Die Broch-Forschung als Problem der Literaturwissenschaft

Eine kritische Analyse


Fachbuch

18 Seiten


Leseprobe


Inhalt:

I. Problemstellung

II. Kritik der Brochschen Theologie in ihren Grundzügen

III. Kritik der Broch-Forschung in ihren Grundzügen

IV. Fazit

Literaturverzeichnis

I. Problemstellung

Mit seinen Romanen „Die Schlafwandler“ (1932) und „Der Tod des Vergil“ (1945) zählt Hermann Broch (1886-1951) zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Wenig bekannt ist dagegen sein umfangreiches theoretisches Werk, das erst nach seinem Tod im Rahmen der ersten Gesamtausgabe des Rhein-Verlags Zürich (1952-61) einem größeren Lesepublikum zugänglich gemacht wurde. In den Mittelpunkt des literaturwissenschaftlichen Interesses an Broch rückte damit auch die bereits im dritten Teil der Schlafwandler-Trilogie vorgelegte und in zahlreichen Essays weiterentwickelte Theorie vom Zerfall des für die europäische Zivilisation seit der Spätantike verbindlichen christlichen Weltbilds und des mit ihm verbundenen Wertesystems. Bereits in der ersten Phase der Rezeptionsgeschichte, in den beiden ersten Jahrzehnten nach Brochs Tod, ist die argumentative Überzeugungskraft dieser Essays, insbesondere hinsichtlich ihrer Einbeziehung politischer und massenpsychologischer Fragestellungen, kritisch beurteilt worden. Aber erst in der 1970 erschienenen Tübinger Dissertation von Karl Menges1 wurden die Vorbehalte gegen Brochs theoretische Überlegungen einer fundierten erkenntniskritischen Analyse unterzogen. Menges konnte nachweisen, dass Brochs Wertphilosophie, insbesondere in ihrer Bezugnahme auf Autoritäten wie Descartes, Kant und Schopenhauer, weder überzeugend konzipiert noch argumentativ schlüssig begründet ist. Darüber hinaus aber kam er zu dem Ergebnis, dass Brochs im Wesentlichen konservativ geprägtes Weltbild im Kontext der „antidemokratischen Bewegung“2 der Weimarer Republik anzusiedeln ist.

Eine von Paul Michael Lützeler, dem Herausgeber der Kommentierten Werkausgabe (1974-81) bis heute dominierte Richtung der Broch-Forschung, hat aus Menges‘ Befund keine Konsequenzen gezogen und ungeachtet dessen das Erscheinungsbild des Autors als „bezwingende Persönlichkeit“ mit einer besonderen „Witterung für die wesentlichen Vorgänge des Zeitalters“3 vor allem mit der Erkenntnisleistung seiner theoretischen Schriften in Verbindung gebracht. Menges selbst legte 1977 ein Resümee über den Stand der Broch-Forschung vor, in dem er bezüglich der damals als wegweisend eingestuften Arbeiten von Ernestine Schlant und Paul Michael Lützeler4 zu der Feststellung kommt, dass hier eine Interpretationsbasis geschaffen wird, „deren Charakteristikum in einer nicht unproblematischen Sedimentierung und Kanonisierung des Brochschen Selbstverständnisses besteht“5. Wie sehr sich jedoch, ungeachtet dieses Befunds, ein mit der Broch-Forschung seither eng verbundenes „Problem des hermeneutischen Verstehens“6 festgesetzt hat, dokumentieren die Beiträge des 2015 erschienen Hermann-Broch-Handbuchs7, in denen Standards literaturwissenschaftlicher Analyse teilweise umgangen werden zugunsten einer affirmativen, durchgängig unkritischen Hypostasierung des Autors.

