Die Landwirtschaft der Türkei. Entwicklung und historische Hintergründe


Hausarbeit (Hauptseminar), 1998

27 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Die Landwirtschaft der Türkei

o. Vorwort

Nur wer die Geschichte eines Landes kennt, kann das Land selber kennen. Dieser historiographische Grundsatz ist auch bei einer geographischen Betrachtung einsetzbar, nur muss er hier etwas erweitert werden: Nicht nur die Geschichte ist hier wichtig, auch andere Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden. Die geologische, geomorphologische und klimatische Entwicklung ist genauso wichtig wie die historische und kulturelle Vorgeschichte des zu betrachtenden Landes.

Im Falle der Türkei ist eine solche differenzierte historisch-geographische Sicht besonders sinnvoll, treffen doch hier 8000 Jahre menschliche Kulturgeschichte, eine komplizierte geologische und geomorphologische Struktur und mehrere klimatische Einheiten auf engstem Raum zusammen.

Diese Arbeit wird deshalb zunächst einmal auf die oben angesprochenen Rahmenbedingungen eingehen, bevor das eigentliche Thema, die Agrargeographie der Türkei, anhand der Themenbereiche Binnenkolonisation, Bodenreformen und Bewässerung behandelt wird.

Dabei wird sich die Frage nach der Rolle der Türkei in Europa stellen: Ist die Türkei aufgrund ihrer wirtschaftlichen Struktur und Entwicklung ein europäisches Land ? Oder ist sie doch den vorderasiatischen (Entwicklungs-) Ländern zuzurechnen, die ja bis 1918/19 Teil des osmanischen Reiches waren ?

Nach der Ablehnung des türkischen Beitrittsgesuches durch die EU und die Angriffe des türkischen Ministerpräsidenten vor allem gegen Deutschland haben diese Fragen in jüngster Zeit eine Aktualität erfahren, wie sie vor wenigen Jahren nicht vorstellbar war. Ihre Beantwortung allein mit agrargeographischen Argumenten kann zwar keine Allgemeingültigkeit erheben, aber eine wichtige Facette zum Gesamtbild der Türkei beitragen.

1. Rahmenbedingungen

1.1. Geologie und Tektonik

Das Landschaftsbild der Türkei ist entscheidend von der geologischen Entwicklung geprägt.[1] Die zerklüftete Ägäisküste ist ebenso eine Folge davon wie die Beckenlandschaften, die die ganze kleinasiatische Halbinsel prägen, und die gebirgigen und von Erdbeben heimgesuchten Landschaften Ostanatoliens.

Kleinasien ist ein Mikrokontinent, der wie die iberische, die adriatische und andere Kleinplatten zwischen den Grossplatten Afrika und Eurasien eingeklemmt wurde. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang schon im Paläozoikum (vor 580-248 Millionen Jahren).

Die Ausgangssituation war gekennzeichnet von drei geotektonischen Grosseinheiten: Das sogenannte Pontische Land im Norden, ein Kraton, das an der Stelle des heutigen Schwarzen Meeres lag[2] und nach Westen und Osten auf die heutigen Festländer übergriff, der Afrikanisch-arabische Schild im Süden und die Geosynklinale der Tethys dazwischen. In der Tethys lagen einige Blöcke, die schon konsolidiert waren, wie das Menderes-Massiv, das Kirşehir-Massiv, das Bitlis-Massiv und andere hochmetamorphisierte Massive vor allem im heutigen Thrakien und Westanatolien.

Diese Massive wurden aber erst während der variskischen und alpidischen Gebirgsbildungsphasen zusammengefügt. Das Kirşehir-Massiv in Zentralanatolien markiert ein vorvariskisch konsolidiertes Kraton, das südlich des Pontischen Landes lag. Die Sedimente der Synklinale zwischen den beiden Kratonen wurden in der variskischen Gerbirgsbildungsphase (im Karbon vor 360-286 Millionen Jahren) aufgefaltet. Bei der „Ozeanisierung“ des Pontischen Landes wurde später auch der nördliche Teil des entstandenen Gebirges abgesenkt und bildet heute einen Teil des Meeresbodens des Schwarzen Meeres.

