Regionale Autonomie als Folge politischer Entwicklungen in Indonesien seit 1998


Magisterarbeit, 2007

106 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Klärung zentraler Begriffe
2.1. Dezentralisierung
2.1.1. Administrative Dezentralisierung
2.1.2. Fiskalische Dezentralisierung
2.1.3. Politische Dezentralisierung
2.1.4. Kulturelle Dezentralisierung
2.2. Regionale Autonomie
2.3. Föderalismus

3. Zur Entstehung des zentralistischen Staatsaufbaus in Indonesien
3.1. Natürliche Gegebenheiten
3.2. Vorkoloniale Königreiche und ihr Staatsaufbau
3.3. Die Etablierung des Zentralismus unter der niederländischen Kolonialherrschaft
3.4. Zentralismus und Dezentralisierung im unabhängigen Indonesien bis 1998
3.4.1. Die Formierung des indonesischen Staates und die Absage an den Föderalismus
3.4.2. Dezentralisierungsbemühungen und Rezentralisierung bis 1965
3.4.3. Die zunehmende Zentralisierung in der Soeharto-Ära
3.5. Zusammenfassung

4. Dezentralisierung und Regionale Autonomie seit 1998
4.1. Demokratisierung und erste Dezentralisierungsmaßnahmen unter Habibie
4.2. Die neuen Gesetze zur Dezentralisierung
4.2.1. Das Gesetz 22/1999 zur Regionalregierung
4.2.1.1. Bewertung
4.2.2. Das Gesetz 25/1999 über den Finanzausgleich zwischen der Zentralregierung und den Regionen
4.2.2.1. Bewertung
4.2.3. Das Gesetz 32/2004 zur regionalen Regierungsausübung
4.2.3.1. Bewertung
4.3. Die Implementation der neuen Gesetze
4.4. Zusammenfassende Bewertung der bisherigen Dezentralisierungsmaßnahmen seit 1998

5. Fallstudie 1: Dezentralisierungsprozesse am Beispiel von Banyumas
5.1. Geographische Angaben
5.2. Geschichtliche Daten
5.3. Kulturelle Besonderheiten
5.4. Der Banyumas-Dialekt und sein Status
5.5. Die Bemühungen um eine eigenständige Provinz Banyumas
5.6. Stimmen aus der Bevölkerung zur angestrebten Provinzgründung
5.7. Fazit

6. Fallstudie 2: Dezentralisierungsprozesse am Beispiel von Tapanuli
6.1. Geographische Angaben
6.2. Ethnische und religiöse Zusammensetzung
6.3. Die Bemühungen um eine eigenständige Provinz Tapanuli
6.4. Argumente der Befürworter einer Provinzgründung
6.5. Argumente der Gegner
6.6. Fazit

7. Fallstudie 3: Dezentralisierungsprozesse am Beispiel von Sulawesi Selatan
7.1 Geographische Angaben
7.2 Dezentralisierung in Sulawesi Selatan: Eine Chronologie der bisherigen Ereignisse
7.3. Mamasas langer Weg zum eigenen kabupaten
7.3.1. Der Fall ATM
7.4. Luwu: Bisherige Dezentralisierungsprozesse und geschichtlicher Überblick
7.4.1. Gewaltsame Konflikte und aktuelle Dezentralisierungsprozesse
7.4.2. Die Pläne zur Gründung einer eigenständigen Provinz Luwu Raya
7.4.3. Stimmen aus der Bevölkerung zur angestrebten Provinzgründung
7.5. Fazit

8. Schlussbetrachtung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

„Bhinneka Tunggal Ika“ - „Einheit in der Vielfalt“ – schon aus dem Staatsmotto Indonesiens wird einer der Grundkonflikte des größten in einer Nation zusammengefassten Inselarchipels der Erde ersichtlich: Es herrscht ein Widerspruch zwischen der natürlichen Heterogenität des Landes, das aus rund 13.000 Inseln besteht, die von 300 verschiedenen Ethnien bewohnt werden, und seinem Anspruch, einen stabilen Einheitsstaat zu bilden. Weiterhin stellt sich die Frage nach der geeigneten Verwaltungsform für ein derartiges Land. Diese Frage wurde von den meisten der bisherigen Machthaber in einer eindeutigen Weise beantwortet: Indonesien verfügt über eine lange zentralistische Tradition, die mit den präkolonialen Königreichen auf dem Gebiet des heutigen Indonesiens begann, sich mit der Verwaltungsstruktur des niederländischen Kolonialreiches „Niederländisch-Indien“ fortsetzte und im unabhängigen Indonesien unter der autoritären Herrschaft der ersten beiden Präsidenten Soekarno und Soeharto ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Zwischenzeitliche Bemühungen, das Land zu dezentralisieren, wurden zumeist nur halbherzig durchgeführt und blieben im Ansatz stecken.

Der Sturz des Soeharto-Regimes im Jahre 1998 und die folgende Demokratisierung des Landes bildeten jedoch die bisher wohl größte Zäsur in der Geschichte des unabhängigen Indonesiens. Mehr als acht Jahre nach dem Sturz Soehartos scheint es, dass sich das Land von seinen autoritären Fesseln gelöst und sich ein stabiles demokratisches Regierungssystem etabliert hat. Zahlreiche Minderheiten, die jahrzehntelang unterdrückt worden waren, konnten sich endlich frei artikulieren und ihre Rechte einfordern. Dies machte auch eine umfangreiche Reform der Administration notwendig, die zuerst in zwei Dezentralisierungsgesetzen zum Ausdruck kam, die 1999 verabschiedet wurden und 2001 in Kraft traten. Durch einen umfassenden Macht- und Finanztransfer auf die lokalen Verwaltungen sollte der heterogenen Landesnatur Rechnung getragen und gleichzeitig ein Auseinanderbrechen des indonesischen Nationalstaats verhindert werden. Dezentralisierung bleibt im Indonesien der Post-Soeharto-Ära allerdings keineswegs auf die administrative Ebene beschränkt, sie kommt auch in einer Wiederbelebung lokaler Sprachen und Traditionen, aber auch in bedenklichen Entwicklungen, wie einer steigenden Zahl von blutigen Konflikten zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und einer wachsenden Radikalisierung einiger religiöser Gruppen zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund solch immenser Probleme ist es sicherlich nicht verwunderlich, dass manche Beobachter bereits von einer „Balkanisierung“ Indonesiens sprechen. Eine erste Reaktion der Zentralregierung auf diese Probleme bestand darin, mit Gesetz 32/2004 einige der eingeleiteten Dezentralisierungsreformen wieder rückgängig zu machen, um die Entwicklungen in dem gewaltigen Inselstaat einigermaßen unter Kontrolle halten zu können.

Umfangreich ist die Literatur, die zum Thema „Dezentralisierung in Indonesien“ bereits erschienen ist. Die meisten dieser Arbeiten beschäftigen sich mit einem generellen Überblick über die wichtigsten bisherigen Dezentralisierungsprozesse, die in Indonesien stattgefunden haben, oder analysieren Konflikte in bestimmten Regionen, die im Zuge der wachsenden Dezentralisierung Indonesiens ausgebrochen sind. In den meisten Fällen wird der Fokus der Analyse dabei auf ökonomische und politische Faktoren gelegt.

Diese Arbeit soll sich mit einem wichtigen Teilphänomen der otonomi daerah – der neuen „regionalen Autonomie“ – beschäftigen, nämlich mit der Neugründung von Verwaltungseinheiten (also Provinzen, Distrikten und kreisfreien Städten) – oftmals mit den Schlagwörtern pemekaran („Aufblühen“) oder pembentukan („[Heraus-]Bildung“) bezeichnet – die in den Jahren seit Ende der Soeharto-Herrschaft förmlich auszuufern schienen. Den Fokus meiner Analyse möchte ich auf die jeweiligen Ursachen und Beweggründe für diese Prozesse legen. Dabei soll ein bisher noch etwas vernachlässigter Ansatz, der über die offiziell vorherrschenden politischen, administrativen und ökonomischen Erklärungsansätze hinausgehen möchte und vor allem nach sprachlichen, kulturellen, ethnischen, religiösen und historischen Faktoren hinter der Gründung neuer administrativer Einheiten sucht (vgl. z.B. Nothofer 2006), weiterverfolgt und kritisch hinterfragt werden. Anhand dreier Fallstudien, die sich mit entsprechenden Entwicklungen in den Regionen Banyumas, Tapanuli und Sulawesi Selatan (Sulsel) beschäftigen, sollen dazu die jeweiligen offiziellen Begründungsansätze der lokalen Politiker den Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung, die sich z.B. in Internet-Foren finden, gegenübergestellt werden.

