Adoleszenz als zweite Immigration. Parallelen zwischen der Phase des Erwachsenwerdens und dem Prozess einer Einwanderung in Julya Rabinowichs "Spaltkopf"


Seminararbeit

20 Seiten, Note: 2,0

Anonym


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Eine Frage der Begrifflichkeiten: ,Migrationsliteratur‘
2.1 Begriffsproblematik
2.2 Entwicklung der ,Migrationsliteratur‘ im deutschsprachigen Raum

3. Triade: Migration, Adoleszenz und Identitat
3.1 Migration
3.2 Adoleszenz
3.3 Identitat

4. Parallelen zwischen Migration und Adoleszenz in „Spaltkopf“
4.1 Migration und Kultur
4.2 Adoleszenz und Korper

5. Conclusio

1. Einleitung

Auswirkungen einer Migrationserfahrung auf die Psyche eines Individuums werden - im Angesicht steigender Zahlen von Bevolkerungsbewegungen aufgrund von Flucht vor Kriegen oder Naturkatastrophen sowie zur Erzielung sozialer oder wirtschaftlicher Verbesserungen - von Seiten der interdisziplinaren Migrationsforschung und der Sozialpsychologie mit zunehmendem Interesse verfolgt. Die Verortungen zwischen zwei Landern und Kulturen sind dabei ebenso zentrale Gegenstande wie die Folgen auf die Identitat eines Individuums, hinterlasst doch jede Migration Spuren in der personlichen und familiaren Geschichte.1 Der Lebensabschnitt der Adoleszenz stellt dabei einen besonders kritischen Zeitpunkt dar, indem sich maBgeblich die Identitatsbildung vollzieht. Julya Rabinowich, eine osterreichische Autorin mit russischen Wurzeln, thematisiert in ihrem Roman „Spaltkopf“ die vielfaltigen Auswirkungen einer Migration: Es ist die Geschichte einer russisch-judischen Familie, die nach Osterreich emigriert und die die Erfahrungen der adoleszenten Tochter Mischka mit der Entwurzelung aus Russland, den zwanghaften Anpassungsversuchen an die neue Heimat und die daraus resultierenden Identitatskonflikte aufgrund des Zerrissen-Seins zwischen Osten und Westen, der Verdrangung der russischen Herkunft und der Suche nach der eigenen Identitat erzahlt. Die vorliegende Arbeit hat vor diesem Hintergrund zum Ziel, die sich ergebenden Parallelen zwischen Migration und Adoleszenz in „Spaltkopf“ anhand der kulturellen und geschlechtlichen Differenzen aufzuzeigen. Im Fokus stehen dabei die Suche nach Verortung im Zwischenspiel der zwei Kulturen (Russland und Osterreich) sowie der zwei Lebensphasen (Kindheit und Erwachsenenalter).

Rabinowichs Geburtsort und die Tatsache, dass der Roman einen autobiografischen Hintergrund hat, befordern die Autorin rasch ins Genre der sogenannten ,Migrationsliteratur‘. Das erste Kapitel thematisiert die Notwendigkeit, derartige Etikettierungen kritisch zu betrachten, anschlieBend folgt ein historischer Abriss uber die Entstehung jener Literatur in Osterreich, wobei auf die Entwicklung sowie Unterschiede einzelner Termini eingegangen wird. Das zweite Kapitel befasst sich mit den drei Themenkreisen Migration, Adoleszenz und Identitat, die als theoretische Basis fur die anschlieBende Analyse von „Spaltkopf“ dienen. Als wissenschaftliche Grundlage fur die Beschaftigung mit dem Identitatsbegriff sowie dessen Bedeutung fur die Adoleszenz wird Erik H. Eriksons Stufenmodell des menschlichen Lebenszyklus herangezogen. Weitere einschlagige Literatur, die zur Beantwortung der Forschungsfrage beitragt, stellen die Arbeiten der Psychoanalytiker Grinberg und Grinberg zur Psychoanalyse der Migration sowie die Publikationen der Sozialpsychologin Vera King zur Adoleszenzforschung dar. Vor diesem Hintergrund erfolgt im dritten Kapitel abschlieBend eine Untersuchung von Rabinowichs „Spaltkopf“, um die besagten Parallelen zwischen Migration und Adoleszenz aufzuzeigen. Hierbei stellt Kazmierczaks Analyse der Protagonistin in „Fremde Frauen: Zur Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Landern in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ eine entscheidende Grundlage dar.

