form - der Sprache des Alltags, der Volks- und Umgangssprache, die situationsbedingt entsteht mit ihrer grammatischen Inkorrektheit, Unvollständigkeit, ihren Selbstkorrekturen, Redundanzen, Redepausen, Versprechern oder gar dem Abbruch des Redeflusses - zur Charakterisierung und Individualisierung der dargestellten Figuren beitragen28 und „zum Ausdruck ihrer sozialen und psychischen Disposition werden.“29 Jegliche Bewusstseinserweiterung der Figuren, etwas durch den Autor, würde dem angestrebten Verismus des Dramas entgegenwirken.

Ausgehend von seinem Verständnis des Autors als ‚Beobachter’ ist Lenz bemüht, die Personen auf der Bühne in ihrer sinnlichen Erscheinung präsent werden zu lassen. Ihre Sprache, ihr Sprechen, ihr Verstummen, ihre Sprachlosigkeit, ihre Physiognomie, ihre Verhaltens- und Reaktionsweisen, ihre Gestik und ihre Mimik sollen Aufschluß geben über ihre physische, psychische und gesellschaftliche Existenz.30

Eine Bewusstseinserweiterung der Figuren wird nicht angestrebt, nicht einmal durch den Autor; dies hätte eine kontraproduktive Auswirkung auf den Verismus des Dramas.31 Lenz preist die Mimik eines Menschen als veritable Sprache. In der Mimik eines Menschen sei seine Seele zu erkennen.32 „Gestische Rede“33 und „stumme Mimik“34 fungieren derweilen als Substitut von Sprache.

Dies sind exakt dieselben Stilmittel, die in Briels Lenz-Film wiederzufinden sind. Auch Briel suggeriert eine Gleichzeitigkeit von Entstehungszeitpunkt der Formulierungen und deren Aufzeichnung, die, aus dem Stegreif gesprochen, nicht der Korrektur des Regisseurs unterlagen. In Wirklichkeit jedoch emanzipiert sich die Sprache oder der Ton von seiner konventionellen Funktion, eine verdoppelnde Entsprechung der Bilder zu sein, denn der Film wurde zunächst stumm gedreht und später nachsynchronisiert35. Jede geringfügigste Bewegung, jegliche Veränderung der Mimik, jedes Zucken und Augenzwinkern wird durch die Kamera registriert und zur Erscheinung gebracht. Dabei deckt sich auch bei Briel nicht der Wissens- und Bewusstseinshorizont der dargestellten Personen im Film mit dem des Regisseurs.36 Die Bewusstseinsbeschränkung der Protagonisten ist auch bei Briel durch Sprachlosigkeit oder stummer Mimik, beziehungsweise Gestik der Figuren37 evident, wenn im Bild Großaufnahmen von Gesichtern diverser Personen, die direkt in die Kamera blicken, zu sehen sind, während die Redebeiträge aus dem Off kommen.

Eine Szene zeigt den Melker Harald Müller bei der Verrichtung seiner alltäglichen Arbeit [00:02:29 - 00:03:39], während derer er zum Ausdruck bringt, dass er das Drehbuch des Films nicht kennt. Des Weiteren zeichnet sich nicht nur sein Redebeitrag, sondern ein Großteil der anderen in den Film integrierten Redebeiträge durch permanente Redundanzen, (stilisierten und teilweise ausgestellten) Dialekt sowie grammatische und stilistische Mängel aus, die bewusst nicht herausgeschnitten oder nachsynchronisiert wurden. Möglicherweise will Briel mit dieser Authentisierung der Sprache die soziale Stellung der Sprecher oder im Falle der Studenten, die ihre Kommentare mit „unbeholfenen Bildungsphrasen“38 spicken, deren „geistigen Habitus“39 herausstellen.

Der Raum erfährt in den sozialen Dramen von Lenz, in denen nicht die Herausbildung von Charakteren, sondern die identitätsstiftenden, widernatürlichen und somit verformenden Faktoren der menschlichen Um- und Außenwelt widergespiegelt werden sollen, eine Aufwertung: er ist nunmehr nicht lediglich Beiwerk der Kulisse, sondern Determinante des sozialen, alltäglichen Milieus des Menschen.40 „Der Zuschauer ist durch die Konkretheit des Raumes sogleich über die dargestellten Personen informiert.“41 Der Aspekt des Raumes ist auch in dem Film von Briel nicht unbedeutend. Er wird aus diesem Grund in vorliegender Ausarbeitung gesondert unter Punkt 3.3 behandelt.

2.2 Eine deutsche Physiognomik durch formatfüllende Gesichtsportraits

Die feste Gestalt und Bildung des Körpers, primär die Beschaffenheit des Gesichtes, so lautet die These von Anhängern der Physiognomik, fungiere als „untrügliches Zeichen für den Charakter eines Menschen.“42 Den Grundstein für diese Annahme bilden die Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775-1787) von Johann Caspar Lavater, der die Physiognomik als Wissenschaft etablieren wollte.