Im Folgenden geht es darum, zunächst den Grundansatz der Brochschen Wertphilosophie in ihrer Eigenart als „Theologie“ offenzulegen, um anschließend die Methodik einer affirmativ verfahrenden Forschung in ihrem Bestreben, Brochs theoretische Schriften (auch im Hinblick auf sein literarisches Werk) als grundsätzlich bedeutsam ausweisen zu wollen, kritisch zu hinterfragen. Des Weiteren kann an einzelnen Beiträgen des Handbuchs aufgezeigt werden, wie die Verfahrensweise dieser Forschungsrichtung den Totalitäts- bzw. Wahrheitsanspruch Brochschen Denkens, auch und vor allem in seinen politischen Konsequenzen, bestätigt und untermauert.

II. Kritik der Brochschen Theologie in ihren Grundzügen

Im Rahmen der ersten Gesamtdarstellung von Brochs „Philosophie“ ist versucht worden, die Darstellung seines „geschlossenen“ Systems bewusst nicht mit der Frage zu verbinden, „ob und zu welchem Grund Hermann Broch ein unabhängig denkender Philosoph war“ und „wieweit und in welcher Beziehung er von anderen Philosophen“ möglicherweise beeinflusst wurde8. In der Broch-Forschung gilt dementsprechend bis heute unausgesprochen die Meinung, dass das Verständnis von „Brochs Denken als unmittelbare(r) Größe“9 eine hermeneutisch besondere Form des Zugangs auch zu seinem theoretischen Werk erfordere. Indirekt wurde diesem damit der Status einer Botschaft mit quasi religiösem Wahrheitsanspruch zuerkannt und dem Verstehen dieser „Botschaft“ die Bedeutung einer Erkenntnis von „Wahrheit“ zugesprochen.

Broch denkt in den Kategorien der idealistischen Subjektphilosophie, mit deren Hilfe er ein psychisches Modell konstruiert, ausgehend von der These, dass „das autonome Ich ... sich in einem ständigen Wahrheitszustand“10 befinde. Dieser „Zustand“ äußert sich auf der Handlungsebene des Subjekts in einem „Wertstreben“, das zwar zu „Wert-Erfüllungen“ und „Triebbefriedigungen“11 führt, die Verwirklichung des eigentlich angestrebten Ideals ganzheitlicher Selbst- und Weltwahrnehmung jedoch nicht gewährleistet. Um dies zu ändern, muss das an ein mystisches „Ewigkeitsgefühl“12 gekoppelte, subjektive Wahrheits- und Wertebewusstsein sich der Autorität einer „unmittelbaren Größe“ (Menges) unterwerfen, um aus seiner sozialen Isolation heraustreten und an einem nunmehr kollektiv vermittelten „Wahrheitsgefühl“13 partizipieren zu können. Diese, gleichsam von höherer Instanz legitimierte Autorität aber soll über ein Wissen verfügen, das, ausgestattet mit der Kompetenz einer „letzten axiomatischen Plausibilität“, sich konkretisiert im Befehl: „So ist es und nicht anders“14.

Integriert in dieses psychische Modell ist nach Broch eine die „Selbstgarantie aller Wahrheit“ verbürgende Gewissensinstanz, die sich in der „Unfähigkeit des Ichs sich selbst zu belügen“15 artikuliert. Mit Hilfe dieser (psychologisch zumindest problematischen) These gelingt es Broch, die mit dem „Wahrheitszustand“ verbundene Gefahr, in „absolute Vereinsamung“16 geraten zu können, durch unbedingte Angleichung des Subjekts an das autoritäre Ich, gewissermaßen zu neutralisieren. Auf diesem Weg kann schließlich der alle Isolation letztlich aufhebende und alle Gemeinschaft tragende „mystische Urgrund“17 dem subjektiven Bewusstsein über die Anerkennung des Hoheitsanspruchs der autoritären Ich-Instanz vermittelt werden. In dieser Konstruktion gründen sowohl Totalität als auch Irrationalität des Brochschen Weltbilds.

