Jenseits der Aura. Brechts und Eisensteins Theorien zu Film und Theater im Vergleich


Hausarbeit, 2001

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

Abstract

I. Einleitung

II. Die Verschüttung der Orchestra

III. Formkonzepte
III. 1. Eisensteins Attraktionsmontage
III. 2. Brechts »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters

IV. Exkurs: Eisenstein und die Revolution

V. Die Fundamente der Kunst bei Brecht und Eisenstein

VI. Schlussfolgerungen

Literaturverzeichnis

Abstract

In the beginning of the Ninteen-twenties both Eisenstein and Brecht proclaim the neccessity of a new form of theatre. These demands appear as the result of a proc- ess setting in with the inventions of photography and film and, refering to Benjamin, finally led to the death of the bourgeois theatre. The institutions Brecht and Eisen- stein conceptualize in their theoretical writings seem to have a similar outward ap- pearance, since both, Brecht’s »theatre of the scientific age« and Eisenstein’s Prolet- kult-works as well as his silent movies, are characterized by a technical usage of the- atrical elements and construction of images. Nevertheless these are superficial affini- ties, being unable to conceal the deep differences in the fundamentals of Brecht’s and Eisenstein’s works. While Brecht attributes his theatre to a social and political function there are no convincing clues in Eisenstein’s writings and life revealing any purpose he creates his films for beyond personal gratification. So even if similar ten- dencies in Eisenstein’s and Brecht’s works cannot be denied, it is also a matter of fact, that any congruences between their aesthetic instruments rather trace back to their common claim of creating something completely new than to similar theoretical developments of the choosen aestehtic forms.

I. Einleitung

Das Œuvre Sergej Eisensteins steht demjenigen Bertolt Brechts merkwürdig isoliert gegenüber. Zugegeben – Brecht und Eisenstein haben einander kaum gekannt (sie sind sich nur einmal, 1932 im Zug Berlin-Moskau begegnet und empfanden wenig Sympathie füreinander), sie standen nicht im Briefwechsel und diskutierten ihre Ideen vor einer völlig anderen Öffentlichkeit. Zudem gibt es wenig Querverbindungen zwi- schen der Berliner und der Moskauer Avantgarde der zwanziger Jahre und noch we- niger zwischen den film- und theatertheoretischen Diskursen jener Epoche. Diese Rahmenbedingungen erschweren es, einen Blickwinkel zu finden, der sowohl Brechts als auch Eisensteins Ideen erfasst und ihnen gleichermaßen gerecht wird.

Roland Barthes und Hans-Christian von Herrmann sind meines Wissens die einzi- gen, die, freilich unter völlig verschiedenen Voraussetzungen, den Versuch eines Vergleichs unternommen haben, wobei Barthes eine Phänomenologie des inszenier- ten Bildes schreibt1 und Hermann den Weg nachzeichnet, der Brecht und Eisenstein zu ihren medienästhetischen Neuerungen führt.2 Beide Untersuchungen leisten Pio- nierarbeit, da sie Schranken zwischen Film- und Theaterwissenschaft durchbrechen. Aber indem sie nur das Erscheinungsbild des Eisensteinschen Films und des Brecht- schen Theater beleuchten, suggerieren sie auch Übereinstimmungen oder zumindest Ähnlichkeiten, die meines Erachtens die gewaltigen Unterschiede verwischen, die im Anspruch und in der Zielstellung der Theorien Brechts und Eisensteins wurzeln. Mit dieser Arbeit will ich ausgehend von der historischen Situation der intermedialen äs- thetischen Neuorientierung zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zunächst über- prüfen, inwieweit die formalen Konzeptionen Eisensteins und Brechts vergleichbar sind, um dann meinen Blick auf die Zielstellungen zu lenken, welche diesen zuge- ordnet wird. Ich kann dabei nicht auf die Feinheiten eingehen, die beispielsweise Brechts Lehrstück vom epischen Theater oder Eisensteins Montagekategorien je- weils voneinander unterscheiden, da dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen wür- de. Es geht mir lediglich um Tendenzen, Haltungen und Herangehensweisen, die für die Gesamterscheinungen Eisensteins und Brechts paradigmatischen Charakter er-langt haben. Besonders bei Brecht, dessen Werk von der Wissenschaft bisher weit- aus gründlicher beleuchtet wurde als dasjenige Eisensteins, bin ich gezwungen, zu- gunsten eines besseren Verständnis’ des Phänomens Sergej Eisenstein Vieles vor- auszusetzen.

II. Die Verschüttung der Orchestra

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wird von der europäischen Avantgarde ein Bruch mit teilweise jahrhundertealten ästhetischen Traditionen und Konzepten vollzogen. Herausgefordert durch die medientechnischen Errungenschaften des 19. Jahrhun- derts – die Fotografie und den Film – aber auch durch die Dekonstruktion des ganz- heitlichen Menschenbildes als Folge von Psychoanalyse und modernen Naturwis- senschaften, werden bildende Künste und Literatur gezwungen, sich nicht nur hin- sichtlich ihrer Erscheinungsformen, sondern vor allem in Bezug auf ihre Funktion neu zu positionieren. Die aus diesem Zwang resultierenden ästhetischen Konzeptionen driften oft weit auseinander und sind doch gleichermaßen auf der Suche nach dem Zeitgemäßen – wenn allerdings überhaupt so etwas wie ein epochales Merkmal fest- zustellen ist, so ist es in der Nachdrücklichkeit zu finden, mit der sie sich jeweils von- einander, vor allem aber von althergebrachten Formen distanzieren.

