Im Folgenden werden die zentralen Motive, Realien und Parallelen der zu untersuchenden Perikope Mk 10,46-52 erläutert und mit den verwandten Textstellen in Verbindung gebracht, mit dem Ziel, ein besseres Textverständnis hinsichtlich des Kontextes der Heiligen Schrift zu erreichen.
Inhalt
1. Identifizierung und Erläuterung von Motiven, Realien und Parallelstellen
2. Narratologische Analyse
3. Gattungsanalyse
4. Tabellarische Zusammenfassung und Veranschaulichung der Punkte 2. und 3
5. Synoptischer Vergleich
6. Abschließende Analyse
Literaturverzeichnis
1. Identifizierung und Erläuterung von Motiven, Realien und Parallelstellen
Im Folgenden werden die zentralen Motive, Realien und Parallelen der zu untersuchenden Perikope Mk 10,46-52 erläutert und mit den verwandten Textstellen in Verbindung gebracht, mit dem Ziel, ein besseres Textverständnis hinsichtlich des Kontextes der Heiligen Schrift zu erreichen.
Markus hat die Bibelstelle durch die Verortung des Geschehens auf einen Weg bzw. Straße von Jericho nach Jerusalem mit dem Kontext verbunden (Mk 10,46d)[1], aber gleichzeitig bereits zum Beginn ein erstes zentrales Motiv der Perikope eingeführt, das Wegmotiv, das auch im Schluss der Perikope und auch als Überleitung im Beginn von Mk 11,1 aufgegriffen wird. Das Wegmotiv bzw. Nachfolgemotiv ist sozusagen das Hauptmotiv in dieser Perikope. Zu Beginn sitzt der Blinde am Rand des Weges (Mk 10,46df), als Jesus vorübergeht. Dann wird er, durch Jesus veranlasst, von den Begleitern Jesu, zu diesem gerufen, was im gesamten Evangelium einmalig ist[2]: normalerweise wird der Wundertäter zum Hilfsbedürftigen bzw. der Hilfsbedürftige von der Menge zum Wundertäter gebracht. Der Blinde findet scheinbar ohne Hilfe zu benötigen den Weg zu Jesus, trotz seiner Blindheit (Mk 10,50). Und nachdem seine Bitte, wieder sehen zu können, erhört wurde, folgt er Jesus auf seinem weiteren Weg. Dieses Motiv ist an dieser Stelle von großer Bedeutung, da der blinde Bettler den „idealen“ Jünger/Anhänger Christi verdeutlicht, der trotz aller Erschwernisse an seine Rettung glaubt und den Weg zu Gott nicht aus den Augen verliert und nicht zweifelt. Diese Hindernisse und die genannte unbeirrte Glaubensstärke auf dem Weg zu seiner Heilung sind ein weiteres, bei Markus öfter auftretendes Motiv: das „Erschwernismotiv“[3] oder „Glaubensmotiv“[4]. Bei diesem werden an Heilung glaubende Menschen durch Hindernisse auf ihrem Weg zu Jesus in ihrer Glaubensstärke auf die Probe gestellt, wie zum Beispiel in Mk 2,4ff, wo ein Gelähmter wegen der zu großen Menschenmenge nicht zu Jesus gelangen kann, aber von seinen Begleitern durch das zuvor eingeschlagene Dach zu Jesus in das Haus herabgelassen wird. Als weiteres Beispiel wäre auch Mk 5,24-34 zu nennen. In allen drei Fällen der Heilungswundergeschichten ist nicht Jesus direkt der Heilbringende, sondern der starke Glaube der jeweiligen Person. Diese These wird bestärkt durch die in allen drei Stellen wiederkehrende Bestätigungsformel des Glaubens (Mk 10,52a; 2,5f; 5,34af). Immer heißt es „dein Glaube hat“, nicht „ich, Jesus, habe“ „gerettet“[5]. Ein weiteres Motiv in der Bibelstelle ist das der Blindheit. Dieses kommt bereits im AT vor. So verwendet etwa Jesaja das Bild des Wieder-sehend-Machens als Metapher für die Endzeit, in der Gott seinem Volk Heil widerfahren lässt: ,,Dann werden die Augen der Blinden geöffnet, auch die Ohren der Tauben sind wieder offen“ (Jes 35,5 bzw. Jes 29,18). Er bezieht dieses Bild allerdings mehr auf die selbstverschuldete Unfähigkeit des Menschen Einsicht zu erlangen, als auf das eigentliche, körperliche Nicht-Sehen. Die Möglichkeit zur Überwindung dieser Unfähigkeit soll durch den blinden Bettler und seinem unerschütterlichen Glauben verdeutlicht werden.[6] Ein weiteres mögliches Bild mit Parallelstelle im AT könnte der abgeworfene Mantel darstellen. Allerdings sind sich die Theologen uneinig darüber, ob es im Text ursprünglich hieß, dass sich der Bettler den Mantel, der zuvor vor ihm auf dem Boden lag, umwirft und dies erst später in einer „hellenistischen Umgestaltung des biblischen Details“[7] in „Mantel abwerfen“ geändert wurde. J. Gnilka schließt dies allerdings eher aus und deutet das Mantel abwerfen als ursprünglich und als Zeichen der Aufregung beim Bettler. Die Parallelstelle ist in 2Kön 7,15 zu finden. Auch hier werfen die von Israeliten verfolgten Aramäer ihre Kleider und Waffen ab vor Aufregung, bzw. hier wohl eher aus Panik. Eine nächste Parallelhandlung, die allerdings z.T. in außerbiblischen Schriften anzutreffen ist, stellt die Anrufung Jesu als Sohn Davids (Mk 10,47b) dar. Es ist eine im Judentum weit verbreitete Tradition gewesen, wie man aus dem Psalter (6,2; 9,13; 40,5.11 und 122,3), der Salomo-Überlieferung und JosAnt IX,64 erfährt[8], Salomo als solchen anzureden. In TestSal 20,1 wird Salomo vom Vater eines besessenen Kindes so angesprochen[9]. Die Gleichstellung Salomos und Jesu erschließt sich dem Leser dadurch, dass Salomo, der leibliche Sohn Davids, wie auch Jesus als Exorzist, Wunderheiler und weiser Lehrer auftritt sie beide über ähnliche „Fähigkeiten“ verfügen. Die Anrufung durch den Bettler ist allerdings weniger genealogisch zu verstehen, immer vorausgesetzt, „daß von Jesus, dem Nazarener, die genealogische Zugehörigkeit zum Stamme Davids bekannt war“[10] als vielmehr eschatologisch bzw. messianologisch (Salomo wie Jesus als Wunderheiler).[11] Allerdings dürfte diese Anrufung Jesu durch den blinden Bettler in diesem Kontext damals für Befremden bei den Umstehenden gesorgt haben, da „man vom davidischen Messias die Befreiung des Volkes und ein auf ganz Israel gerichtetes Heilswirken, aber keine Krankenheiligungen erwartete“[12]. Daher wird vermutet, dass es sich bei der Anrufung um eine „bereits in Gebetsform gestaltete christliche Wendung“[13] handelt. Dennoch ist diese Anrede zumindest im Markusevangelium einmalig[14], wenn auch nicht in allen Evangelien (vgl. Mt 15,22; 17,15). Auffällig ist zudem, dass die gläubige Anrede des Blinden an Jesus als Sohn Davids am Ende des zweiten Hauptteils steht. Sie bildet so mit dem Messiasbekenntnis des Petrus (Mk 8,27ff) den Rahmen für den zweiten Hauptteil.
An Realien sind in der Perikope besonders zwei auffällige und wichtige zu nennen: Einmal die Stadt Jericho, die als Handlungsort dient und zum anderen der namentlich genannte blinde Bettler Bartimäus, Sohn des Timäus. Jericho war eine 250 Meter unter dem Meeresspiegel gelegene Stadt, acht Kilometer vom Jordan und 24 Kilometer von Jerusalem entfernt. Entstanden ist die Stadt durch Herodes den Großen (die später durch seinen Sohn Archelaos ausgebaut wurde), der diese als sein Winterquartier ausgewählt hatte, um das sich die Stadt bildete. Bewohner der Stadt waren Juden, allerdings war die Stadt von römischen Besatzungen bewacht.[15]
Selten kommt es im Evangelium vor, dass Personen wie der Bettler beim genauen Namen genannt werden. Bartimäus, der Sohn des Timäus scheint eine real existierende Person gewesen zu sein, die wohl bekannt war, da sich die Quellen des Markus so genau an den – an sich unwichtigen – Namen erinnern. Die genaue Verortung der Wundergeschichte und die Bekanntheit des Namens eines blinden Bettlers lassen die meisten Theologen darauf schließen, dass es sich hier um eine historische Begebenheit aus dem Leben Jesu handelt.[16] In den Parallelstellen Mt 20,29-34 und Lk 18,35-43 fehlt der Name hingegen. Es gibt zwei prinzipielle Argumente für den Grund, den Namen des Bettlers nicht zu nennen: Das eine geht davon aus, dass der Name des Blinden so bekannt war, dass eine Nennung nicht notwendig ist. Das andere, stichhaltigere Argument ist, dass der Name durch die spätere Abfassungszeit in Vergessenheit geriet.[17]
2. Narratologische Analyse
Die Geschichte von der Heilung eines Blinden bei Jericho bildet den Abschluss des zweiten Hauptteils des in drei Haupteile zu unterteilende Markusevangeliums. Gleichzeitig fungiert sie als Überleitung in den letzten Hauptteil des Evangeliums „Jesus in Jerusalem“. Markus schrieb sein Evangelium entweder kurz vor oder kurz nach 70 n.Chr. Als Abfassungsorte für das ursprünglich für Heidenchristen geschriebene Werk werden überwiegend Syrien und Galiläa genannt. Die Bibelstelle von der Heilung eines Blinden bei Jericho ist als Übergangserzählung zur eigentlichen Passionsgeschichte zu sehen und gleichzeitig die letzte Wundergeschichte im Markusevangelium.
Das Interesse der Erzählung an der Person des Bartimäus drückt sich u.a. in den verschiedenen Erzählgeschwindigkeiten aus. V 46 überbrückt mit wenigen Worten und erhöhter Erzählgeschwindigkeit einen großen Zeitraum (Summarium). In den folgenden Versen (VV 47-52) werden geradezu in Zeitlupe die Ereignisse beschrieben, die Erzählzeit kommt der erzählten Zeit sehr nahe. Es ist ein hoher Anteil an Figurenrede festzustellen (V47, 48, 49, 51, 52), der den Eindruck von Nähe verschafft (Szene).
Die zu untersuchende Perikope ist einzuordnen als singulative Frequenz, in der ein einmal geschehenes Ereignis einmal berichtet wird.
Der Evangelist führt den Leser unmittelbar an das Geschehen heran, was durch viel direkte Rede bewerkstelligt wird (dramatische Distanz). Auf der Ebene der Wahrnehmungsperspektive ist es schwierig, eine eindeutige Fokalisierung auszumachen. Auf der einen Seite beschreibt der Erzähler die Geschehnisse auktorial von außen, auf der anderen Seite wird der Fokus so sehr auf die Person des Blinden gelegt, dass der größte Teil der Perikope nahezu aus der Perspektive des Bartimäus erzählt wird (interne Fokalisierung): Der Leser erfährt, was Bartimäus hört (V 47), er hat unmittelbar Anteil an seiner verzweifelten Situation, als die Menge ihm befiehlt zu schweigen, der Leser hört, dass er darauf lauter ruft (V 48). In der Begegnung mit Jesus erlebt der Leser jede einzelne Bewegung des Bartimäus mit: Er wirft seinen Mantel fort, springt auf und läuft auf Jesus zu (V 50).
[...]
[1] Vgl. K. Kertelge, Markusevangelium, 106.
[2] Vgl. R. Pesch: Das Markusevangelium, 16. III.
[3] J. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, 109.
[4] Ebd.
[5] M. Karrer: Art. Glaube (NT), 251.
[6] Vgl. K. Kertelge, Markusevangelium, 106.
[7] J. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, 110.
[8] R. Pesch: Das Markusevangelium,16. III, 47.
[9] Vgl. ebd.
[10] Ebd.
[11] Vgl. ebd.
[12] J. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, 110.
[13] Ebd.
[14] Vgl. W. Grundmann: Das Evangelium nach Markus, 296.
[15] Vgl. W. Grundmann: Das Evangelium nach Markus, 297. Vgl dazu auch J. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, 109.
[16] R. Bultmann beispielsweise betrachtet die Perikope dagegen eher als spätere Bildung. Vgl. dazu J. Gnilka: Das Evangelium nach Markus, 111.
[17] Vgl. ebd.
- Arbeit zitieren
- Christoph Zamilski (Autor:in), 2007, Exegese der Perikope Mk 10,46-52, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124306
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