1. Einleitung
Bei der Beschäftigung mit der Entstehung der Geschichtsschreibung muss man sich notwendigerweise von unserem heutigen Wissenschaftsbegriff entfernen und die Literatur aus dem Blickwinkel der damaligen Zeit betrachten. Dabei muss auch verstanden werden, dass dem heutigen Historiker kaum noch bewusst ist, dass ein nicht allein an Wahrheit orientiertes Geschichtsverständnis ebenfalls den Anspruch auf wissenschaftliche Anerkennung erheben darf. In diesem Sinne argumentiert auch Radtke (1992:147). Auch den meisten Mythen liegt zumindest ein historischer Ursprung zugrunde wie Heinrich Schliemann mit seinen Grabungen in Troia eindrucksvoll belegte. Radtke (1992:141) definiert Geschichtsschreibung als „sprachlich gestaltete Erinnerung an vergangene, unwiederholbare menschliche Handlungen, die nur noch durch die fixierbare Erinnerung existent sind.“
Arabisch existiert bereits seit dem 5. Jahrhundert als vollausgebildete, einheitliche Schriftsprache (Brockelmann 1909:3 sowie Soden 2006:2, Halm 2004:18f und Elger 2004:36). Dennoch gibt es über die vorislamischen Kulturen der arabischen Halbinsel kaum beziehungsweise wenig verlässliche Informationen. Die meisten stammen aus islamischen Quellen und sind aufgrund ihrer Tendenziosität nur bedingt glaubwürdig.
Dieses „Dunkel“ in der arabischen Geschichte vor dem Erscheinen des Propheten ist eine anschauliche Metapher für das Geschichtsverständnis islamischer Historiker, das die die heidnischen Jahrhunderte als ğāhalīya (Zeit der Unwissenheit und Ignoranz) ansahen.(Elger 2004:34). Verstärkt wird dieser Zustand durch das spärliche Vorhandensein altarabischer, schriftlicher Quellen.
In allen Kulturen stellen sicherlich die Schöpfungsmythen und Heldensagen die ältesten Formen einer Art von Geschichtsschreibung dar. Im Gegensatz zu den Hochkulturen, wo Schriftsysteme auch deutlich früher erfunden wurden, wurden diese auf der arabischen Halbinsel allerdings nur in mündlicher Form tradiert. Auch Brockelmann (1909:13f) weist darauf hin, dass die Schrift in Nord- und Mittelarabien zwar verbreitet war, jedoch nicht zur Schaffung von Literatur verwendet wurde sowie dass möglicherweise geschriebene Werke von späteren muslimischen Sammlern als heidnische Erzeugnisse oder spätestens bei den Mongolenstürmen gegebenenfalls vernichtet worden sein könnten.[...]
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Geographischer Raum und historische Rahmenbedingungen
- Die Entwicklung Geschichtsverständnisses in der Antike und dessen Einfluss auf die vorislamische Geschichtsschreibung
- Referenzrahmen: Formen des Geschichtsbewusstseins
- Geschichtsverständnis der Bewohner der arabischen Halbinsel
- Vorislamische, arabische Literatur/Erzählungen
- Vorislamische Dichtung ohne historischen Kern
- Ayyam al-arab – Die Schlachttagserzählungen
- Genealogien
- Südwestarabische Chronologien
- Die islamische Zäsur – Entstehung eines neuen Geschichtsbewusstseins
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Entstehung der Geschichtsschreibung in vorislamischer Zeit auf der arabischen Halbinsel. Sie analysiert das Geschichtsverständnis der Bewohner dieser Region und beleuchtet den Einfluss antiker Geschichtsauffassungen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, inwieweit vorislamische Literatur als Wurzel der muslimischen Geschichtsschreibung betrachtet werden kann.
- Entwicklung des Geschichtsverständnisses in der vorislamischen arabischen Welt
- Einfluss antiker Hochkulturen auf das arabische Geschichtsverständnis
- Analyse vorislamischer Literaturformen (Dichtung, Schlachttagserzählungen, Genealogien)
- Das "Dunkel" der ğāhalīya im Kontext islamischer Geschichtsschreibung
- Vergleich von mündlicher und schriftlicher Überlieferung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik ein und betont die Notwendigkeit, von unserem heutigen Geschichtsverständnis abzuweichen, um die vorislamische Literatur angemessen zu betrachten. Kapitel 2 beschreibt den geographischen Raum und die historischen Rahmenbedingungen, prägend durch das aride Klima und die daraus resultierende politische Fragmentierung. Kapitel 3 untersucht die Entwicklung des Geschichtsverständnisses in der Antike und dessen Einfluss. Kapitel 4 und 5 analysieren verschiedene Formen vorislamischer Literatur, einschließlich Dichtung, Schlachttagserzählungen und Genealogien, sowie südwestarabische Chronologien, um ihren historischen Wert zu beurteilen.
Schlüsselwörter
Vorislamische Geschichtsschreibung, Arabische Halbinsel, ğāhalīya, Ayyam al-arab, Genealogien, Südwestarabische Chronologien, Antike, Geschichtsverständnis, Mündliche Überlieferung, Schriftkultur.
- Quote paper
- M.A. Michael Rohschürmann (Author), 2007, Der Geschichtsbegriff in vorislamischer Zeit - Die Wurzeln der muslimischen Geschichtsschreibung?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124148