Auch bei Brecht und Eisenstein wird die Abgrenzung zum sinnstiftenden Prinzip. Lange bevor beide ihre ausgeklügelten Systeme im Detail entwerfen, ihre spezifische Theater- bzw. Filmtheorien darlegen, wissen sie, was Theater (Film) auf jeden Fall nicht ist. Für eine Gegenüberstellung Brechts und Eisensteins ist es äußerst hilfreich, dass der junge Eisenstein ebenfalls vom Theater kommt. Seine erste wichtige Pro- grammschrift, »Die Montage der Attraktionen« (1923) stammt aus seiner Zeit am Ersten Moskauer Arbeitertheater des Proletkult. Und bereits im ersten Satz dieses Postulates distanziert sich Eisenstein:

Kurz gesagt: Das Theater-Programm des Proletkult besteht nicht [Hervorhebung DR] in der »Verwendung von Werten der Vergangenheit«, oder in der »Erfindung neuer For- men des Theaters« – sondern in der Abschaffung der Institution Theater als solcher, die durch ein beispielgebendes Schaulaboratorium zu ersetzen ist, welches die Errun- genschaften hinsichtlich einer Anhebung der Qualifikation der Massen bezüglich ihrer Wappnung für den Alltag demonstriert.3

Auch Brechts Theorie belebt sich in wesentlichen Teilen durch Abgrenzungen. Er spricht von einer »nichtaristotelische[n] Dramatik«4 und konzipiert seinen Bühnenrea- lismus als Gegenentwurf zum Naturalismus.5 Und schon während seiner Augsburger Zeit als Theaterkritiker greift er den herkömmlichen Theaterbetrieb an (»Das Theater wird langsam zu einem Puff für die Befriedigung von Huren«6 ), bis er 1926 schließ- lich feststellt: »Aber im ganzen ist das Theater so tot, als es nur sein kann.«7 Eisen- stein und Brecht errichten ihre Theoriegebäude gleichermaßen auf den Trümmern des Alten und Tradierten, wenngleich an dieser Stelle die Frage berechtigt ist, ob sie dies konnten, weil die radikalen Umwälzungen ihrer Zeit ihren Blick auf das Vergan- gene gewissermaßen historisiert hatten, oder ob sie dies mussten, weil das überlie- ferte Theater tatsächlich und unwiderruflich an einem toten Punkt in seiner Entwick- lung angelangt war

1931 schreibt Walter Benjamin: »Worum es heute im Theater geht, läßt sich ge- nauer mit Beziehung auf die Bühne als auf das Drama bestimmen. Es geht um die Verschüttung der Orchestra.«8 Die Orchestra, jenes Halbrund des antiken Amphithe- aters, das die Zuschauertribünen von der Spielfläche trennt, steht hier symbolisch für den Abstand zum Zuschauer, hinter dem die abendländische Theateraufführung von Aischylos bis zum bürgerlichen Trauerspiel der Neuzeit ihren Gegenstand ausstellt. Doch ist dieser Abstand, so sehr sich seine Bedeutung im Laufe der Zeit auch wan- delt, stets mit Bedeutung aufgeladen, ist keine Zone der Neutralität, sondern ange- füllt mit Kräften des Rituals, der Magie und der Illusion. In der attischen Tragödie ist es der tragische Chor, der in der Orchestra Aufstellung nimmt. Für Nietzsche ist die- ser das konstituierende Element der Tragödie:

Die Szene samt der Aktion [wurde] im Grunde und ursprünglich nur als Vision gedacht […], die einzige »Realität« [ist] eben der Chor […], der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet.9

Wenngleich der Chor bereits während der griechischen Klassik erheblich an Bedeu- tung eingebüßt hat, ist er in seiner projizierenden Funktion dennoch im Theater na- hezu aller späteren Epochen spürbar geblieben, und zwar durch die ständige Prä- senz seiner ursprünglichen Spielfläche, der Orchestra. Sie ist »der Abgrund, der die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, dessen Schwei- gen im Schauspiel die Erhabenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, der unter allen Elementen der Bühne die Spuren ihres sakralen Ursprungs am

[...]


1 Barthes, Diderot, Brecht, Eisenstein, in: ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Es- says III, Frankfurt am Main 1990, 94-102.

2 Herrmann, Eine Anordnung von Schlagbolzen. Brechts und Eisensteins ästhetische Arsenale, in: Bulgakowa (Hg.), Eisenstein und Deutschland. Texte, Dokumente, Briefe, Berlin 1998, 157-164.

3 Eisenstein, Montage der Attraktionen, DQ 10.

4 Brecht, Nichtaristotelische Dramatik und wissenschaftliche Betrachtungsweise, Werke, Bd. 22, 168f.

5 Vgl. Knopf, Anti-Naturalismus, in: ders., Brecht-Handbuch Theater, Stuttgart 1980, 386.

6 Brecht, Über die Zukunft des Theaters, Werke, Bd. 21, 99.

7 Brecht, Das Theater ist tot, Werke, Bd. 21, 133.

8 Benjamin, Was ist das epische Theater? (1). Eine Studie zu Brecht, in: ders., Versuche über Brecht, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1971, 17.

9 Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Frankfurt am Main 1987, 72.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Jenseits der Aura. Brechts und Eisensteins Theorien zu Film und Theater im Vergleich
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Fakultät für Kulturwissenschaften)
Veranstaltung
Der frühe sowjetische Film: Sergej Eisenstein
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
28
Katalognummer
V12404
ISBN (eBook)
9783638182942
ISBN (Buch)
9783656760047
Dateigröße
604 KB
Sprache
Deutsch
Arbeit zitieren
Daniel Reichelt (Autor:in), 2001, Jenseits der Aura. Brechts und Eisensteins Theorien zu Film und Theater im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12404

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