Im Mesozoikum wurde der Bereich der heutigen Türkei abgesenkt, z.T. soweit, dass die oben schon angesprochene Metamorphisierung in Gang kommen konnte und mächtige Sedimente (v.a. Kreide) diskordant darübergelagert wurden. Das Pontische Land dagegen hob sich, wodurch die Eugeosynklinale südlich davon mit Sedimenten verfüllt wurde.

Das Gebiet der heutigen kleinasiatischen Halbinsel wurde von zwei weiteren Geosynklinalen geprägt. Sie wurden so weit eingetieft, dass sie zu Tiefseebereichen wurden, in denen Ophiolite abgelagert wurden. Während des ganzen Mesozoikums seit der Trias (vor 248-218 Millionen Jahren) existierten diese beiden Geosynlinalen, die nördlich und südlich des Zentralanatolischen Kratons verliefen und in die auch die Sedimente abgelagert wurden, aus denen die Gebirge Südanatoliens aufgebaut sind.

Die seit dem Lias (213-188 Millionen Jahre) wirksame alpidische Gebirgsbildungsphase steht im Zusammenhang mit der Kollision der südlichen afrikanisch-arabischen Platte mit der nördlichen eurasiatischen Platte, wobei die pontische und die anatolische Mikroplatte zwischen den beiden grösseren Platten eingekeilt wurden.

Diese Kollision muss von äusserster Heftigkeit gewesen sein, führte sie doch teilweise zu Überschiebungen von bis zu 150km (im inneren Westtaurusbogen).[3]

Die Ophiolittröge wurden zusammengeschoben und zu oft chaotischen Strukturen gefaltet bzw. von älteren Massiven überfahren (Bitlis-Massiv)[4]. Die heutigen Gebirge rund um das alte zentralanatolische Massiv entstanden zu dieser Zeit: Das Pontische Gebirge, der West- und Osttaurus sowie – in der Spätphase der Orogenese – die Faltungen in Südostanatolien, die sich zum Teil auf die Sedimente der Arabischen Tafel erstrecken. Die alpidische Phase klingt in Ostanatolien mit intensiver vulkanischer Tätigkeit aus, die das Ararathochland schuf.

Doch der Druck von Süden hielt auch nach den alpidischen Auffaltungen an. Nachdem aber die anatolische Scholle durch die Faltung der sie umgebenden Sedimente mittelerweile stabilisiert war und auch ein Ausweichen nach Norden nicht mehr möglich war, zerbrach der ganze Block. Die einzelnen Bruchstücke wichen entlang von Verwerfungslinien[5] in Richtung des geringsten Widerstandes aus: Das war der Ägäisraum.

Das Ergebnis war zum einen die zerklüftete Ägäisküste, zum anderen die Beckenstruktur Anatoliens, die für die Besiedlung des Landes so wichtig wurde (siehe unten). Am Schnittpunkt der beiden Hauptverwerfungslinien zwischen der anatolischen und der pontischen bzw. der anatolischen und der arabischen Scholle, dem „Scharnier“ der ganzen tektonischen Dynamik des Raumes, entstand das ostanatolische Vulkangebiet mit seinen grossräumigen Lavaergüssen.

1.2. Geomorphologie

Das Einbrechen von Becken während des Tertiärs hatte für die heutige Landwirtschaft weitreichende Folgen. Dadurch entstand nämlich eine Zweiteilung der potentiellen Anbaufläche des erstrangigen Anbauprodukts der Türkei, des Getreides:

Zum einen sind das die Becken, die in der Türkei „Ovas“ genannt werden. Sie sind den „Poljen“ des Balkan vergleichbar,[6] obwohl sie nicht ganz so ausschliesslich an Karstphänomene gebunden sind. Ihrem alluvialen Charakter enstprechend haben sie meist sumpfige Stellen, die auf mangelnde Drainage bzw. auf hohen Grundwasserstand zurückgehen. Umrahmt sind sie von Schwemmfächern und jungtertiären Sedimenten, die teils hochflächenartig gestaltet sind, teils von Bächen zerschnitten sind.