Brochs theoretische Texte sind Ausdruck einer kulturkritischen Haltung, die die „Legitimität der Neuzeit“(Blumenberg) grundsätzlich in Frage stellt und sich mit „der endgültigen Liquidierung der Theologia“18 nicht abzufinden bereit ist. Dahinter steht die Nichtanerkennung des Säkularisierungs­prozesses als eines kulturgeschichtlichen Vorgangs, der den theologisch begründeten Absolutheitsanspruch der Religion auf „Alldurchdringung des Rationalen und Irrationalen“19 außer Kraft gesetzt hat. Die mit der Aufklärung vollzogene Selbstbefreiung der Vernunft von jeder Form theologischer Präformierung – Voraussetzung für die ihr von Kant zugewiesene Funktion als „praktische“ – bedeutet für Broch letztlich eine Reduktion ihrer Möglichkeiten im Hinblick auf ein Weltbild, dessen Relevanz für die Aufrechterhaltung eines bestimmten sozialen Gefüges, wesentlich von einem stabil verinnerlichten Wahrheitsbewusstsein der jenes Gefüge tragenden Individuen abhängt. Politisch funktionsfähig ist eine solche Struktur jedoch nur auf der Basis autoritärer Führungsinstanzen. Der die Struktur stützende, religiös fundierte Wahrheitsbegriff superveniert bei Broch über denjenigen der (aufgeklärten) Vernunft, einschließlich der prekären Aufhebung des Gegensatzes von Rationalem und Irrationalem. Für Broch zerfällt das kompakte statische Weltbild der Scholastik, initiiert durch die nominalistische Wendung zur Sprache der Dinge, „zum neuen Positivismus“20, jenem „Unglauben“, der zum Signum der Moderne und zum Motor jenes von Broch beklagten universellen Zerfalls der Werte wurde, tatsächlich aber die Etablierung des heute allein maßgeblichen, demokratischen Politikverständnisses ermöglicht hat.

Indem Broch den Vernunftbegriff einem der scholastischen Theologie verpflichteten Wahrheitsbegriff unterordnet, bleiben die Ergebnisse seiner Reflexionen, insbesondere auch zur Ethik, nicht anschlussfähig an eine in der Kantischen Philosophie von allen Beimischungen metaphysischer Art bereinigte Konzeption von Vernunft und der auf dieser aufbauenden Entwicklung spezifisch säkularisierter Weltbilder. Deren Eigenart aber besteht gerade darin, einer evolutionsbedingten Entwicklung zu folgen, die eine für die Moderne konstitutive „Geistigkeit der humanen Lebensform“ ohne Rückbindung an einen religiös oder metaphysisch präformierten Wahrheits- (bzw. Wert-) Begriff hervorgebracht hat. Dementsprechend macht „im Verständnis einer säkular gewordenen Welt … der Rekurs auf absolute Werte … keinen Sinn“21 und gilt die von Broch immer wieder kritisierte Ausdifferenzierung autonomer Wertbereiche heute gerade als Ausweis eines spezifisch modernen, „säkularen Humanismus“22. Broch will demgegenüber an einem „Wertgefüge“ festhalten, das „dem umfassenden Lebenswert des Glaubens unterworfen“ ist und ein Weltbild impliziert, das, angesiedelt jenseits aller geschichtlichen Dynamik, „im Sein, nicht im Werden“23 gründet. Broch folgt hier der katholischen Lehre von einer, die Prinzipien von Ratio und Irratio übergreifenden, „Wahrheit des Seins“24, wenn er das „Wahrheitsgefühl“ des Gläubigen als Bewusstsein der „umfassenden Evidenz einer Bejahung, die alles Erleben … kognitiv begleitet“25, definiert. Brochs gewissermaßen paradoxe Erweiterung des Vernunftvermögens auf den Bereich des Irrationalen korrespondiert so mit der im Glaubensakt vollzogenen auf den Bereich des Rationalen26. Im Rahmen einer solchermaßen subjektivistisch konzipierten Theologie aber eröffnet sich die Möglichkeit, auch irrationalste Thesen (wie etwa die einer möglichen Überwindung des Todes) mit philosophischem Anspruch vertreten zu können. Das ideologische Profil dieser Konzeption offenbart sich freilich erst auf der Ebene empirisch bedingter, politischer Fragestellungen.