2. Eine Frage der Begrifflichkeiten: ,Migrationsliteratur‘

Gastarbeiter*innenliteratur, Autor*innen mit Migrationserfahrung oder -hintergrund, Literatur von Migrant*innen, Bruckenliteratur, Emigrant*innenliteratur, Migran*innen- oder Migrationsliteratur, inter- oder transnationale Literatur, Literatur des Dazwischen, Exilliteratur, Literatur in Bewegung, Literatur ohne festen Wohnsitz ...

Die Liste der Bezeichnungen fur Autor*innen „[.] deren Muttersprache nicht oder nicht nur deutsch ist und die nach Deutschland [bzw. in deutschsprachige Lander, Anm. von C.Z.] immigriert oder Kinder bzw. Enkel von Immigranten [und Immigrantinnen, Anm. von C.Z.] sind“2 ist lange. Ihr Umfang zeigt deutlich die Schwierigkeit einer prazisen Begriffsfindung fur jenes Phanomen. Damit einher geht gleichsam eine Diskussion um die Frage der Zuordnung: Erfolgt diese durch das Merkmal der Herkunft und Sprache (Autor*innen, die nicht in ihrer Erstsprache schreiben) oder durch den thematischen Schwerpunkt (Migrationserfahrung)?3 Da die Verfasserin dieser Arbeit letzteres bevorzugt, wird folglich - auch im Hinblick auf „Spaltkopf“ - die Bezeichnung ,Migrationsliteratur‘ gewahlt. Bevor diese Moglichkeiten einer Zuweisung und die Entstehung der ,Migrationsliteratur‘ diskutiert werden, soll zunachst auf die mit jenen Kategorisierungen einhergehende Problematik aufmerksam gemacht werden.