Seit den Anfängen der Besiedlung Anatoliens waren die Ovas „Kernräume der landwirtschaftlichen Nutzung und Leitlinien des Verkehrs“[7]. Die Intensität ihrer Nutzung schwankte zwar im Lauf der Jahrhunderte, aber die Existenz teilweise sehr alter Städte und Siedlungen, die meist auch namengebend für die Ova wurden, beweist doch eine bemerkenswerte Siedlungskontinuität.

Aufgrund der noch relativ wenig zersplitterten Ackerfluren und des ebenen Geländes sowie der guten Bewässerungsmöglichkeiten sind die Ovas ein Kernraum der türkischen Landwirtschaft geworden, allerdings in Konkurrenz zu den ebenfalls expandierenden Siedlungen und zur Industrie, was z.B. in der Cukurova zu erheblichen Landnutzungskonflikten geführt hat.[8]

Das zweite wichtige Getreideanbaugebiet sind die Hochflächen, die die Ovas umgeben. Die Böden sind zwar nicht so tiefgründig wie in den Ovas, aber die natürliche Drainage ist im Normalfall gut, die fehlende Möglichkeit der Bewässerung für den Getreideanbau zum Teil sogar ein Gunstfaktor, denn der Anbau von Getreide wird in den Bewässerungsgebieten der Ovas zunehmend durch den Anbau von gewinnbringenderen Spezialkulturen verdrängt. Der grösste Vorteil ist aber die im Vergleich zu den Ovas grosse Fläche, die zur Bewirtschaftung zur Verfügung steht: 40-50% der Gesamtfläche der Türkei, so schätzt Hütteroth, werden von Hochflächen eingenommen (10% von Ovas), auf denen etwa 2/3 der Getreideanbaufäche liegen.[9]

Trotz dieser grossen Gesamtfläche ist jedoch auch die Nutzung der Hochflächen mit Problemen verbunden: Die Fläche der einzelnen Felder kann sehr klein sein, denn Erosion hat vor allem die randlichen Teile oft zu Riedeln zerschnitten; die Beackerung fördert darüberhinaus die Erosion noch.[10] Dadurch wird der Einsatz moderner Maschinen erschwert oder unmöglich gemacht oder die Bewirtschaftung einzelner Felder ganz unmöglich gemacht.

Das dritte Hauptgebiet landwirtschaftlicher Produktion der Türkei sind die Küstenebenen.[11] Sie sind an der Nord- und Südküste eher klein, da hier der küstenparallele Verlauf der Gebirge nur die Bildung einer Ausgleichsküste mit Küsten-ovas hinter Nehrungen, die die Akkumulation von fluviatilen Sedimenten zuliessen, erlaubte. Eine Ausnahme bildet hier nur der Golf von Antalya, der „die Streichrichtung des ganzen Gebirges“ nachzeichnet.[12]

An der Westküste dagegen konnten die Flüsse tief ins Land reichende, tektonisch angelegte Buchten auffüllen und fruchtbare Schwemmlandebenen schaffen, die schon vor der griechischen Kolonisation zur Anlage von Grosssiedlungen einluden. Allerdings hatte die andauernde fluviatile Sedimentation den Nachteil, dass die ursprünglich meist in Küstennähe angelegten griechischen Poleis im Laufe der Zeit immer mehr vom Meer abgeschnitte wurden und ihre Hafenanlagen heute meist einige Kilometer im Landesinneren liegen. Selbst das moderne Izmir musste in moderner Zeit seinen Zugang zum Meer mit teuren Massnahmen gegen die Sedimentation des Gediz verteidigen.[13]

Aufgrund der klimatischen und pedologischen Vorzugssituation stellenKüstenebenen trotzdem agrarische Intensivgebiete der Türkei dar, in denen hautpsächlich „Cash crops“ angebaut werden.[14] [15]

1.3. Klima und Vegetation

Das Klima der Türkei ist durch die Lage zwischen 42° und 36° nördlicher Breite sowie durch die geologischen Vorgaben der von Gebirgen umgebenen anatolischen Hochebene gekennzeichnet.