Die Fallstudien wurden mit Bedacht ausgewählt, da möglichst verschiedene Fälle miteinander verglichen werden sollen: Ein Dezentralisierungsprozess auf der indonesischen Hauptinsel Java wird Fällen auf den Inseln Sumatra und Sulawesi gegenübergestellt; die jeweiligen Begründungsansätze für die pemekaran- Prozesse sind untereinander z.T. sehr verschieden; und es werden zwei bisher friedlich verlaufene Prozesse einem Fall gegenübergestellt, in dem es zu Ausbrüchen von Gewalt kam. Darüber hinaus befinden sich die verschiedenen vorgestellten Fälle in einem unterschiedlichen Entwicklungsstadium mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten. Besonders im Falle Sulsels, einer Region, in der die otonomi daerah besonders weitreichende und vielfältige Auswirkungen hatte, stellte sich dabei das Problem der Abgrenzung des Themenbereichs. Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, habe ich mich auf pemekaran- Prozesse und damit in irgendeiner Weise zusammenhängende Konflikte auf dem (ehemaligen) Territorium der Provinz Sulsel beschränkt, während auf andere Folgen der Dezentralisierung, wie beispielsweise die Diskussion über die Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, in Sulsel (vgl.z.B. Pradadimara/Burhaman 2002, Donohoe 2004), nicht weiter eingegangen wird.

Im Schlusskapitel dieser Arbeit sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Fälle herausgearbeitet werden, so dass ersichtlich wird, ob sich der von mir verfolgte Grundansatz dieser Arbeit zur Analyse von Dezentralisierungsprozessen in Indonesien generell eignet. In einem abschließenden Ausblick soll eine These über den Einfluss der pemekaran- Prozessen auf den nationalen Zusammenhalt aufgestellt sowie ein Szenario für die Zukunft des indonesischen Staates hinsichtlich seines administrativen Aufbaus und seiner nationalen Einheit entworfen werden.

2. Klärung zentraler Begriffe

Bevor auf Dezentralisierung, regionale Autonomie und Föderalismus im spezifischen Kontext Indonesiens eingegangen wird, soll zunächst eine kurze Definition dieser Termini erfolgen.

2.1. Dezentralisierung

Dezentralisierung lässt sich laut Bünte als ein „Sammelbegriff “ charakterisieren, „der sich auf Prozesse der Lockerung der Macht der Zentralregierung bezieht“ (Bünte 2003a: 566). Zur genaueren Unterscheidung der verschiedenen Ausprägungen von Dezentralisierung wird eine Einteilung in administrative, fiskalische und politische Dezentralisierung vorgenommen. Diese Einteilung möchte ich durch meinen eigenen Entwurf eines vierten Typus von Dezentralisierung ergänzen, nämlich die kulturelle Dezentralisierung.

2.1.1. Administrative Dezentralisierung

Unter administrativer Dezentralisierung wird die Verteilung von Verwaltungsaufgaben auf verschiedene zentrale und lokale Organisationen verstanden. Je größer die Verteilung auf unterschiedliche Ebenen der Verwaltungsstruktur, desto fortgeschrittener diese Form der Dezentralisierung (vgl. Bünte 2003a: 566).

Analog zur Einteilung, die vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen vorgenommen wurde, unterscheidet Bünte drei Stufen der administrativen Dezentralisierung: Devolution, Delegation und Dekonzentration.

Devolution bezeichnet dabei die weitreichendste Übertragung von Kompetenzen auf subnationale Ebenen der Verwaltungsstruktur. Merkmale der Devolution sind, dass die lokalen Einheiten über eine eigene – meist gesetzlich verankerte – Regelungskompetenz verfügen, also eigenständig Projekte planen und durchführen können und dürfen.

Bei der Delegation hingegen gibt die Zentralregierung Befugnisse an Organisationen ab, die außerhalb des politisch-administrativen Systems stehen. Aus diesem Grund ist mit dieser Form der administrativen Dezentralisierung nicht zwangsläufig eine Stärkung der lokalen Ebene verbunden.

Dekonzentration schließlich bezeichnet die Abgabe von Verwaltungsaufgaben an lokale Einheiten, die Teil der nationalen Verwaltung bleiben. Diesen Untereinheiten obliegt in den meisten Fällen nur die Implementierung von Entscheidungen, die weiterhin von der Zentralregierung getroffen werden. Somit führt Dekonzentration nicht zu einer stärkeren Partizipation der lokalen Ebene, sondern kann im Gegenteil sogar zu einer Stärkung des Zentralismus führen (vgl. Bünte 2003a: 566f.).

2.1.2. Fiskalische Dezentralisierung

Unter fiskalischer Dezentralisierung wird die „finanzielle Stärkung lokaler Einheiten durch den Transfer von Steuern, Gebühren und staatlichen Transferleistungen“ verstanden (Bünte 2003a: 567). Voraussetzung dafür ist, dass die lokalen Einheiten über ihre finanziellen Ressourcen selbständig verfügen können. Zu diesem Zweck müssen die lokalen Einheiten Steuern und Gebühren selbst erheben können. Weitere Bedingungen für den Erfolg der fiskalischen Dezentralisierung sind die Etablierung eines gerechten Transfersystems zwischen den Regionen, das dazu beiträgt, ihre Lebensverhältnisse aneinander anzugleichen, sowie ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zwischen der Abgabe politischer Macht und dem Machttransfer durch Kontrolle über finanzielle Ressourcen (Konnexitätsprinzip) (vgl. Bünte 2003a: 567, 2003b: 38ff.).

2.1.3. Politische Dezentralisierung

Unter dem Terminus der politischen Dezentralisierung schließlich versteht man die „Übertragung politischer Macht auf gewählte Lokalregierungen“ (Bünte 2003a: 567). Die politische Partizipation des einzelnen Bürgers und der Einfluss der von ihm gewählten Repräsentanten sollen erhöht werden. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist die Existenz subnationaler Einheiten, die den Bewohnern ihrer jeweiligen Region gegenüber rechenschaftspflichtig sind. Da eine Dezentralisierungsbewegung ohne die Berücksichtigung der politischen Komponente wirkungslos bleibt – wie auch Studien der Weltbank bestätigen – wird also das Prinzip der Devolution mit dem Demokratiekonzept verbunden (vgl. Bünte 2003a: 567).

2.1.4. Kulturelle Dezentralisierung

Unter kultureller Dezentralisierung soll eine durch die Zentralregierung geförderte stärkere Berücksichtigung regionalspezifischer Sprachen, Religionen und Traditionen verstanden werden. Sie kann sich beispielsweise darin zeigen, dass religiöse Minderheiten bei der freien Ausübung ihrer Religion unterstützt werden oder dass ethnischen Minderheiten das Recht zugebilligt wird, ihre eigene Sprache in Medien und bei Ortsbezeichnungen zu verwenden sowie in den regionalen Lehrplan aufzunehmen. Das Konzept der kulturellen Dezentralisierung beinhaltet auch, dass in der regionalen Verwaltung auf traditionelle Strukturen zurückgegriffen werden darf, was im Falle eines Vielvölkerstaates wie Indonesien von zentraler Bedeutung ist.

2.2. Regionale Autonomie

Regionale Autonomie bezeichnet das Ziel von Dezentralisierungsprozessen, also einen Zustand, in dem es den Regionen ermöglicht ist, über ihre Angelegenheiten selbständig zu entscheiden.