Die Motivation, mittels Physiognomik zu Erkenntnissen über charakteristische Eigenschaften eines Menschen zu gelangen, divergierte im Laufe der Zeit, so dass man heute sechs Themen voneinander differenzieren kann, die der Anwendung des physiognomischen Instrumentariums zu seiner Popularität verhalf:

„die ‚Entdeckung’ des Individuums, die Erforschung fremder Völker in und seit der Renaissance; die Psychologisierung des menschlichen Umgangs im höfischen Klima; die Emphase der Anthropologie im 18. Jahrhundert; die Entdeckung der Fotografie und ihre wissenschaftliche Nutzung im 19. und schließlich die rassistische Perspektive im 20. Jahrhundert. Hinzuzufügen wäre, worauf wohl als erster Georg Simmel aufmerksam gemacht hat: die Rolle physiognomischer Information im Zeitalter der Großstädte mit ihren vielen fremden und schweigenden, wenn auch nicht sprachlosen Gesichtern.“43

Jonatan Briel stellt seinen Film, der bezeichnenderweise den Untertitel „Eine deutsche Physiognomik“ trägt, in den Kontext physiognomischer Spurensuche nach dem wahren Charakter der Deutschen, wenn er, in der Nachfolge Lavaters, auf Zeichnungen, Gemälden, Fotos oder mit der Kamera festgehaltene Aufnahmen von Gesichtsportraits in den Film einbaut. Auf diese Art und Weise entsteht eine Art Enzyklopädie der verschiedensten Gesichter aus unterschiedlichen Zeiten, die mittels Montage in Bezug zueinander gesetzt werden. Einige der Zeichnungen, primär diejenigen, auf denen Bauersleute zu sehen sind, sollen eventuell jene Zeichnungen imaginieren, die Lenz an Goethe schickte, als er die Sommermonate über in Berka verweilte. Möglicherweise hat Lenz seine Faszination über den Ausdruck in den Bauerngesichtern44 nicht nur sprachlich, sondern auch graphisch festgehalten. Immerhin ist das Zeichnen ein zweites Talent von Lenz, das er bis an sein Lebensende betrieben hat.45

Mit dem Einmontieren eines älteren Mediums, der Fotografie in ein neueres, den Film, möchte Briel eventuell darauf verweisen, dass man mit der Erfindung der Fotographie als technisches Bildspeicherungsmedium noch genauer und objektiver, Gesichter und Gesichtsausdrücke über die Zeit hinaus festhalten, archivieren, vergleichen, erfassen und klassifizieren kann.

[...]


1 Um der Thematik Unmittelbarkeit zu verleihen, wird in vorliegender Arbeit vorzugsweise das Präsens verwendet, auch wenn eine Parallele zu der historischen Figur J. M. R. Lenz gezogen wird.

2 Vgl. Grimm (1977), S. 148.

3 Vgl. Grimm (1977), S. 149.

4 Vgl. Menke (1994), S. 29.

5 Grimm (1977), S. 147.

6 Becker (1993), S. 38.

7 Becker (1993), zit. n. Lenz: Rezension des Neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt, in: ders: Werke u. Briefe in drei Bänden. Hrsg. v. Sigrid Damm, München/Wien 1987, Bd. 2, S. 699-704, S. 703.

8 Kanzog (1984), S. 78.

9 Vgl. Nellissen (1971), in: Stuttgarter Zeitung, 16. April 1971.

10 Vgl. Grimm (1977), S. 148.

11 Grimm (1977), S. 148.

12 Ebd.

13 Becker (1993), S. 38, zit. n. Bleibtreu (1886), Revolution der Literatur, in: Johannes J. Braakenburg (Hg.) (1973), Tübingen, S. 13.

14 Becker (1993), S. 38.

15 Vgl. Damm (1992), S. 99.

16 Becker (1993), S. 43.

17 Becker (1993), S. 39, zit. n. Wilhelm Arent (Hg.) (1885), Moderne Dichter-Charaktere, Berlin, S. 1.

18 Vgl. Becker (1993), S. 39.

19 Lenz (2001), Anmerkungen übers Theater, S. 15.

20 Ebd.

21 Becker (1993), S. 45, zit. n. Lenz, Anmerkungen übers Theater, S. 648.

22 Becker (1993), S. 46.

23 Ebd.

24 Ebd.

25 Mit dem Terminus „Mitwirkende“ oder „Darsteller“ sind sowohl die Schauspieler der historischen Rollen als auch alle interviewten oder Redebeiträge beisteuernde Personen gemeint.

26 Becker (1993), S. 46.

27 Ebd.

28 Vgl. Becker (1993), S. 48-50.

29 Becker (1993), S. 51.

30 Ebd., S. 46.

31 Vgl. Becker (1993), S. 51.

32 Vgl. Becker (1993), S. 52.Verweis auf Lenz: Das Tagebuch. In: Ders.: Werke u. Briefe, Bd. 2, S. 289-329, S. 304. Vgl. auch hierzu den Monolog des Alchemisten Cornelius Agrippa von Nettesheim im Film [00:17:22-00:18:09].

33 Becker (1993), S. 51.

34 Ebd.

35 Vgl. Monika Nellissen, Der doppelte Lenz, in: Stuttgarter Zeitung vom 16.4.1971.

36 Vgl. Becker (1993), S. 51.

37 Ebd.

38 Elm (2004), S. 174.

39 Ebd.

40 Vgl. Becker (1993), S. 53 und S. 55.

41 Becker (1993), S. 55.

42 Fischer-Lichte (1999), S. 148-149.

43 Schmölders (1997), S. 54-55.

44 Vgl. Damm (1992), S. 232-235.

45 Vgl. Kaufmann (1994), S. 162.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Produktive Rezeption und dekonstruktive Produktion
Untertitel
Der Film: Jonatan Briel's Lenz – Eine deutsche Physiognomik
Hochschule
Universität Mannheim  (Seminar für deutsche Philologie. Neuere Germanistik I: Neuere deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Produktive Rezeption im Film, im Hörspiel und in der Oper
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
34
Katalognummer
V124025
ISBN (eBook)
9783640292677
ISBN (Buch)
9783640292844
Dateigröße
2171 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Produktive, Rezeption, Produktion, Produktive, Rezeption, Film, Hörspiel, Oper
Arbeit zitieren
B.A. Arwen Haase (Autor:in), 2006, Produktive Rezeption und dekonstruktive Produktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124025

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