Das Zusammenspiel von Nord-Süd-Winden im Sommer und winterlichen Schwarzmeerzyklonen bringen der Nordküste Anatoliens und Thrakien ganzjährige Niederschläge. Das hat Folgen für die Vegetation:

Die Küstenstufe (kolchische Stufe) ist geprägt von typisch mediterranen Arten, neben denen auch feuchtigkeitsliebende immergrüne Pflanzen wie Stechpalme (Ilex aquifolium) und Erdbeerbaum (Arbutus unedo) sowie – als Besonderheit – der Rhododendron (Rhododendron ponticum bzw. flavum) vorkommen. Als Kulturpflanzen werden Mandarinen und Tee angebaut, darüberhinaus Haselnuss und Mais sowie – in den relativ trockenen Durchbruchstälern grösserer Flüsse – Oliven, Feigen, Agrumen und Tabak.

Das Vegetationsbild ändert sich in den höheren subkolchischen und montanen Stufen kaum, es treten nur immer mehr Nadelbäume wie Waldkiefern und Tannen auf. Haselnuss und Mais sind hier die beherrschenden Kulturpflanzen, daneben gibt es Obstplantagen.

Besonders in der montanen Stufe oberhalb von etwa 1200m haben sich winterharte Feuchtwälder halten können, da die wenigen alten Siedlungen ihren Holzbedarf aus den küstennahen Wäldern decken konnten.

Klima und Vegetation der Ägäis- und südlichen Küstenregion sind typisch mediterran (Csa-Klima mit Hartlaubvegetation). Dementsprechend werden hier auch die typischen Kulturpflanzen des Mittelmeerraumes angebaut: Oliven, Feigen, Pistazien, Wein, Zitrusfrüchte, daneben in den Küstenebenen auch Intensivkulturen wie Baumwolle, Erdnüsse, Gemüse, Soja, Melonen und teilweise sogar Bananen.

Die durch die randlichen Gebirge abgeschirmten Trochengebiete Inneranatoliens müssten eigentlich eine Trockenwaldvegetation aufweisen, aber durch die jahrtausendelange Nutzung als Acker- und Weideland findet sich hier heute eine Steppenvegetation, die nur in einigen Becken und Gebieten mit Niederschlägen unter 300mm natürlich sein dürfte. Dementsprechend liegen hier die Hauptgetreideanbaugebiete der Türkei. Vor allem Weizen und Gerste werden angebaut, wodurch die nomadische Weidewirtschaft, die in früheren Zeiten die Tafellandschaften Zentralanatoliens beherrscht hatte, weitgehend in Restgebiete und in die Gebirge zurückgedrängt wurde.

Nur wo Bewässerung möglich ist, können auch Obst- und Gartenkulturen angebaut werden, die allerdings meist nur der Selbstversorgung dienen.

Im gebirgigen Osten Anatoliens herrscht der Höhenlage entsprechend Gebirgsklima mit trockenen Sommern und langen, harten Wintern vor. Landwirtschaft beschränkt sich hier meist auf Weidewirtschaft.