Region ist nicht nur als Sammelbegriff für alle unterhalb des Zentralstaates angesiedelten administrativen Ebenen zu verstehen, der auf Indonesien übertragen Provinzen (propinsi), Distrikte (kabupaten), kreisfreie Städte (kotamadya), Subdistrikte (kecamatan) oder auch Gemeinden (kelurahan) oder Dörfer (desa) bezeichnen kann, sondern auch als historisch gewachsene Einheit, deren Bewohner auf Grund einer gemeinsamen Sprache, Kultur oder Geschichte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verspüren, unabhängig davon, ob ihre Region auch unter administrativen Gesichtspunkten eine Einheit bildet.

Autonomie (griechisch: Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung) bezeichnet nach der politikwissenschaftlichen Definition „das Recht und die Fähigkeit von Gemeinwesen, Vereinigungen und Institutionen, alle oder meist bestimmte Angelegenheiten durch eigene Gesetze bzw. Satzungen selbständig zu regeln“ (Drechsler/Hilligen/Neumann 2003: 82). Wichtig ist ferner die Unterscheidung zwischen Autonomie und Sezession, bei der im Gegensatz zur Autonomie eine Lostrennung vom Staat angestrebt wird. Allerdings können Autonomiebestrebungen in einer bestimmten Region langfristig ebenfalls deren vollständige Souveränität zur Folge haben, wie es im Fall Indonesiens bei Ost-Timor eingetreten ist (vgl. Drechsler/Hilligen/Neumann 2003: 82).

2.3. Föderalismus

Unter Föderalismus soll hier ein staatliches Organisationsprinzip verstanden werden, bei dem der Staat (Bund) aus Einzelstaaten aufgebaut ist. Diese Einzelstaaten werden entweder zu einem Bundesstaat (Föderation) zusammengeschlossen, in dem die oberste Souveränität beim Bund liegt, oder zu einem Staatenbund (Konföderation), in dem die Souveränität bei den einzelnen Gliedstaaten verbleibt. Beispiele für Bundesstaaten sind die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Kanada und die Schweiz, für Staatenbunde die Benelux-Staaten als Gesamtheit. In einem föderal aufgebauten Staat sollen den Einzelstaaten so viele Kompetenzen wie möglich übertragen werden, während der Bund nur die Aufgaben übernimmt, zu deren Verrichtung sich die Einzelstaaten nicht im Stande fühlen (vgl. Drechsler/Hilligen/Neumann 2003: 147f., 354ff., 930f.).

3. Zur Entstehung des zentralistischen Staatsaufbaus in Indonesien

Nachdem nun einige zentrale Begriffe geklärt worden sind, soll zunächst einmal die historische Entwicklung Indonesiens zum zentralistischen Einheitsstaat grob nachgezeichnet werden, bevor etwas ausführlicher auf die Dezentralisierungsbewegungen seit 1998 eingegangen wird.

3.1. Natürliche Gegebenheiten

Fast in jeder Hinsicht ist Indonesien ein sehr heterogenes Land. Wie eingangs bereits erwähnt, besteht der gewaltige Archipel aus rund 13.000 Inseln, die von insgesamt mehr als 300 verschiedenen Ethnien bevölkert werden. Auf diesem riesigen Gebiet leben Angehörige aller vier Weltreligionen, unter denen die Muslime mit einem Anteil von 87 Prozent an der Gesamtbevölkerung den weitaus größten Anteil stellen. Doch bilden auch die indonesischen Muslime keinen monolithischen Block: Nur eine Minderheit unter ihnen praktiziert eine orthodoxe Form des Islam, der Glaube der meisten indonesischen Muslime ist hingegen mit hinduistischen, buddhistischen und animistischen Elementen durchsetzt (vgl. Bünte 2003b: 59f.).

Die geographischen, ethnologischen und religiösen Gegebenheiten Indonesiens stellen sicherlich keine idealen Voraussetzungen für die Entstehung eines Nationalstaates dar, noch weniger eines zentralistisch regierten Einheitsstaates (vgl. Bünte 2003b: 61). Dass sich dieser dennoch herausbildete, kann nur historisch begründet werden. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle zunächst ein historischer Abriss über die Entstehung des zentralistisch geführten Nationalstaats in Indonesien erfolgen.

3.2. Vorkoloniale Königreiche und ihr Staatsaufbau

Bevor die Niederländer ab dem späten 16. Jahrhundert begannen, eine Kolonialherrschaft auf dem Gebiet des heutigen Indonesiens zu errichten, hatte es im Archipel kein Königreich gegeben, das seinen Machtbereich auf das gesamte heutige indonesische Territorium ausdehnen konnte. Dennoch hatten sich bereits in dieser Zeit Vorstellungen über einen zentralistischen Staatsaufbau herausgebildet, die bis in die heutige Zeit hineinwirken.

Die grenzenlosen Machtbefugnisse des Herrschers gründeten sich auf die hinduistisch-buddhistische Kosmologie.[1] Danach galt der Palast des Herrschers (kraton) als Mittelpunkt des Königreichs, der Herrscher selbst wiederum als Mittelpunkt des kraton. In der Praxis jedoch nahm die Macht des Herrschers mit zunehmender geographischer Entfernung vom kraton ab. Darum sahen sich viele der Monarchen gezwungen, zur besseren Kontrolle ihres Reiches regionale Herrscher[2] einzusetzen, die in ihren jeweiligen Regionen teilweise über beträchtliche Kompetenzen verfügten (vgl. Bünte 2003b: 61ff.). Bereits in dieser Zeit zeichnete sich also ein Konflikt zwischen dem unbeschränkten Herrschaftsanspruch der Zentralregierung und der Realität teilweise mächtiger Gegengewichte in den Regionen ab. Dieser Konflikt sollte sich – wenn auch später unter völlig veränderten Bedingungen – durch die gesamte indonesische Geschichte ziehen und von Zeit zu Zeit immer wieder neu aufflammen.

3.3. Die Etablierung des Zentralismus unter der niederländischen Kolonialherrschaft

Der entscheidende Grundstein für die Entstehung des indonesischen Nationalstaats mit seinem heutigen Territorium und seinem zentralistischen Herrschaftssystem wurde von der niederländischen Kolonialverwaltung gelegt. Diese bemühte sich von Beginn an um den Aufbau einer stark zentralistischen Herrschaftsstruktur in ihrer Kolonie Niederländisch-Indien. Zwar gab es zwischendurch Ansätze einer Dezentralisierung, diese blieben aber für breite Teile der Bevölkerung weitgehend wirkungslos.

An der Spitze der Kolonialverwaltung mit Sitz in Batavia, dem späteren Jakarta, standen der Generalgouverneur und ein ausschließlich mit Europäern besetzter Rat. Auf Java bestand zusätzlich auch eine lokale Verwaltung, die mit einheimischen bupati und ihren Beamten (wedana) besetzt war, jedoch lediglich für die Implementierung der von der Kolonialverwaltung beschlossenen Maßnahmen zu sorgen hatte. Auf diese Weise setzte die niederländische Kolonialregierung den traditionellen einheimischen Adel als Mittler zwischen Kolonialverwaltung und Bevölkerung ein, um ihre Kolonie besser kontrollieren zu können.

Zu ersten Dezentralisierungsbemühungen kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen der „ethischen Politik“. Mit dem Dezentralizatie Wet (Dezentralisierungsgesetz) von 1903 wurde eine administrative Dezentralisierung mit dem Ziel einer Effizienzsteigerung durchgeführt. Zu diesem Zweck wurde eine neue dreistufige Verwaltungsgliederung geschaffen, wobei die lokale Ebene mit mehr Aufgaben betraut wurde. Darüber hinaus begann man mit der Einrichtung von Kommunalverwaltungen und der Schaffung beratender Gremien in den kabupaten und kotamadya. Da jedoch die Mitgliedschaft in diesen Gremien lediglich der einheimischen Elite vorbehalten war, profitierte die breite Bevölkerung von diesen Reformen nicht, und die Reichweite der Dezentralisierung blieb sehr begrenzt. Ab dem Jahr 1922 unternahm die Kolonialverwaltung im Rahmen des „Gesetzes zur Regierungsreform“(Bestuurshervormingswet) mit der Schaffung der Provinzen (propinsi; auch: provinsi) als neuer Verwaltungseinheit zwischen Zentralregierung und kabupaten einen weiteren Versuch, ihre Kolonie zu dezentralisieren. Da die Provinzoberhäupter, die Gouverneure, jedoch ausschließlich der Zentralregierung gegenüber rechenschaftspflichtig waren, verblieb diese Dezentralisierungsbewegung auf der Ebene der Dekonzentration, eine politische Dezentralisierung erfolgte in keiner Weise. Insgesamt blieb das politische System Niederländisch-Indiens stark zentralistisch. Der Grundstein für den zentralistischen Einheitsstaat Indonesien war also bereits gelegt.