Glaubensverlust durch Aufklärung ist für Broch identisch mit „Erkenntnisabfall“, der in letzter Konsequenz zu einer „der Menschheit drohenden Strafe apokalyptischen Ausmaßes“27 führt.

[...]


1 Karl Menges, Kritische Studien zur Wertphilosophie Hermann Brochs, Tübingen 1970.

2 Ebd., S.146.

3 Wolfgang Rothe, Hermann Broch als politischer Denker, in: Hermann Broch. Perspektiven der Forschung, hrsg. v. Manfred Durzak, München 1972, S.402.

4 Ernestine Schlant, Die Philosophie Hermann Brochs, Bern/München 1971; Paul Michael Lützeler, Hermann Broch. Ethik und Politik. Studien zum Frühwerk und zur Romantrilogie „Die Schlafwandler“, München 1973.

5 Wolfgang Freese/Karl Menges, Broch-Forschung. Überlegungen zur Methode und Problematik eines literarischen Rezeptionsvorgangs, München 1977, S.12.

6 Ebd., S.14.

7 Hermann-Broch-Handbuch, hrsg. v. Michael Kessler und Paul Michael Lützeler, Berlin/Boston 2015.

8 Schlant, Die Philosophie Hermann Brochs, a.a.O., S.5.

9 Freese/Menges, Broch-Forschung, a.a.O., S.31.

10 Hermann Broch, Werttheoretische Bemerkungen zur Psychoanalyse (1936), in: Hermann Broch, Philosophische Schriften 2 (Theorie), Frankfurt/ Main 1977, S.180f.

11 Ebd., S.189.

12 Ebd., S.185.

13 Hermann Broch, Die Schlafwandler. Eine Romantrilogie (1932), Frankfurt/Main 1994, S.471 (Logischer Exkurs).

14 Ebd.

15 Hermann Broch, Genesis des Wahrheitsproblems innerhalb des Denkens und seine Lokalisierung im Rahmen der idealistischen Kritik (ca.1926), in: Broch, Philosophische Schriften 2, a.a.O., S.230.

16 Ebd., S.231.

17 Ebd.

18 Hermann Broch, Theologie, Positivismus und Dichtung (ca.1934), in: Hermann Broch, Philosophische Schriften 1 (Kritik), Frankfurt/Main 1977, S.211.

19 Ebd., S.193.

20 Ebd.

21 Günter Dux, Die Logik in der Geschichte des Geistes. Der Prozess der Säkularisierung, Wiesbaden 2018, S.15.

22 Ronald Dworkin, Religion ohne Gott, Frankfurt/Main 2014, S.18.

23 Broch, Die Schlafwandler, a.a.O., S.497.

24 Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968, S.49.

25 Broch, Theologie, Positivismus und Dichtung, a.a.O., S.191.

26 Dem entspricht auch die einem unreflektierten Logizismus folgende Formel: „Unglauben ist invertierter Glaube, Glaube ist invertierter Unglaube“ (Broch, Theologie, Positivismus und Dichtung, a.a.O., S.192).

27 Hermann Broch, Geschichtsgesetz und Willensfreiheit (ca.1941), in; Hermann Broch, Massenpsychologie. Gesammelte Werke Band 9, Zürich 1959, S.301.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Broch-Forschung als Problem der Literaturwissenschaft
Untertitel
Eine kritische Analyse
Autor
Seiten
18
Katalognummer
V1243715
ISBN (eBook)
9783346652188
ISBN (Buch)
9783346652195
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Broch-Forschung, Hermann Broch, Broch, Broch Forschung
Arbeit zitieren
Dr. Karlheinz Gradl (Autor:in), Die Broch-Forschung als Problem der Literaturwissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1243715

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