Aus dieser Verteilung von Klimagunst und –ungunst ergeben sich die Regionen der Türkei von selbst:[16]

Die Marmararegion, Westanatolien und die Mittelmeerregion haben maritimes Mittelmeerklima, das im Norden durch das Schwarzmeerklima mit seinen hohen Niederschlägen beeinflusst wird. Zentral- und Ostanatolien sind deutlich kontinental geprägt, wobei allerdings die Verschiebung des winterlichen Niederschlagsmaximums ins Frühjahr und die nach Osten zunehmende Höhe noch für genügend Feuchtigkeit sorgt, um ausgedehnten Getreideanbau zuzulassen. Südostanatolien liegt dagegen schon im Einflussbereich der Trockenklimate Syriens und des Irak. Der daraus resultierenden Ungunstsituation soll das Südostanatolien-Projekt ein Ende bereiten.[17]

1.4. Geschichte

Kleinasien ist einer der Kernräume menschlicher Kultur.

Schon in der Jungsteinzeit existierte in der Nähe des heutigen Cumra Catal Hüyük, eine Stadtsiedlung, deren Bevölkerung von einer bereits voll entwickelten Landwirtschaft mit Bewässerungsfeldbau und Viehzucht lebte und Handwerk und Handel betrieb. Catal Hüyük ist neben Jericho die älteste heute bekannte Stadtanlage der Welt.[18]

Funde auf dem Balkan und am oberen Euphrat legen nahe, dass die sogenannte „Neolithische Revolution“, der Übergang zu einer nur noch auf Landwirtschaft beruhenden Lebensweise, genau in diesem Raum vor sich gegangen sein muss[19], auch wenn die Jagd noch lange nach Kultivierung der ersten Pflanzen die Ernährungsgrundlage lieferte.[20] Auch der Ursprung der Indoeuropäer soll in Anatolien gelegen haben.[21]

Nach der ersten Grossreichbildung auf dem Boden Kleinasiens, dem Reich der Hethiter, kamen und gingen verschiedene andere Reiche, die sich z.T. in Anatolien selbst bildeten (Phrygien, Urartu, Lydien), z.T. aber auch von aussen auf die Halbinsel übergriffen (Reiche der Meder und Perser).

Seit die kretischen Minoer um 1600 v.Chr. in Milet ihre erste Kolonie gründeten, wurden nach und nach die Küstenebenen des westlichen Kleinasien von Griechen besiedelt.[22] Überall, wo genügend Ackerland für die Versorgung einer stadt vorhanden war und wo der Ölbaum gedieh, erbauten sie ihre „Poleis“. Sofern ein genügend grosses Hinterland und eine gute Verkehrslage existierte, erlangten diese Städte z.T. sogar überregionale Bedeutung.[23]

In hellenistischer Zeit entwickelten sich auf den Resten des Reichs Alexanders des Grossen zahlreiche Kleinstaaten, die die Besiedlung der verbliebenen freien Flächen vorantrieben.

Als die Römer die Nachfolge der hellenistischen Staatenwelt antraten, veränderte sich auch das Siedlungsbild Anatoliens: Zwar wurden die Ovas nach wie vor von kleineren ländlichen Siedlungen oder von Gutshöfen aus bewirtschaftet, die sich sich am Rand der Ovas drängten , um keinen Ackerboden zu verschwenden, aber die Städte wuchsen und der Grad der Urbanisierung nahm zu.[24] Im Verwaltungssystem der Römer kam den Städten nämlich zentralörtliche Bedeutung zu, so dass sich ein Netz von Städten mit dazugehörender ländlicher Umgebung entwickelte.

Nach der Zerstörung der Reiche der Kök-Türken in Zentralasien strömten Turkmenen, türkischstämmige Nomaden, in den Vorderen Orient.[25] Die Seldschuken übernahmen die Macht im arabischen Kalifenreich und gründeten ein eigenes Reich. Nachdem Anatolien und Armenien schon des öfteren Opfer seldschukischer Raubzüge geworden waren, gründete ein abtrüniger Verwandter des Seldschukensultans um Ikonion (= Konya) ein eigenes Sultanat, das er von Byzanz eroberte; diese Seldschuken nannten sich deshalb „Rum-Seldschuken“.[26]

Im Bereich der Militärgrenze zwischen Byzanz und den Seldschuken entwickelten sich erste Kleinfürstentümer, doch erst nach dem Niedergang des Sultanats von Rum konnte sich Osman I., der Begründer der Dynastie der Osmanen, als einer von vielen anatolischen Turkmenenführern in Nordwestanatolien eine Herrschaft aufbauen.