Auch in der japanischen Besatzungszeit von 1942 bis 1945 änderte sich daran nichts, da die Provinzen abgeschafft, die repräsentativen Organe der einheimischen Bevölkerung verboten und die gesamte Verwaltung in einer strengen Hierarchie dem Besatzungsregime untergeordnet wurde (vgl. Bünte 2003a: 567f., 2003b: 64ff., Schreiner 2000: 129).

3.4. Zentralismus und Dezentralisierung im unabhängigen Indonesien bis 1998

Die Jahre von 1945 bis 1998 bilden insofern eine Einheit, als Indonesien die Unabhängigkeit erlangt, sich aber nicht vom zentralistischen administrativen System aus der Kolonialzeit befreit hatte. Anders als seit 1998 wurde Indonesien im angesprochenen Zeitraum fast durchgehend autoritär regiert, abgesehen von einer relativ kurzen Phase der parlamentarischen Demokratie in den 1950er Jahren. Die mangelnde Bereitschaft, ein neues administratives System zu schaffen, die gleichzeitige Diskreditierung des Föderalismusgedankens aus einer antikolonialen Gesinnung heraus (vgl. Kapitel 3.4.1. dieser Arbeit), das Machtstreben der Präsidenten Soekarno und Soeharto und die Dominanz der Javaner in Politik, Administration und Kultur schufen ein Klima, das eine umfassende Dezentralisierung des Landes jahrzehntelang nahezu unmöglich machte. Im Folgenden soll nun die zunehmende Zentralisierung Indonesiens im Zeitraum zwischen der Ausrufung der Unabhängigkeit und dem Sturz Soehartos kurz nachgezeichnet werden.

3.4.1. Die Formierung des indonesischen Staates und die Absage an den Föderalismus

Obwohl Indonesien am 17. August 1945 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, versuchten die Niederländer in den folgenden Jahren ihre Kolonialherrschaft zu reetablieren. Mit militärischer Gewalt und der Installation eines föderalen Staatengebildes unter niederländischer Führung auf den Außeninseln des Archipels sollte die Regierung der jungen Republik Indonesien mit Sitz auf Java in die Knie gezwungen werden. Dieses Unterfangen scheiterte jedoch, und die niederländische Regierung sah sich gezwungen, den Vereinigten Staaten von Indonesien (RIS = Republik Indonesia Serikat) im Dezember 1949 die volle Souveränität zu übertragen. Schon 1950 löste sich diese Föderation auf, und ihre Mitgliedsstaaten traten der Republik Indonesien bei – allerdings nur unter dem ausdrücklichen Versprechen der Zentralregierung, ein dezentrales Regierungssystem zu schaffen. Der Föderalismus jedoch war als mögliches Modell, die staatliche Verwaltung zu organisieren, fortan in Verruf geraten, da er stets mit der ehemaligen niederländischen Kolonialregierung in Verbindung gebracht wurde (vgl. Bünte 2003a: 568f. , 2003b: 70f.). Aus dieser Haltung ergeben sich bis zum heutigen Tage Konsequenzen, auf die in Kapitel 4.1. dieser Arbeit noch einmal kurz eingegangen werden soll.

3.4.2. Dezentralisierungsbemühungen und Rezentralisierung bis 1965

Da die Verwaltungsstruktur des indonesischen Staates unmittelbar auf der in der Kolonialzeit geschaffenen Administration aufbaute, war es nicht weiter verwunderlich, dass der indonesische Staat gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes von 1945 als Einheitsstaat (negara kesatuan) gegründet wurde, der „unterhalb der nationalen Ebene keine autonomen Gebietskörperschaften besitzen sollte, die ebenfalls Staatscharakter aufweisen“ (Bünte 2003a: 569, vgl. Schreiner 2000: 130). Andererseits jedoch enthielten die Gesetze 22/1948 der Republik und 44/1950 des ehemaligen föderalen Bundesstaates Ostindonesien ein starkes dezentrales Moment. So sah Gesetz 22/1948 die Einrichtung eines Parlaments in allen Regionen vor, das von der Bevölkerung gewählt werden sollte. Das Regionaloberhaupt (kepala daerah) war Vorsitzender des lokalen Regierungsrats (DPD = dewan pemerintahan daerah), von dem es auch gewählt werden sollte, und gleichzeitig Repräsentant der Zentralregierung in den einzelnen Regionen, hatte also eine Doppelfunktion inne. De facto wurden jedoch keine Wahlen abgehalten, statt dessen wurde der kepala daerah von der Zentralregierung ernannt. Der dreistufige Verwaltungsaufbau mit propinsi, kabupaten bzw. kotamadya und Dörfern (desa) sollte indes laut Gesetz 22/1948 erhalten bleiben.

Beim Beitritt der föderalen Staaten zur Republik Indonesien war die Schaffung eines neuen Gesetzeswerkes beschlossen worden, das die Gesetze 22/1948 und 44/1950 ablösen sollte. Dieses Gesetzeswerk konnte in Folge zahlreicher Verzögerungen aber erst im Jahre 1957 als neues Gesetz 1/1957 in Kraft treten. Das Gesetz betonte noch einmal, dass das regionale Parlament vom Volk, der kepala daerah wiederum vom regionalen Parlament zu wählen sei. Außerdem wurden die Machtverhältnisse auf regionaler Ebene durch weitere Verordnungen eindeutig von der Exekutive zur Legislative hin verschoben, also von der Regierung zum Parlament. Zudem sollten den Regionen in einem neuen Finanzausgleich größere Ressourcen zugesichert werden, und es war ein großangelegter Transfer von Kompetenzen an die Regionen geplant, um dem Prinzip der „größtmöglichen Regionalautonomie“ (zitiert nach Bünte 2003b: 74) gerecht zu werden.

Gesetz 1/1957 hätte einen großen Schritt in Richtung Dezentralisierung und regionaler Autonomie bedeutet, jedoch konnte es auch auf Grund aufkeimender regionalistischer und sezessionistischer Bewegungen, wie beispielsweise der Darul Islam[3] - Bewegung, niemals vollständig implementiert werden. Stattdessen kam es ab 1959 in Folge der Errichtung der „Gelenkten Demokratie“ (demokrasi terpimpin) durch Präsident Soekarno, welche die demokratische Rechtsordnung praktisch außer Kraft setzte, zu einer erheblichen Rezentralisierung. Gesetz 1/1957 wurde durch den Präsidentenerlass 6/1959 wieder zurückgenommen (vgl. Schreiner 2000: 130). Stattdessen wurde das neue Gesetz 19/1965 verabschiedet, wonach der kepala daerah wieder von der Zentralregierung bestimmt wurde und sich nicht länger der Kontrolle durch den DPD ausgesetzt sah. Auch konnte das lokale Parlament (DPRD = dewan perwakilan rakyat daerah) ihn nicht mehr stürzen. Seine Doppelfunktion als Oberhaupt der Regionalregierung und Repräsentant der Zentralregierung blieb erhalten, die ausdrückliche Betonung seiner Pflicht, für die reibungslose Ausübung der Regierungsgeschäfte in seiner Region zu sorgen, band ihn aber stärker als zuvor an die Zentralregierung. Eine eigenständige Politik der Regionen war somit kaum noch möglich. Diese Rezentralisierungstendenzen setzten sich nach der Machtübernahme Soehartos im Jahre 1965 in verstärktem Maße fort. (zur Entwicklung bis 1965 vgl. Bünte 2003a: 569f., 2003b: 71ff.)

3.4.3. Die zunehmende Zentralisierung in der Soeharto-Ära

In den mehr als drei Jahrzehnte seiner Herrschaft errichtete Soeharto ein hochgradig zentralistisches System, dessen Macht sich auf die Unterdrückung durch das Militär und die Schaffung eines breiten Beamtenapparats gründete. Um die Loyalität der Bevölkerung bis auf die regionale Ebene zu gewährleisten und das Entstehen jeglicher Opposition zu unterbinden, leitete das Soeharto-Regime folgende Maßnahmen ein:

Ÿ Die lokale Ebene wurde durch das Verbot an die Parteien, unterhalb der kabupaten- Ebene außerhalb der Wahlkampfzeiten politisch aktiv zu werden, entpolitisiert.

Ÿ 1971 wurde mit der Golkar eine Regierungspartei geschaffen, der alle Beamten beitreten mussten. Dadurch sicherte sich die Regierung die Kontrolle über den gesamten Beamtenapparat. Zusätzlich wurde das Parteiensystem 1973 auf zwei Blöcke neben der Golkar reduziert.

Ÿ Das Militär bekam eine Doppelfunktion militärischer sowie soziopolitischer Aufgaben (dwifungsi), die 1982 sogar gesetzlich vorgeschrieben wurde. Dies legitimierte die Vertretung des Militärs in lokalen Parlamenten, die durch die parallel zur Struktur des Staates bis zur Dorfebene hinunter verlaufende Struktur der Armee (Territorialstruktur) ermöglicht wurde.

Auch die beiden wichtigsten in der Soeharto-Ära verabschiedeten Gesetze zur Regionalautonomie 5/1974 (Dezentralisierungsgesetz) und 5/1979 (Gesetz über Dorfregierungen) dienten der Festigung der Autorität des Regimes.

Gesetz 5/1974 basierte auf dem Prinzip der „klaren und verantwortungsvollen Autonomie“ (otonomi yang nyata dan bertanggung jawab) (Beier 1995: 126ff.). Regionale Autonomie war also nicht mehr allein Recht (hak), sondern in gleichem Maße Pflicht (kewajiban): Die Regionen wurden dazu verpflichtet, die Entwicklungsanstrengungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten mit größtmöglicher Effizienz durchzusetzen. Um dies zu erreichen, dürfe die Stabilität und Harmonie in den Beziehungen zwischen Zentrum und Regionen nicht gefährdet werden.

Bei der Verwaltungsorganisation wurde eine Einteilung in administrative (wilayah administratip) und autonome Regionen (daerah otonom) vollzogen. Den autonomen Regionen wurde nach dem Prinzip der Devolution eine Teilautonomie zugestanden, während für die administrativen Regionen lediglich eine Art Dekonzentration vorgenommen wurde und sie weiterhin von zentralstaatlichen Apparaten verwaltet wurden. Unterhalb der Zentralregierung waren als Verwaltungsebenen die Provinzen (daerah tingkat I) und die Distrikte (daerah tingkat II) mit jeweils teilautonomen Regierungen vorgesehen. Dagegen verfügten die Regierungen der Subdistrikte als Teil der Distriktregierungen über keinerlei Autonomie.

Innerhalb der Regionalregierungen wurden die Machtverhältnisse noch einmal von der Legislative zur Exekutive hin verschoben. Die Doppelfunktion des kepala daerah blieb erhalten, doch war er nur noch dem Innenministerium und nicht mehr dem DPRD gegenüber verantwortlich. Der kepala daerah wurde offiziell zwar vom DPRD gewählt, die Zentralregierung hatte aber auf den Auswahlprozess der Kandidadaten einen so bedeutenden Einfluss, dass das Amt des Regionaloberhaupts letztendlich in der Regel von regimetreuen Personen bekleidet wurde. Der kepala daerah verfügte also über keinen wirklichen autonomen Handlungsspielraum.

Der Zentralismus der Soeharto-Ära zeigte sich auch in finanzieller Hinsicht: Über 90 Prozent der Steuern flossen direkt an das Zentrum, die Regionen blieben auf finanzielle Zuwendungen von Seiten der Zentralregierung angewiesen. Zudem übte diese noch einen starken Einfluss auf die Verwendung aus.

Zu einer politischen oder fiskalischen Dezentralisierung kam es also durch Gesetz 5/1974 nicht, die Dezentralisierung blieb auf ihre administrative Komponente beschränkt und wurde überwiegend im Sinne einer Dekonzentration durchgeführt.[4]

Gesetz 5/1979 schließlich vereinheitlichte die Dorfstrukturen und stellte sie unter Aufsicht des Innenministeriums. Damit wurde die Vielfalt der traditionellen Dorfgemeinschaften Indonesiens ignoriert und diese stattdessen einseitig von der javanischen Kultur geprägten Strukturen unterworfen. Dies ist als ein Beispiel für die „Javanisierung“ zu betrachten, der javanischen Dominanz vor allem auf kulturellem Gebiet, die sich von der Unabhängigkeit Indonesiens an abgezeichnet hatte und in der Soeharto-Ära noch forciert wurde. (zur Entwicklung in der Soeharto-Ära vgl. Bünte 2003a: 570f., 2003b: 78ff.)

Einen weiteren Dezentralisierungsansatz unternahm die Soeharto-Regierung mit dem District Autonomy Pilot Programme (DAPP) von 1995. Im Rahmen dieses Programms sollte für einige Sektoren, wie Gesundheit, Fischerei, Erziehung, öffentliche Arbeit, Viehzucht, heimische Industrie, Wohnungsbau, Verkehr und Tourismus, ein Aufgabentransfer von der Provinzebene auf 26 ausgewählte Distrikte durchgeführt werden. Da die politischen Entscheidungen sowie die Verfügung über die finanziellen Mittel jedoch bei der Zentralregierung verbleiben sollten, beschränkte auch dieses Programm sich auf eine rein administrative Dezentralisierung. Dadurch kam es wiederum zu keiner Verbesserung hinsichtlich der politischen Entscheidungsbefugnisse und der finanziellen Ausstattung der lokalen Regierungen. Zum Misserfolg des DAPP trug neben der mangelnden Bereitschaft zahlreicher Ministerien, Kompetenzen tatsächlich an die lokale Ebene abzutreten, auch der grundsätzliche Ansatz des Projekts bei, das in einem Top down- Verfahren vom Innenministerium ohne Mitsprache der eigentlichen Betroffenen, der Distriktregierungen, durchgeführt wurde (vgl. Beier 1998: 24ff. , Bünte 2003b: 87, Hoffmann 2000: 59ff.).

3.5. Zusammenfassung

Auf den ersten Blick scheint Indonesien eine stark zentralistische Tradition aufzuweisen. Schon in den vorkolonialen Reichen – wenn auch keines von ihnen seinen Herrschaftsbereich auf das ganze heutige Indonesien ausdehnen konnte – galt der Herrschaftsanspruch des Königs als unbegrenzt. Später bemühten sich die Niederländer um einen möglichst zentralistischen Aufbau der Verwaltung ihrer Kolonie, um eine bessere Kontrolle über diese ausüben zu können, und auch der unabhängige Staat Indonesien war von Beginn an stark vom Zentralismus geprägt.

Jedoch ist ein zentralistischer Staatsaufbau Indonesiens mit Sicherheit keine Notwendigkeit. Allein die geographischen und ethnischen Gegebenheiten dieses riesigen Archipels, der von Hunderten verschiedener Ethnien bevölkert wird, lässt die stark zentralistische Regierungsform, wie sie von der Errichtung des niederländischen Kolonialreiches an bis zum Sturz Soehartos 1998 praktiziert wurde, unangemessen erscheinen. Schließlich mussten sich die Herrschenden im Laufe der Geschichte Indonesiens jeweils auf ihre Weise stets den Herausforderungen stellen, die sich aus den natürlichen Voraussetzungen in Indonesien ergeben, um ihren Einfluss auch fernab des Zentrums geltend zu machen. Schon die Herrscher in den präkolonialen Königreichen sahen sich im Falle einer großen territorialen Ausdehnung ihres Reiches gezwungen, Mitregenten in den einzelnen Regionen ihres Herrschaftsgebietes einzusetzen, die zum Teil über beträchtliche Entscheidungskompetenzen verfügten. Die niederländische Kolonialverwaltung nutzte diesen entstandenen einheimischen Adel, um ihre Macht auch auf lokaler Ebene zu festigen, und unternahm zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar einige Bemühungen zur Dezentralisierung des Verwaltungsaufbaus, die allerdings im Ansatz steckenblieben. Ungefähr zur gleichen Zeit kam auch innerhalb der indonesischen Nationalbewegung eine Diskussion über die administrative Gliederung eines zukünftigen Staates Indonesien auf, in der die Befürworter eines dezentralen Staatsaufbaus durchaus eine starke Position hatten. So sprach sich der spätere Vizepräsident Mohammad Hatta für einen Staat aus, in dem

„jede Gruppe – sei sie klein oder groß – Autonomie erhält, das Selbstbestimmungsrecht erhält, das Selbstverwaltungsrecht entsprechend ihrer Wünsche und Überzeugungen erhält“ (zitiert nach Schreiner 2000: 131).

Dass sich jedoch die Zentralisten um Soekarno durchsetzten, ist nicht zuletzt der Diskreditierung des föderalistischen Modells nach dem gescheiterten Versuch der Niederländer zuzuschreiben, durch den Aufbau eines föderalistischen Staatenbundes die Autorität der indonesischen Regierung zu untergraben und ihre Kolonialherrschaft zu reetablieren. Doch auch im unabhängigen Indonesien verstummte der Ruf nach einer Dezentralisierung nicht. Gesetz 1/1957 hätte einen bedeutsamen Schritt in diese Richtung dargestellt, jedoch wurde es nie vollständig implementiert und später sogar zurückgenommen. Unter der Alleinherrschaft Soekarnos ab 1959 und später Soehartos kam es schließlich zu einer erheblichen Rezentralisierung. Trotzdem wurde vom Zentralregime die Notwendigkeit einer Dezentralisierung wahrgenommen, wenn auch die unter Soeharto eingeleiteten Maßnahmen verglichen mit Gesetz 1/1957 eher oberflächlich und rein auf die administrative Ebene beschränkt blieben.

Ein dezentraler Staatsaufbau Indonesiens könnte also grundsätzlich eine Chance haben. Man kann wohl sogar noch einen Schritt weitergehen und feststellen, dass sich ein derart heterogen aufgebautes Land zentralistisch auf Dauer nur mit Hilfe eines Unterdrückungsapparats wie zu Zeiten Soehartos regieren lässt. Nach dem Sturz des Diktators und im Zuge der Demokratisierung Indonesiens scheint die historische Chance einer großangelegten Dezentralisierung gegeben, und offensichtlich ist es auch den Machthabern in Jakarta ernster als jemals zuvor, die lokale Ebene stärker an politischen Entscheidungen und finanziellen Ressourcen Teil haben zu lassen. Auf diesbezügliche Entwicklungen seit 1998 soll im Folgenden eingegangen werden.

4. Dezentralisierung und Regionale Autonomie seit 1998

In Folge der asiatischen Finanzkrise von 1997 verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation Indonesiens rapide. Es kam zu sozialen Unruhen und breiten Studentenprotesten gegen das Soeharto-Regime, das in den Augen vieler Indonesier seine Legitimation endgültig verloren hatte. In Folge schwerer Unruhen im Mai 1998 sah sich Soeharto schließlich nach über 30 Jahren Alleinherrschaft zum Rücktritt gezwungen (vgl. Bünte 2003b: 91ff.).

4.1. Demokratisierung und erste Dezentralisierungsmaßnahmen unter Habibie

Soehartos Nachfolger Habibie leitete erste demokratische Reformen ein. So wurde die Neugründung von Parteien zugelassen, die Organisations- und Versammlungsfreiheit gewährt und schon 1999 die ersten freien Wahlen seit 1955 abgehalten. Besonders die Wiedereinführung der Pressefreiheit hatte weitreichende Konsequenzen und löste auch eine neue Dezentralisierungsdebatte aus. In Folge der öffentlichen Diskussion über die Verwicklung weiter Teile der lokalen Verwaltung in Korruption mussten zahlreiche kepala daerah von ihren Posten zurücktreten. Außerdem kam es zu einem Aufschwung regionaler Bewegungen in Aceh, West-Papua, Riau, Ostkalimantan und Ost-Timor, die mehr regionale Autonomie oder gar die Unabhängigkeit von Indonesien forderten. Die Gründe dafür dürften neben dem „Wohlstandsgefälle zwischen Java und den übrigen Inseln“ (Diederich 2000: 137), das vor allem aus der zentralistischen Finanzverwaltung resultierte, wohl auch in der weiter oben bereits erwähnten javanischen Hegemonie in Politik und Kultur liegen, wie sie beispielsweise in den Gesetzen 5/1974 und 5/1979 zum Ausdruck kam.[5]

Durch die Entlassung Ost-Timors in die Unabhängigkeit[6] bekamen die regionalen Bewegungen in anderen Landesteilen noch einen zusätzlichen Auftrieb. Trotz der inzwischen entbrannten lebhaften Diskussion über die zukünftige Form des indonesischen Staates wurde einem möglichen föderalen Staatsmodell von Seiten des Militärs und führender Politiker erneut eine klare Absage erteilt. Auch die Mehrzahl der Parteien sprach sich dagegen aus, was mit der „Angst vor einer Schwächung des Einheitsstaates“ oder des „indonesischen Stolzes“ oder der Unvereinbarkeit des Föderalismus mit dem indonesischen Jugendschwur (sumpah pemuda)[7] begründet wird (zitiert nach Diederich 2000: 138). Einzig die Partai Amanat Nasional[8] (PAN) hatte sich in ihrem Parteiprogramm zunächst vorsichtig für die Einführung des Föderalismus in Indonesien ausgesprochen, nach starker Kritik war ihr Vorsitzender Amien Rais in seinen öffentlichen Äußerungen aber wieder von dieser Idee abgerückt (vgl. Diederich 2000: 138).

Über die Notwendigkeit von Dezentralisierungsmaßnahmen herrschte dagegen ein breiter Konsens. Auf der MPR[9] -Sitzung im Oktober 1998 wurde eine neue Dezentralisierungspolitik beschlossen, die zu einer gerechteren Verteilung der natürlichen Ressourcen und zu einem neuen fiskalischen Gleichgewicht zwischen Zentrum und Regionen führen sollte. Dies ebnete den Weg für die Gesetze 22/1999 zur Regionalregierung und 25/1999 über den Finanzausgleich zwischen der Zentralregierung und den Regionen, die bereits im April 1999 vom Parlament angenommen wurden und bis zum Mai 2001 in Kraft treten sollten (vgl. Bünte 2003a: 572).

4.2. Die neuen Gesetze zur Dezentralisierung

Im Folgenden soll der Inhalt der wichtigsten Gesetze zur Dezentralisierung, die in der Post-Soeharto-Ära verabschiedet worden sind, kurz zusammengefasst und kommentiert werden. Da Gesetz 22/1999 dabei als das Schlüsselgesetz gelten kann, soll es am ausführlichsten dargestellt werden.

4.2.1. Das Gesetz 22/1999 zur Regionalregierung

Das neue Gesetz trat an die Stelle der zur Soeharto-Zeit verabschiedeten Gesetze 5/1974 und 5/1979. Diese seien „tidak sesuai lagi dengan prinsip penyelenggaraan Otonomi Daerah dan perkembangan keadaan[10] (Präambel, Absatz d.) bzw. „tidak sesuai dengan jiwa Undang-Undang Dasar 1945 [...] sehingga perlu diganti[11] (Präambel, Absatz e.). Beim Aufbau regionaler Autonomie (Otonomi Daerah) sollen demokratische Prinzipien („prinsip-prinsip demokrasi“), das Mitspracherecht der Bevölkerung („peran-serta masyarakat“), Gleichheit („pemerataan“) und Gerechtigkeit („keadilan“) sowie das (wirtschaftliche) Potential der einzelnen Regionen und deren Diversität („potensi dan keanekaragaman“) stärker berücksichtigt werden (Präambel, Absatz b.). Den Regionen soll zu diesem Zweck ein „kewenangan yang luas, nyata, dan bertanggung jawab“[12] zugestanden werden (Präambel, Absatz C; alle Zitate nach Nitibaskara 2002: 157f.). Interessanterweise wird mit den Worten „nyata dan bertanggung jawab“ bewusst (?) das gleiche Vokabular benutzt wie in Gesetz 5/1974 (vgl. Beier 1995: 126ff.), von dem man sich eigentlich hatte distanzieren wollen.

Der eigentliche Nutznießer des Gesetzes war die Ebene der Distrikte, also der kabupaten und kotamadya, wohingegen die Provinzebene nicht wesentlich gestärkt werden sollte, was sich mit Gesetz 32/2004 allerdings änderte. Indonesien bleibt auch nach Gesetz 22/1999 ein Einheitsstaat, wenn auch ein dezentral aufgebauter (vgl. Bünte 2003a: 573).

Analog zu früheren Gesetzen wird von drei allgemeinen Dezentralisierungsbegriffen ausgegangen. Dezentralisierung wird dabei als

Ÿ „Übertragung von Angelegenheiten an sich selbst verwaltende (autonome) Regionen“ im Kontext des indonesischen Einheitsstaates verstanden, was weitgehend mit dem Begriff der Devolution einhergeht

Ÿ Dekonzentration im Sinne einer „Übertragung an zentralstaatliche Behörden in den Regionen“ verstanden

Ÿ Koadministration (tugas pembantuan) im Sinne einer gemeinsamen Durchführung von in der Zentrale entwickelten Programmen durch zentralstaatliche und regionale Behörden verstanden (vgl. Bünte 2003a: 573)

Gesetz 22/1999 sieht die propinsi, kabupaten und kotamadya als autonome Regionen vor, deren Regenten vom Parlament ihrer jeweiligen Ebene (DPRD I/II) gewählt werden und diesem gegenüber auch verantwortlich sein sollten. Jedoch sollen die propinsi darüber hinaus auch noch dekonzentrierte administrative Einheiten der Zentralregierung darstellen. Folglich bleibt das Provinzoberhaupt, der Gouverneur (gubernur), auch Repräsentant der Zentralregierung, hat also weiterhin eine Doppelfunktion inne. Auf diese Weise versuche die Zentralregierung, die Entwicklungen in den Provinzen unter Kontrolle zu halten, und schaffe gleichzeitig ein erhebliches Konfliktpotential, da im Falle einer wirklich eigenständigen Politik der Provinzen die Verantwortlichkeit des gubernur nicht klar ersichtlich wäre (vgl. Bünte 2003a: 573).

Da nach dem Gesetz auch die Distrikte als autonome Einheiten definiert werden, ist damit die Hierarchie zwischen Provinz- und Distriktebene hinfällig geworden. Hierin zeigte sich die damals vollzogene Stärkung der Distriktebene gegenüber den Provinzen sehr deutlich. Vor einer Stärkung der Provinzebene, wie sie beispielsweise durch die Aufhebung der Doppelstellung des gubernur hätte erfolgen können, schreckte die Zentralregierung wohl aus Angst vor einer zu großen Machtfülle in den Provinzen zurück. Auch wird hier deutlich, dass es durch Gesetz 22/1999 nicht zur Einführung eines Föderalsystems in Indonesien kam. Zwar üben die Provinzen seitdem Staatsgewalt aus, aber sie haben weiterhin keine Möglichkeit, in die Politik der Zentralregierung einzugreifen, was ein wesentliches Element eines Föderalsystems dargestellt hätte (vgl. Bünte 2003a: 573f.).

Des Weiteren erfolgt durch Gesetz 22/1999 eine weitreichende Devolution verschiedener Politikbereiche auf die Ebene der Distrikte. Die Zentralregierung behält lediglich die Hoheit über die Außen- und Verteidigungspolitik, Geld- und Finanzpolitik, Justiz, Religion und „andere Angelegenheiten“ sowie die allgemeine Gestaltung der Politik der nationalen Entwicklungsplanung, des Finanzausgleichs, der staatlichen Verwaltung und der strategischen Hochtechnologie. Im wesentlichen gibt die Zentralregierung also die strategischen Leitlinien der Politik vor, während die Umsetzung in den Regionen erfolgt. Unterstützt wird diese Neuverteilung der Kompetenzen durch einen weitreichenden Transfer auch von Personal und Infrastruktur auf die regionalen Ebenen (vgl. Bünte 2003a: 574).

Jedoch wird die Aufgabenverteilung zwischen Zentrum und Regionen nicht immer ganz deutlich, was zum einen in dem unbestimmten Begriff „andere Angelegenheiten“, zum anderen in der Einführung eines Subsidiaritätsprinzips[13] begründet liegt, nach welchem es den Distrikten gestattet wird, Aufgaben an die Provinzen abzutreten, wenn sie sich nicht in der Lage fühlen, diese eigenständig wahrzunehmen (vgl. Bünte 2003a: 574).

Eine wichtige Neuerung im Sinne einer Dezentralisierung ist die Stärkung der DPRD. Diese werden durch das Gesetz als gleichberechtigte Partner der Regionalregierung anerkannt und können zusammen mit der jeweiligen regionalen Verwaltung regionale Verordnungen (perda = peraturan daerah) erlassen, die jedoch nicht dem „öffentlichen Interesse“ oder nationalem Recht wiedersprechen dürften. Wiederum fehlt hier also durch den diffusen Begriff „öffentliches Interesse“ eine klare Abgrenzung der neuen Befugnisse für die regionale Ebene (vgl. Bünte 2003a: 575).

Schon im Wahlgesetz 3/1999 wurde festgelegt , dass die DPRD in „allgemeinen, freien, gleichen und geheimen“ Wahlen vom Volk zu wählen seien. In Gesetz 22/1999 wird hinzugefügt, dass die kepala daerah wiederum von den DPRD in einer öffentlichen Wahl mit einfacher Mehrheit gewählt werden sollen. Durch eine Vielzahl weiterer neuer Kompetenzen, welche u.a. die Kontrolle der Verwaltung und die Mitwirkung bei der Erstellung des Budgets betreffen, bekommen die DPRD also eine wichtige Rolle bei der Kontrolle der Exekutive zugestanden. Auch sind die bupati und Bürgermeister (walikota) nur noch dem Parlament ihrer jeweiligen Ebene gegenüber verantwortlich und nicht mehr gegenüber einer höheren Ebene. Somit enthält das Gesetz wichtige Maßnahmen in Richtung einer politischen Dezentralisierung, wenn auch die Partizipation von NGO’s[14] – im Gegensatz beispielsweise zu den Philippinen – im Gesetzestext nicht ausdrücklich erwähnt wird (vgl. Bünte 2003a: 575).

Nicht zuletzt wird durch Gesetz 22/1999 auch die Vereinheitlichung der Dorfstruktur, wie sie gemäß Gesetz 5/1979 vollzogen wurde, wieder rückgängig gemacht. Die Dörfer dürfen ihre jeweiligen traditionellen Organisationsstrukturen wiedereinführen und sich unter Aufsicht der Distriktregierung selbst verwalten. Hier ist also erstmals ansatzweise der Versuch einer kulturellen Dezentralisierung erkennbar. Analog zur Provinz- und Distriktebene soll der Dorfchef von einer Dorfversammlung kontrolliert werden, die vom Volk gewählt wird. Anders als auf den beiden höheren regionalen Ebenen wird der Dorfchef allerdings auch schon nach Gesetz 22/1999 direkt vom Volk gewählt, ist aber auf die Anerkennung durch den bupati angewiesen. Ähnlich dem gubernur hat auch der Dorfchef seit Gesetz 22/1999 eine Doppelstellung inne: Er ist seitdem sowohl der Dorfversammlung als auch der Distriktregierung gegenüber verantwortlich. Dies ist jedoch im Falle des Dorfchefs als Fortschritt zu werten, da die Verantwortlichkeit gegenüber der politischen Vertretung der Dorfbevölkerung eine Neuerung darstellt. Die Dorfversammlung bekommt ähnlich weitreichende Befugnisse wie die DPRD auf den höheren regionalen Ebenen. In den Aufgabenbereich der Dorfregierungen fallen Aufgaben, die sich dem Verantwortungsbereich höherer Ebenen entziehen oder die dekonzentriert unter Führung des bupati wahrgenommen werden. Im Übrigen wird es den Dörfern auch erlaubt, die Übernahme bestimmter Aufgaben abzulehnen (vgl. Bünte 2003a: 575).

4.2.1.1. Bewertung

Bei der Bewertung von Gesetz 22/1999 zeigt sich in den verschiedenen wissenschaftlichen Quellen ein vielschichtiges Bild. Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass dieses Gesetz die Bemühungen um eine administrative und politische Dezentralisierung Indonesiens grundsätzlich unterstütze. Bünte hebt dabei den weitreichenden Kompetenzentransfer auf die Distriktebene und die neue Verantwortlichkeit von lokaler Verwaltung und Regierung gegenüber den gewählten lokalen Parlamenten besonders positiv hervor. Diese Veränderungen böten die Möglichkeit zu einer größeren Transparenz und einer festeren Verankerung der Demokratie auf lokaler Ebene (vgl. Bünte 2003a: 577). Auch Prasetyo sieht die Dezentralisierungsgesetze der Post-Soeharto-Ära ganz im „Geist der Verwirklichung demokratischer Prinzipien“ und basierend auf dem Prinzip größtmöglicher Autonomie (Otonomi Seluas-luasnya) (Prasetyo 2006: 1f.). Als fundamentalen Wandel gegenüber der Soeharto-Ära hebt Prasetyo besonders die Stärkung der lokalen Legislative gegenüber der Exekutive und die Wahl des lokalen Regierungsoberhaupts durch die Legislative hervor. Auch die Chance auf eine größere Partizipation der Bürger am politischen Leben durch die Gewährung größerer regionaler Autonomie sieht Prasetyo gegeben (vgl. Prasetyo 2006: 4f.).

Dagegen kritisiert Bünte, dass die Partizipationsmöglichkeiten gesellschaftlicher Gruppen genauer definiert hätten werden müssen (vgl. Bünte 2003a: 577). Einige andere in den verschiedenen Quellen besonders häufig auftretende Kritikpunkte betreffen die – durch Gesetz 32/2004 inzwischen korrigierte – Übergehung der Provinzebene, die zu einer „Dezentralisierung der Korruption“ führen könne, und die Widersprüchlichkeit und Zweideutigkeit zahlreicher Passagen des Gesetzes, besonders was die genaue Kompetenzverteilung anbetrifft (vgl. z.B. Zöllner 2000: 48). Generell liege auch ein Problem in der Unerfahrenheit der regionalen Politiker und Behörden, die aus der systematischen Entpolitisierung der lokalen Ebene in der Soeharto-Zeit resultiere (vgl. Bünte 2003a: 577, Hoffmann 2000: 60).

Weitere Probleme würden sich vor allem aus der Implementation des Gesetzes ergeben, die ursprünglich in einem „Big-Bang-Ansatz“ innerhalb von nur zwei Jahren erfolgen sollte, auf Grund zahlreicher Nachbesserungen am Gesetzestext jedoch verlangsamt werden musste. Da diese Nachbesserungen mittels neuer Verordnungen von der Zentralregierung durchgeführt wurden und die Regionen in die Erstellung dieser Verordnungen nicht miteinbezogen wurden, sei es zu einem oftmals undemokratischen und chaotischen Prozess gekommen (vgl. Bünte 2003a: 577). Auf die Implementationsphase mit all ihren Schwierigkeiten soll in Kapitel 4.3. dieser Arbeit näher eingegangen werden.

[...]


[1] Zwar war der Islam die offizielle Religion vieler der späten präkolonialen Reiche, doch blieb er stark mit hinduistischen und buddhistischen Elementen durchsetzt.

[2] In der Regel wurden diese Regenten bupati genannt (vgl. Bünte 2003b: 63). Von diesem Titel wurde der administrative Terminus kabupaten abgeleitet.

[3] Die Darul Islam- Bewegung unter der Führung von Sukarmadji Kartosuwirjo versuchte bereits seit 1948, die Errichtung eines unabhängigen islamischen Staates auf indonesischem Boden gewaltsam durchzusetzen. Zunächst operierte sie von Westjava aus, im Laufe der 1950er Jahre schlossen sich ihr auch Südsulawesi und Aceh an. Erst 1962 gelang der Zentralregierung mit der Festnahme Kartosuwirjos der entscheidende Schlag gegen diese Bewegung. Bis 1965 kam sie endgültig zum Erliegen (vgl. Bünte 2003b: 76, ICG 2003: 6f.).

[4] Schreiner sieht das Problem allerdings vor allem in der mangelhaften Implementierung des Gesetzes, das seiner Meinung nach „einen effektiven Rahmen für Dezentralisierungsmaßnahmen abgegeben hätte.“ Da aber „zu viele Details Folgegesetzen und Ausführungsbestimmungen überlassen“ worden wären, die teilweise niemals formuliert oder verabschiedet worden wären, hätte das Gesetz „das selbst gesteckte Ziel nicht erreichen“ können (Schreiner 2000: 130).

[5] Für einen kurzen Überblick über die Hintergründe der Sezessionsbewegungen in Aceh, West-Papua, Riau und Ost-Kalimantan vgl. Bünte 2003b: 117ff.

[6] Ost-Timor war am 30.August 1999 in die Unabhängigkeit entlassen worden, nachdem sich die Mehrheit der Bevölkerung in einem von Präsident Habibie überraschend einberufenen Referendum für die Loslösung vom indonesischen Staat ausgesprochen hatte (vgl. Bünte 2003b: 117f.).

[7] Mit dem sumpah pemuda erklärten die Teilnehmer des Zweiten Indonesischen Jugendkongresses am 28. Oktober 1928, dass sie sich einem indonesischen Volk und einer indonesischen Nation mit einer gemeinsamen Sprache (Bahasa Indonesia) zugehörig fühlten (vgl. Hardjosoediro 1980: 107ff.). Bis heute hat der sumpah pemuda seine bedeutende Position für den indonesischen Einheitsgedanken behalten.

[8] „Partei des nationalen Auftrags“

[9] Der alle fünf Jahre tagende MPR (Majelis Permusywaratan Rakyat = Beratender Volkskongress ) ist eines der höchsten politischen Organe Indonesiens. Er setzt sich aus Mitgliedern des nationalen Parlaments DPR (Dewan Perwakilan Rakyat = Volksversammlung) und des DPD (s.o.) zusammen (vgl. http://id.wikipedia.org/wiki/MPR).

[10] „nicht übereinstimmend mit den Durchführungsprinzipien der Regionalen Autonomie und der weiteren Entwicklung“

[11] „nicht übereinstimmend mit Geist der Verfassung von 1945 [...] so dass sie ersetzt werden müssen“

[12] „weiter, klarer und verantwortungsvoller Kompetenzbereich“

[13] Nach dem Subsidiaritätsprinzip werden Aufgaben von der kleinsten administrativen Ebene wahrgenommen, solange diese dazu im Stande ist. Erst wenn sie sich mit einer konkreten Aufgabe überfordert sieht, wird diese an höhere Ebenen abgetreten (vgl. Drechsler/Hilligen/Neumann 2003: 955, http://de.wikipedia.org/wiki/subsidiarität).

[14] Non-GovernmentalOrganizations (=Nicht-Regierungsorganisationen)

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Regionale Autonomie als Folge politischer Entwicklungen in Indonesien seit 1998
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
106
Katalognummer
V124394
ISBN (eBook)
9783640332618
ISBN (Buch)
9783640332601
Dateigröße
1339 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Regionale, Autonomie, Folge, Entwicklungen, Indonesien, Dezentralisierung, Demokratie, Ursachen
Arbeit zitieren
Frank Lutz (Autor:in), 2007, Regionale Autonomie als Folge politischer Entwicklungen in Indonesien seit 1998, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124394

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