2.1 Begriffsproblematik

Julya Rabinowich, die ursprunglich 1970 in St. Petersburg geboren wurde und sieben Jahre spater nach Wien immigrierte, hat unweigerlich mit der Zuordnung zur ,Migrationsliteratur‘ zu kampfen.4 Im osterreichischen Feuilleton wurde sie beispielsweise als Produzentin von ,Migrant*innenliteratur‘ und ihr autobiografisch5 gefarbter Roman „Spaltkopf“ stets im Hinblick auf ihre russische Herkunft betrachtet.6 Verstarkend wirkt Rabinowichs Erfolg beim Literaturpreis „schreiben zwischen den kulturen“ des Wiener Verlags „edition exil“, der auf seiner Website schreibt, er verstehe sich als Sprungbrett fur Autor*innen, „die aus einer anderen Kultur und Erstsprache kommen und in deutscher Sprache schreiben“7, wobei Migrationserfahrungen bzw. das Leben zwischen Kulturen Themenschwerpunkte darstellen.8 Wenngleich es unbestreitbar ist, dass die Autorin mithilfe des Verlages offentliche Aufmerksamkeit erlangte, was den Eintritt in die Literatur- und Kulturszene erleichterte, konnen derartige Preise und die einhergehende strategische Vermarktung mit der Festschreibung auf das Thema Migration auch als problematisch betrachtet werden, denn sie scheinen beinahe erforderlich, um einer Exklusion aus dem ,heimisch-nationalen‘ Literaturbetrieb zu entgehen. Es kann dabei insofern von Othering gesprochen werden, da zwischen ,heimischen‘ und ,nicht-heimischen‘ Autor*innen - lediglich aufgrund der Tatsache, dass diese nicht in ihrer Erstsprache schreiben - differenziert wird. Die Kategorisierung hat ferner zur Folge, dass die inhaltlich und asthetisch vielseitigen Texte mit der scheinbaren Gemeinsamkeit der Migrationserfahrung zusammengeworfen werden, was nicht zuletzt die Erwartung der Leserschaft steuert, die diese meist autobiografisch lesen und das Literarische in den Hintergrund rucken. Nebst Kategorisierung erweist sich auch die Benennung jener Literatur als problematisch, was sich in der Vielzahl der Begriffe widerspiegelt. Die Einfuhrung alternativer Termini mit jeweils feinen Nuancierungen ist ein Versuch, Defizite vorhergegangener Begriffe auszugleichen und auf die Diversitat des Phanomens hinzuweisen. Heidi Rosch schlagt beispielsweise eine Differenzierung zwischen ,Migrations- und Migrant*innenliteratur‘ vor, um jeweils andere Schwerpunkte zu setzen: Wahrend sich ,Migrationsliteratur‘ auf Literatur von Autor*innen mit Migrationshintergrund bezieht und ihre Biografie in den Vordergrund stellt (unabhangig davon, ob die Werke Migration zum Thema haben) definiert sich ,Migrant*innenliteratur‘ durch die im Werk thematisierte Migration, nicht aber durch die Autor*innenbiografie.9 Dies veranschaulicht die ambivalenten Positionen innerhalb des Diskurses und die nach wie vor bestehende Unscharfe bezuglich Zuordnung und Benennung. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass derartige Kategorisierungen in der Arbeit stets unter Anfuhrungszeichen gesetzt wurden, um auf die Begriffsproblematik aufmerksam zu machen.

2.2 Entwicklung der ,Migrationsliteratur‘ im deutschsprachigen Raiim

Bis vor 20 Jahren wurde in der Literaturgeschichte die osterreichische Literatur ausschlieBlich als eine deutschsprachige aus Osterreich verstanden. Ein Umdenken seitens der Germanistik und Literaturwissenschaften fand erst durch Publikationen wie jene von Gerald Nitsche „Osterreichische Lyrik und kein Wort Deutsch“ (1990) oder „Buch der Rander“ (1992) von Karl-Markus GauB statt, die ,Migrations- und Minderheitenliteratur‘ erstmals als Bestandteil der osterreichischen kulturellen Szene etablierten. Grund fur die lange Missachtung des kulturell ,Fremden‘ und somit auch von Autor*innen, die nicht in Osterreich geboren wurden, aber auf Deutsch bzw. zweisprachig schreiben, ist die Tatsache, dass die Inhalte der Literaturwissenschaften im 19. Jahrhundert mit der Vorstellung eines Nationalstaats verknupft waren, wodurch ,Fremdes‘ keinen Eingang in den Literaturkanon fand.10 Eine literaturwissenschaftliche Beschaftigung mit und Sensibilisierung fur jene Literatur fand in Osterreich erst Mitte der 1990er-Jahre statt.11 Ein weiterer Grund ist GauB zufolge die intensive literarische Aufarbeitung der ,eigenen‘ Landesgeschichte im Zweiten Weltkrieg und der daraus resultierenden Ignoranz der osterreichischen Literatur gegenuber ,anderer‘, der osteuropaischen im Speziellen. Zusatzliches Desinteresse an Mittel- und Osteuropa, trotz der engen geografischen wie historischen Verbindung, entstand durch den Mythos des ruckstandigen Ostens, was sich erst Anfang des 21. Jahrhunderts mit Vladimir Vertlibs und Dimitre Dinevs Eintritt in die breite offentliche Aufmerksamkeit anderte. 12

[...]


1 Vgl. Leon Grinberg, Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils. Stuttgart: Klett-Cotta 2010, S. 12.

2 Helmut Schmitz: Einleitung: Von der nationalen zur internationalen Literatur. In: Amsterdamer Beitrage zur neueren Germanistik. Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hg. v. Helmut Schmitz. Amsterdam: Rodopi B.V. 2009, S. 7.

3 Vgl. Joanna Flinik: Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch. Zur gegenwartigen deutschsprachigen Migrantenliteratur. In: Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hg. v. Carsten Gansel u. Elisabeth Herrmann. Gottingen: V&R unipress 2013, S. 173.

4 Vgl. Julya Rabinowich: Spaltkopf. Wien: edition exil 2008, S. 187.

5 Eine vollstandige Ubertragung der Biografie Rabinowichs auf „Spaltkopf“ ist im Sinne einer autorenzentrierten Leseart oder gar einer Gleichsetzung von Verfasserin und Hauptfigur hochst problematisch, wie noch erlautert wird. Rabinowich selbst betont explizit, dass das Autobiografische zwar den Ursprung ihres Werkes bildet, sie zusatzlichen Input aber aus ihrer Arbeit mit traumatisierten Gefluchteten schopfte (vgl. Dorota Sosnicka: Die Fremde, die man in sich tragt: Zum Erzahlverfahren im Roman „Spaltkopf“ von Julya Rabinowich. In: Neue Stimmen aus Osterreich. Hg. v. Joanna Drynda u. Marta Wimmer. Frankfurt am Main: Peter Lang Edition 2013, S. 83).

6 Vgl. Dorota Sosnicka: Die Fremde, die man in sich tragt: Zum Erzahlverfahren im Roman „Spaltkopf“ von Julya Rabinowich. In: Neue Stimmen aus Osterreich. Hg. v. Joanna Drynda u. Marta Wimmer. Frankfurt am Main: Peter Lang Edition 2013, S. 81.

7 Zitiert aus http://editionexil.at/index.php?id=4 (Zugriff: 28.7.2020).

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Heidi Rosch: Deutschunterricht in der Migrationsgesellschaft. Eine Einfuhrung. Stuttgart: J. B. Metzler 2017, S.72.

10 Vgl. Nicola Mitterer, Werner Wintersteiner: Zu diesem Band. In: Und (k)ein Wort Deutsch .. . Literaturen der Minderheiten und MigrantInnen in Osterreich. Hg. v. Nicola Mitterer u. Werner Wintersteiner. Innsbruck: StudienVerlag 2009, S. 11-12.

11 Vgl. Eva Binder, Birgit Mertz-Baumgartner: Exilliteratur - Diasporaliteratur - Migrationsliteratur. Einfuhrende Bemerkungen. In: Migrationsliteraturen in Europa. Hg. v. Eva Binder u. Birgit Mertz- Baumgartner. Innsbruck: innsbruck university press 2012, S. 9.

12 Vgl. Gunther Stocker: Neue Perspektiven. Osteuropaische Migrationsliteratur in Osterreich. In: LebensSpuren. Begegnung der Kulturen 2009, S. 1-3; http://www.lebensspuren.net/kulturen/fremdenbilder/1002_osteuropaeische_migrationsliteratur.html (Zugriff: 27.7.2020).

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Adoleszenz als zweite Immigration. Parallelen zwischen der Phase des Erwachsenwerdens und dem Prozess einer Einwanderung in Julya Rabinowichs "Spaltkopf"
Hochschule
Universität Wien
Note
2,0
Seiten
20
Katalognummer
V1243563
ISBN (eBook)
9783346668165
ISBN (Buch)
9783346668172
Sprache
Deutsch
Schlagworte
adoleszenz, immigration, parallelen, phase, erwachsenwerdens, prozess, einwanderung, julya, rabinowichs, spaltkopf
Arbeit zitieren
Anonym, Adoleszenz als zweite Immigration. Parallelen zwischen der Phase des Erwachsenwerdens und dem Prozess einer Einwanderung in Julya Rabinowichs "Spaltkopf", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1243563

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