Der Staat der Osmanen hatte den Vorteil der direkten Nachbarschaft zu Byzanz, so dass die Eroberung neuer Ländereien möglich war, ohne dass die mächtigeren turkmenischen Nachbarn angegriffen werden mussten. Da man den Dauerkrieg gegen Byzanz dazu noch als Glaubenskrieg führte, strömten den Osmanen auch laufend neue Krieger aus dem übrigen Anatolien zu, die auf der Suche nach Beute waren. Unter Ausnutzung der Schwäche des Oströmischen Reiches konnten die Osmanen so zwischen 1280 und 1402 ein erstes Reich aufbauen, das von der Donau und Albanien bis nach Armenien reichte. Noch war Konstantinopel durch sein Mauern geschützt, aber seine Einnahme schien nur noch eine Frage der Zeit, da stellte die Niederlage gegen die Mongolen unter Timur in der Schlacht von Ankara 1402 die Existenz des Reiches in Frage.

Vom europäischen Reichsteil aus gelang jedoch der Wiederaufbau des Reiches, das mit der Eroberung Konstantinopels 1453 nach Bursa und Edirne seine letztendliche Hauptstadt erhielt. Seine grösste Ausdehnung erreichte das Osmanische Reich unter Suleiman dem Prächtigen (1520-1566), doch nach dem Verlust der Flotte in der Seeschlacht von Lepanto 1571 begann der Niedergang des Osmanischen Reiches, der letztendlich bis 1922 andauerte.[27]

Zu dieser Zeit begann das Reich auch unter der in einer Ära des inneren Friedens entstandenen Überbevölkerung zu leiden. Die hohe Geburtenrate führte schließlich auf dem Land und in den Städten zur Verelendung der einfachen Bevölkerung, die zudem durch die begrenzten Möglichkeiten des Landerwerbs und eine von den städtischen Gilden durchgesetzte restriktive Wirtschaftspolitik noch verschlimmert wurde. Diese verarmten Bauern und Handwerker schlossen sich häufig zu Räuberbanden zusammen, die Stadt und Land gleichermaßen verunsicherten. Durch die inkompetente, korrupte und ineffektive Regierung wurde die Landwirtschaft vernachlässigt, das Reich litt unter Hungersnöten und Epidemien, und ganze Provinzen fielen unter die Herrschaft örtlicher Feudalherren.

Zwar ist in einigen Gebieten[28] schon seit dem 12. Jahrhundert ein Bruch in der Siedlungskontinuität festzustellen,[29] doch erst seit dem 16.Jahrhundert ein rasanter Verfall der ländlichen Siedlungen bei gleichzeitig starkem Wachstum der Städte zu verzeichnen,[30] gleichzeitig breitete sich der Nomadismus in den verlassenen Gebieten wieder aus.

Nach Landverlusten an Österreich und Russland sowie der Unabhängigkeit Griechenlands begann ab 1839 die „Tanzimat“-Periode. Die Reformen dieser Zeit sollten das Osmanische Reich befähigen, dem zunehmenden Druck der Europäer und den Unabhängigkeitsbestrebungen der von den Türken beherrschten Völker standzuhalten. Doch die hohe Verschuldung ermöglichte es den Gläubigerstaaten, v.a. England, Frankreich und Preussen (ab 1871 dem Deutschen Reich), über die sogenannten Kapitulationen eine koloniale „Politik der offenen Tür“ zu betreiben und machte die Reformen zum grossen Teil zur Makulatur. Daraufhin kehrte Sultan Abdul Hamid II. (1876-1909) zum autokratischen Regierungsstil zurück. Die erst 1876 erlassene Verfassung wurde wieder aufgehoben, die Verwaltung modernisiert und die Wirtschaft angekurbelt.

Die liberale Bewegung der „Jungtürken“ kam mit der Revolution 1908 an die Macht und setzte die Verfassung wieder in Kraft, doch 1913, nach den Landverlusten der Balkankriege, übernahm ein Triumvirat um Enver Pascha die Leitung des Staates; der Sultan war schon seit 1908 ohne Regierungsgewalt[31].

Der 1.Weltkrieg hatte für das Osmanische Reich katastrophale Folgen: Nach dem Friedensvertrag von Sévres (1920) bestand es nur noch aus Zentralanatolien. Mustafa Kemal Pascha führte auf eigene Verantwortung einen Krieg gegen die alliierten Besatzungstruppen, der 1923 mit der Errichtung der Republik Türkei endete. Darum und wegen der konsequenten Umformung des Osmanischen Reiches zur laizistischen Republik Türkei wurde ihm 1934 der Ehrenname „Atatürk“ (Vater der Türken) verliehen.

Im 2.Weltkrieg bewahrte die Türkei lange ihre Neutralität und trat erst sehr spät auf Seiten der Aliierten in den Krieg ein. Sie wurde Gründungsmitglied der UN.

Nach dem 2.Weltkrieg wurde die Einparteienherrschaft der Republikanischen Volkspartei (CHP) Atatürks, die seit 1938 von Staatspräsident Ismet Inönü geleitet wurde, durch den Sieg von Adnan Menderes (Ministerpräsident 1950-60) beendet. Nach dem Versuch der Sowjetunion, die Türkei in ihr Einflussgebiet einzugliedern, lehnte sich das Land eng an die USA an.

Nachdem Menderes eine Art Ein-Mann-Herrschaft aufgebaut hatte, führte die wirtschaftliche Misere 1960 zu einem Militärputsch. Nach zwei weiteren Putschen 1971 und 1980 wurde 1982 die heute gültige Verfassung erlassen und 1987 die letzten Einschränkungen für politische Parteien fallengelassen. Doch noch 1997 drohte das Militär, die turbulente Situation nach dem Zerbrechen der Koalition zwischen Tansu Ciller und dem Islamisten Erbakan gewaltsam zu bereinigen. Nicht zuletzt wegen der Natur der Türkei als Polizeistaat wurde der seit 1987 laufende Antrag auf Mitgliedschaft in der EG/EU im Jahre 1998 abgelehnt.

2. Binnenkolonisation

Weite Gebiete Anatoliens sind schon aus historischen Gründen als Altsiedelland anzusprechen, allerdings mit Einschränkungen, die ebenso historisch begründet sind.

Nachdem bis in römische und noch seldschukische Zeit Anatolien dicht besiedelt war[32], wurden in osmanischer Zeit viele Dörfer aufgegeben. Das begann schon mit der in mehreren Wellen ablaufenden Einwanderung turkmenischer Nomaden ab dem 12. Jahrhundert[33] und der Eroberung des Sultanats der Rum-Seldschuken durch die Mongolen.[34]

Das Militärlehenssystem der Timare hatte einen weitverbreiteten Absentismus zur Folge und führte zur Konservierung der Produktionsweisen und Dorfstrukturen. Die Bindung der Bauern an die Scholle[35] und die Versuche der Feudalherren, als Ausgleich für die von Inflation geminderten Einkommen durch übermässige Besteuerung das Äusserste aus ihrem Besitz herauszupressen sowie die seit den Besitzveränderungen des 16.Jahrhunderts[36] abnehmende Bindung an der Lehensherren an ihr Lehen führte zur „grossen Flucht“ am Anfang des 17. Jahrhunderts.[37] Sie hatte mehrere Folgen:[38]

[...]


[1] Siehe dazu Brinkmann und Höhfeld S.19-22 sowie Hütteroth (1982) S.27-44 und Hütteroth (1985) S.14/15.

[2] Der Boden des Schwarzen Meeres besteht aus ausdedünnter kontinentaler Kruste !

[3] Hütteroth (1982) S.33

[4] a.a.O.

[5] entlang dieser Linien verlaufen auch die Erdbebenzonen der Türkei

[6] Hütteroth (1982) S.57; vgl. Hütteroth (1985), S. 17f.

[7] Hütteroth (1982), S.57

[8] siehe die Artikel von Hoh und Bazin.

[9] Hütteroth (1982), S.50

[10] vgl. v.a. den Artikel von Sahin

[11] Hütteroth (1982) S.61ff.

[12] Hütteroth (1982) S.62

[13] Hütteroth (1982) S.65/66.

[14] Vgl- die Landnutzungskarte der Türkei bei Hütteroth (1982) Fig.92.

[15] Höhfeld S.29-36, Hütteroth (1982) S.96-168, Hütteroth (1985) S.18-23.

[16] Vgl. Höhfeld S.22-29. Zu den regionalen Disparitäten Toepfer (GR 4/89) S.214f

[17] Werner/Malkov, Shaw; vgl. auch Hütteroth (1982) S.169ff., Höhfeld S.51ff., Buhbe S.187 (Zeittafel)

[18] Die ältesten Schichten wurden auf 6385 ± 101 Jahre datiert, die jüngsten auf 5797 ± 79 Jahre.

[19] s. die Spektrum-Artikel von Moore und Rodden sowie Renfrew

[20] bis die Gazellenherden, die man im nördlichen Syrien abschlachtete, vernichtet waren; vgl. den Spektrum-Artikel von Legge/Rowley-Conwy

[21] vgl. Renfrew sowie ergänzend Gamkrelidse/Jatscheslaw/Iwanow

[22] vgl. Brückner

[23] z.B. Troja, Milet, Ephesus, Byzanz

[24] vgl. Kolb

[25] vgl. Shaw I, Part One, Chapter 1

[26] die Byzantiner nannten sich selbst „Rhomäer“. Bei den Türken wurde dann aus „Land der Rhomäer“ das „Land der Rum“.

[27] dazu am ausführlichsten Shaw I/II

[28] vor allem in den Gebieten, die lange Zeit Grenzraum (= Kriegsgebiet) waren

[29] Kolb S.83/84/91

[30] Werner/Markov S.131ff.; vgl. Hütteroth (1968) S.200ff.

[31] zur Geschichte der Türkei ab 1908 siehe v.a. Shaw und Buhbe

[32] Hütteroth (1968) S.163, 203ff.

[33] Werner/Markov S.14

[34] Werner/Markov S.17

[35] wobei die Flucht in die Hauptstadt allerdings Freiheit bedeutete, was wiederum die Landflucht förderte

[36] als der Sultan und seine Höflinge immer mehr Timare an sich zogen

[37] Hütteroth (1968) S. 200ff., Werner/Markov S.131ff.

[38] vgl. auch Hütteroth in: Südosteuropa-Handbuch S.24

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Landwirtschaft der Türkei. Entwicklung und historische Hintergründe
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt  (Mathematisch-Geographische Fakultät)
Veranstaltung
Agrargeographie des Mittelmeerraums
Note
1
Autor
Jahr
1998
Seiten
27
Katalognummer
V124057
ISBN (eBook)
9783668062948
ISBN (Buch)
9783668062955
Dateigröße
569 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Türkei, Anatolien, Osmanen, Klima, Geologie, Landwirtschaft, Bewässerung, Ova
Arbeit zitieren
Christian Hainzinger (Autor:in), 1998, Die Landwirtschaft der Türkei. Entwicklung und historische Hintergründe, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124057

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Landwirtschaft der Türkei. Entwicklung und historische Hintergründe



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden