Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG: ERINNERN UND VERGESSEN
2. KONZEPTE VON ERINNERUNGSKULTUR IN ANKNÜPFUNG AN NIETZSCHE: DEFINITION VON „HISTORIE IM DIENST DES LEBENS“
2.1 VERSUCH EINER HERLEITUNG UND DEFINITION DES BEGRIFFS „ERINNERUNGSKULTUR“
2.1.1 KOLLEKTIVES GEDÄCHTNIS UND HISTORISCHE AUTHENTIZITÄT IM
SPANNUNGSFELD
2.2 ERINNERUNGSKULTUR UND DIE KONSTRUKTION VON WIRKLICHKEIT BEI NIETZSCHE
2.3 KONZEPTE VON ERINNERUNGSKULTUR AM BEISPIEL DES ÖFFENTLICHEN UMGANGS MIT DEM GENOZID AN DEN ARMENIERN IN DER TÜRKEI UND DEM HOLOCAUST/ DER SHOAH IN DEUTSCHLAND
2.3.1 ERINNERUNG ALS KONZEPT: DEUTSCHE ERINNERUNGSKULTUR - VOM
HOLOCAUST ZUM „YOLOCAUST“?
2.3.2 VERGESSEN ALS KONZEPT: DER ÖFFENTLICHE UMGANG MIT DEM GENOZID AN
DEN ARMENIERN IM 1. WELTKRIEG
3. SCHLUSSTEIL:
ZUSAMMENFASSUNG, KOMMENTIERUNG, AUSBLICK
4. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung: Erinnern und Vergessen
„Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.“1
Dieses Eingangszitat von Friedrich Nietzsche scheint im Kontext mit dem Forschungsgegenstand dieser Arbeit, „Konzepten von Erinnerungskultur in Anknüpfung an Nietzsche“, zunächst widersprüchlich, verweist er doch auf die Notwendigkeit des Vergessens, und Vergessen wird als das Gegenteil von Erinnern begriffen. Doch das Zitat ist ein Hinweis auf die Dialektik von Erinnerung und Vergessen beim Prozess der Entstehung und Entwicklung von Gedächtnis und Gedächtnisformen sozialer und kollektiver Natur: soziales Vergessen ist Voraussetzung für kulturelle Erinnerung, es kann nur erinnert werden, was auch vergessen werden kann2. Kulturelle Erinnerung wird geschaffen durch soziale, d.h. kollektive Gedächtnisformen; auf diesen wiederum basiert die Erinnerungskultur einer Gesellschaft. Soziale Gedächtnisformen werden in der interdisziplinär ausgerichteten Gedächtnisforschung u.a. im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Folgen zweier Weltkriege untersucht. Der Begriff der „Erinnerungskultur“ kam dabei erst in den 1990er Jahren3 in Deutschland auf, als Geisteswissenschaftler sich wiederholt intensiv der Gedächtnisforschung zu widmen begannen. Dennoch handelt es sich dabei nicht um ein Phänomen der Postmoderne4, denn bereits im 19. Jahrhundert beschäftigte sich Nietzsche mit der Vorstellung von der Existenz eines kollektiven Gedächtnisses. Er gilt damit neben dem Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs und dem Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Aby Warburg, die beide in den 1920er Jahren forschten, als einer der Gründerväter der sozialen Gedächtnisforschung5. Doch welche Bedeutung(en) hat dieser Begriff? Weshalb wird das Phänomen wiederholt thematisiert - ist das Thema ein neues im alten Gewand? Welche - angewandten - Konzepte von Erinnerungskultur(en) existieren und inwiefern sind diese, in Anknüpfung an Nietzsche, von „Nutzen“ bzw. „Nachteil“ für das „Leben“? Ziel dieser Arbeit ist die Beantwortung dieser Fragen durch eine medien- kulturwissenschaftliche Analyse mit Fokus auf der soziokulturellen, aber auch der historischen und politischen Dimension von Erinnerungskultur. Diese Analyse basiert auf der philosophisch-hermeneutischen Methode der Untersuchung angewandter Konzepte von Erinnerungskultur mit Schwerpunkt auf Nietzsches Werk „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Dazu wird in Kapitel 2.1. zunächst der Begriff der Erinnerungskultur im Zusammenhang mit Nietzsches geschichtskritischen Ausführungen im genannten Werk untersucht. In diesem Zusammenhang wird in Kapitel 2.1.1 auch der Konflikt zwischen dem Anspruch von Historikern auf Objektivität und Authentizität im Gegensatz zur subjektiven Realitätskonstruktion sowie dem damit assoziiertem „Ideologiepotenzial“ durch Erinnerungskultur betrachtet. Zum Verständnis von Entstehung, Wesen und „Charakter“ bzw. der Ontologie von Erinnerungskultur und den bei Nietzsche verwendeten Bezeichnungen wie „Historie“, und „Leben“ und der Vorstellung von „Konzepten“ des Phänomens der Erinnerungskultur(en) werden diese Begriffe in Kapitel 2.1 bzw. Kapitel 2.2 definiert. Leitthema dieser Arbeit ist, den praktischen „Nutzen und Nachteil“ dieser Konzepte von Erinnerungskultur mehrdimensional zu betrachten, nämlich für das „Leben“ des Menschen als Teil der Gesellschaft und Mit-Schöpfer seiner Kultur (durch „kollektive Erinnerung bzw. Gedächtnisformen“) sowie dieser Gesellschaft selbst im (medien-)kulturwissenschaftlichen, historischen und ethischen, d.h. praktischphilosophischem Kontext. Die Fragestellung ist dabei, inwiefern sich „Nutzen und Nachteil“ der jeweiligen Erinnerungskultur(en) im Laufe der Zeit durch globale, plurale oder auch interne politische, ökonomische oder soziokulturelle Einflüsse auf die jeweilige Gesellschaft bzw. Kultur ändern, sich dabei möglicherweise ins Gegenteil verkehren können und ob und wie das kulturelle Gedächtnis dabei einen Wandel erfährt. Welche Veränderungen im ethischen und moralischen Selbstverständnis und der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Gruppen bzw. Gesellschaften sind dabei festzustellen? Welche Inhalte werden mit welchen Folgen in die „Erinnerungskultur“ übernommen bzw. „herausgefiltert“? Wenn durch Selektion von Erinnerungen Wirklichkeit konstruiert wird, inwiefern kann dies nützlich oder nachteilig sein? Kann man überhaupt von „Nutzen und Nachteil“ sprechen oder handelt es sich vielmehr um einen immer wieder neu verhandelten Perspektivenwechsel, dessen Adaption und Transformation ebenfalls ethisch und moralisch stets neu bewertet wird? Zur Beantwortung dieser Fragen werden in den Kapiteln 2.3.1 und 2.3.2 mit dem deutschen und dem türkischen Beispiel von praktizierter Erinnerungskultur zwei sehr unterschiedliche praktisch angewandte Konzepte von Erinnerungskultur vorgestellt.
2. Konzepte von Erinnerungskultur inAnknüpfung an Nietzsche Definition von „Historie im Dienst des Lebens“
Da der Begriff der Erinnerungskultur, wie in Kapitel 1 erwähnt, aus der Postmoderne stammt, sind „Konzepte“ davon im Sinne von Modellen zuvor nicht offiziell definiert worden. Deshalb ist die Bezeichnung „Konzepte“ hier als „Begriffe“ von Erinnerungskultur aufzufassen. Die Anknüpfung an Nietzsche stützt sich vor allem auf sein Werk „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ in „Der Unzeitgemäßen Betrachtungen zweites Stück“ von 1874, verfasst in den Zeiten der Hochindustrialisierung und eines erstarkendem Nationalismus im 1871 gegründeten Deutschen Reich. Nietzsches Schrift ist eine Kritik am Authentizitätsanspruch der Historiker seiner Zeit, die mit ihrer „Historie“ den Nationalismus unterstützten6. Obwohl bereits 145 Jahre alt, erscheinen Nietzsches Beobachtungen und Ausführungen aktuell für Gedächtnisforschung und Geschichtswissenschaft. Nietzsche selbst hat den von ihm verwendeten Begriff „Historie“ nicht abschließend definiert, so dass interdisziplinär verschiedene Interpretationen verwendet werden. Manche Historiker verstehen darunter den Zugriff auf Geschichte oder Geschichtsschreibung7, in dieser Arbeit soll „Historie“ aber im kulturwissenschaftlichen Sinne verstanden werden: quasi als „Vorstufe“ zur Erinnerungskultur, dessen Inhalte sich aus dem kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses speisen. Erinnerungskultur stellt eine Form der „Aneignung der Vergangenheit durch eine Gruppe“ und eine „Form des Gebrauchs von Vergangenheit“8 dar. In Aneignung geschieht Wandlung oder Transformation, und die transformierte Vergangenheit bildet die Erinnerungskultur(en); diese wiederum prägen ihrerseits die Art und Weise der Umwandlung und ggfs. Perspektivenwechsel mit, je nachdem, ob sie zur gewünschten Gruppenidentifikation und den gemeinsamen Zielen9 beitragen. „Historie“ ist Teil des kulturellen „Lebens“, zu dem neben „objektiver“ Geschichtsschreibung auch das kulturelle Narrativ gehört. Der Begriff von „Leben“ bei Nietzsche meint nicht nur die moralische Auffassung davon im Sinne eines über Kompromisse erreichten friedlichen Zusammenlebens, sondern die ethische Vorstellung einer „plastischen Kraft“10 einer Gesellschaft, eine Kraft, mittels derer sie sich auf einem Weg der Erkenntnis bewusst weiterentwickeln kann. Mit dieser Kraft wird „Historie“ zum Vorteil für das Leben“, steht also im Dienst des Lebens, wie in Kapitel 2.2 noch näher erläutert. In Kapitel 2.1 folgt zum besseren Verständnis des Begriffs „Erinnerungskultur“ eine detaillierte Erläuterung auf Basis der modernen Gedächtnisforschung.
2.1 Versuch einer Herleitung und Definition des Begriffs „Erinnerungskultur“
Mit der Herleitung des Begriffs „Erinnerungskultur“ für die weitere Analyse soll der Bezugsrahmen für die Untersuchung von „Konzepten von Erinnerungskultur“ in Kapitel 2.3 geschaffen werden. Der Weg zu dieser Definition führt zunächst über weitere Begriffsdefinitionen wie Kultur, Erinnerung, Gedächtnis in seinen individuellen, sozialen bzw. kollektiven Formen und deren Interdependenzen. Die Definition der „Kultur“ als Teil des Begriffs „Erinnerungskultur“ wird gedeutet im Sinne der cultura animi, der Kultivierung des Geistes11. Im Kontext der Gedächtnisforschung sind auch neuronale, semantische, soziokulturelle, politische und historische bzw. geschichtswissenschaftliche und mediale Einflüsse auf diese Gedächtnisformen zu berücksichtigen, welche die Erinnerungskultur maßgeblich mitgestalten. Erinnerung bezeichnet eine menschliche Handlung, etwas Vergessenes bewusst wieder ins Gedächtnis zu bringen bzw. Inhalte ins Bewusstsein (zurück) zu rufen12. Die Erinnerungshandlung kann sowohl reflexiv, also individuell - sich selbst an etwas erinnern - als auch auf andere bezogen sein - jemanden an etwas erinnern13 - und erhält damit bereits interaktiven bzw. „sozialen“ Charakter. Seit dem 18. Jahrhundert kommen die Bedeutungen „Erinnerungsfähigkeit“ und „Gedächtnis“ hinzu14, jedoch seien Erinnerung und Gedächtnis einander nicht gleichzusetzen, denn „Gedächtnis“ erfasse sowohl das Erinnerungsvermögen als auch das Gedenken im Sinne von ehrendem Andenken15 und werde als „Zustand“ begriffen mit prozessualem Charakter16. Das Erinnern sei eine Handlung zur Konstruktion von Realität17 bzw. Realität der Vergangenheit18, das Gedächtnis etabliere oder festige diese Realität und ermöglicht die Vorstellung von einer Zukunft. Gemäß Aleida Assmann19 weist das menschliche Gedächtnis drei Dimensionen auf, nämlich eine neuronale, eine soziale und eine kulturelle. Die neuronale Ebene ist die biologische Grundlage, getragen vom individuellen Gehirn und zentralem Nervensystem. Es benötigt für seine Entwicklung soziale Interaktion und Kommunikation und kulturelle Interaktion durch Zeichen und Medien20. Das individuelle Gedächtnis lässt sich in der neuronalen Dimension erfassen: das Individuum ist zwar unteilbar, aber keine in sich abgeschlossene Einheit, sondern verknüpft sich permanent mit den Erfahrungen aus den Erinnerungen anderer Individuen. Dies ist der Ursprung des sozialen Gedächtnisses. Gemäß der These des Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs ist das menschliche Gedächtnis von Kindheit an sozial konstituiert21, gruppenbezogen und kommunikativ22. Da es sich durch Sprache formt, die als kulturelle soziale Praxis durch Familie oder sonstige Gruppen erlernt bzw. erfahren wird, ist es zunächst mündlich tradiert23 Hier wird die Interdependenz zwischen der neuronalen und der sozialen Dimension und die Verschränkung oder Vernetzung von individuellem („Ich“) und „sozialem“ Gedächtnis („Wir“)24 deutlich. Das soziale Gedächtnis ist eine kollektive Gedächtnisform und wird als gesellschaftliches „Kurzzeitgedächtnis“25 bezeichnet, geformt durch die Wahrnehmung geschichtlicher Ereignisse durch Zeitzeugen. Als kommunikative Gedächtnisform kann es sich auf maximal drei bis vier Generationen (80 - 100 Jahre) ausweiten26: mit dem Tod der Zeitzeugen erlischt auch die „lebendige Erinnerung“27. Seit den 1980ern Jahren gilt das Verständnis, dass es ein durch Gruppen gemeinsam erschaffenes und genutztes „kulturelles Gedächtnis“ gibt, welches einer Gruppe bzw. Kultur „Selbstvergewisserung und Orientierung für die Zukunft aufbaut und über Generationen hinweg weitergibt“28. Diese Gedächtnisform wird als das gesellschaftliche „Langzeitgedächtnis“29 bezeichnet. Es ist geprägt von den Medien der jeweiligen Gesellschaft, Geschichtsschreibung, Narrativ und politischen Strömungen30. Das kulturelle Gedächtnis umfasst einerseits ein Funktionsgedächtnis, das auf symbolische Praktiken auf Basis von Wiederholung wie „Traditi onen, Riten und der Kanonisierung von Artefakten“ beruht31, und andererseits ein Speichergedächtnis, das „materiale Repräsentationen durch Medien wie Bücher, Bilder, Filme, Bibliotheken, Museen und Archive“ darstellt32. Es koexistiert mit der individuellen Erinnerung der einzelnen Gruppenmitglieder und ist damit gleichzeitig repräsentativ für kollektive Vergangenheit und Einzelschicksale33. Hergeleitet aus diesen kollektiven Gedächtnisformen stehen am Ende dieses Kapitels die Definitionen für Erinnerungskultur, die interdisziplinäre Unterschiede aufweisen: die Historiker Edgar Wolfrum und Günter Hockerts bezeichnen Erinnerungskultur als einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur34 bzw. als „Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauches der Geschichte in der Öffentlichkeit“35. Dieser Analyse schließt sich der Historiker Christoph Cornelißen an und ergänzt:
„Der Begriff umschließt [.] neben Formen des ahistorischen oder sogar antihistorischen kollektiven Gedächtnisses alle anderen Repräsentationsmodi von Geschichte, darunter den geschichtswissenschaftlichen Diskurs sowie die nur „privaten” Erinnerungen, jedenfalls soweit sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben. Als Träger dieser Kultur treten Individuen, soziale Gruppen oder sogar Nationen in Erscheinung, teilweise in Übereinstimmung miteinander, teilweise aber auch in einem konfliktreichen Gegeneinander.„36
Von den hier genannten unterschiedlichen „Kulturträgern“ werden in Kapitel 2.3 vor allem Nationen untersucht.
Der Kulturwissenschaftler Matthias Berek erkennt Erinnerungskultur als gesellschaftlichen Prozess37.“Wahre“ Erinnerung, z.B. im Sinne von „historischer Wahrheit“ könne in den komplexen Prozessen von Erinnerungskultur gar nicht existieren38. Dieser Aspekt ist wichtig, da diese Prozessualität auf künftige Veränderungen in der Wahrnehmung von Vergangenheit verweist und damit ein Hinweis auf die Veränderlichkeit oder Ersetzbarkeit der Inhalte von Erinnerungskultur ist. Astrid Erll, Anglistin mit einem Forschungsschwerpunkt auf kultursemiotischer Gedächtnisforschung, geht davon aus, dass Erinnerungskultur nur im Plural existieren könne, da es keine homogene Gesellschaften mit gleicher „Konfiguration von kollektivem Gedächtnis“ gebe, sondern jede bereits aus mitunter konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften bestehe39 ; damit schließt sie sich Cornelißen teilweise an. Auch Erll betont die Offenheit und Vernetztheit des kollektiven Gedächtnisses40, aus dem sich die Erinnerungskulturen speisen. Aleida Assmann, Anglistin, Ägyptologin, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin bietet eine wichtige zusätzliche Definition: die ethische Erinnerungskultur41, die sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Deutschland entwickelt und als ethische Wende bezeichnet wird. Sie weckte weltweit ein neues Bewusstsein für Geschichte und die kritische Auseinandersetzung mit politischen Verbrechen, diesmal aus der Sicht der Opfer mit dem Zweck, ihnen zu ermöglichen, ihren Status als Subjekt zurückzuerlangen. Die Bedeutungen und Konsequenzen des mit der ethischen Wende eingeleiteten Perspektivenwechsels werden in Kapitel
2.3.1 behandelt.
Ein weiteres wichtiges Element von Realitätskonstruktion oder Wahrnehmungsbeeinflussung durch Erinnerungskultur ist deren Medialität, d.h. das kulturelle Speichergedächtnis: von der Antike bis in die Gegenwart spielte (massen-)mediale Verbreitung von Informationen oder Kommunikation, die über das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis in die Erinnerungskultur(en) Aufnahme fanden, eine bedeutende Rolle. Die per Massenmedien erreichten Öffentlichkeiten erweiterten sich im Laufe der Jahrhunderte und wurden diverser. Sie waren von Anfang an „transnational“ ausgerichtet in dem Sinne, dass über politische Landesgrenzen hinaus im jeweiligen gemeinsamen Sprachraum kommuniziert werden konnte, wenn auch mitunter durch Formen von Zensur beschränkt. In Kapitel 2.3 wird bei der Vorstellung der beiden Konzepte von Erinnerungskultur die besondere Rolle der Medien an Beispielen aus der Praxis noch deutlicher. Nach dieser Herleitung ist festzustellen, dass Erinnerungskultur quasi eine GedenkKultur ist mit einer durch Prozessualität und Subjektivität konstituierten Ontologie, die auch subjektivierende Wirkung haben kann. Vergessen ist scheinbar nicht zulässig, besonders bezüglich der Erhaltung „historisch objektiver Fakten“ - aber auch diese unterliegen der Subjektivität, wie im folgenden Kapitel erläutert wird.
2.1.1 Kollektives Gedächtnis und historische Authentizität im Spannungsfeld
Der in Kapitel 2.1 von Cornelißen genannte Aspekt von Ahistorizität oder Anthi- Historizität im kulturellen Gedächtnis bildet die Basis für die Idee, dass das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft durch Selektion von Erinnerung beschädigt würde. Dies sollen die Historiker verhindern in ihrer Rolle als Verteidiger der „historischen Authentizität“ und „Demnach wären sie (Mit-)Schöpfer eines politischen oder nationalen „wahren“ Gedächtnisses. Schon Cicero sagte, Geschichte sei „das Leben des Gedächtnisses“ (historia vita memoriae)42. Die Geschichtsschreiber der Antike zielten darauf ab, Erinnerung bzw. das Gedenken an große Taten und Ereignisse zu erhalten43 und trugen auf diese Weise zur Identitätsfindung der jeweiligen Gruppe oder Gesellschaft bei, aus deren Mitte die „Helden“ stammten, die solche erinnerungswürdigen Taten begingen. Burke verweist darauf, dass bereits in den frühen Aufzeichnungen von Geschichte gesellschaftlich bedingte bewusste (und unbewusste) Auswahlmechanismen sowie Deutung und „Entstellung“ stattgefunden haben44. Damit findet sich bereits in der Antike der Hinweis auf die subjektive Konstruktion von gesellschaftlicher Realität im Bezug auf kollektive Vergangenheit durch Geschichtsschreibung. Auch Nietzsche kritisiert in seinen Ausführungen in „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ die Vorstellung einer objektiven Geschichtswissenschaft, deren Bedeutung über das kulturelle Narrativ bzw. „das Leben“ erhoben würde. Er sah darin nicht nur einen „Nachteil“, sondern sogar eine Gefahr für „das Leben“ und fand dies bestätigt im Leitspruch der Historiker „Fiat veritas, pereat vita“: „Es werde Wahrheit - auf Kosten des Lebens“. Gemäß Nietzsche lähme oder vernichte eine schonungslose historische Analyse Lebendigkeit einer Kultur45. Historie oder Geschichte solle dem „Leben“, d.h. dem Menschen bzw. dessen Gesellschaft und Kultur dienen und der Mensch sei nicht Mittel, sondern Zweck dieser „Historie“ (s. Kapitel 2.). Erst die Fähigkeit zu vergessen mache den Menschen handlungsfähig, während ein Übermaß an Erinnerung oder „Historie“ sich lähmend auf Individuum und Gesellschaft auswirke. Es komme auf einen Ausgleich zwischen Erinnern und Vergessen der „Historie“ an, den Nietzsche als „plastische Kraft“46 eines Menschen, eines Volkes oder einer Kultur bezeichnet. Diese ermögliche Wachstum durch Erkenntniserlangungen mittels Aneignung und Wandlung der Wahrnehmung von gemeinsamer Vergangenheit. Sie sei der Maßstab für den Erfolg einer Gesellschaft. In Kapitel 2.2 wird auf diese Idee noch ausführlicher eingegangen.
[...]
1 NIETZSCHE, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Der Unzeitgemäßen Betrachtungen zweites Stück, Leipzig 1934, S. 3.
2 Vgl. ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2. Auflage, Stuttgart und Weimar 2011, S. 7.
3 Vgl. ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 3.
4 Vgl. CORNELIßEN, Christoph: Erinnerungskulturen, Version 2.0, n: Docupedia- Zeitgeschichte, 22.10.2012. S. 3.
5 Ebd. S. 3
6 Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 67.
7 Vgl. WOLFRUM, Edgar: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als Forschungsfelder. In: SCHEUNEMANN, Jan (Hg.): Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2010, S. 17.
8 Vgl. ASSMANN, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013, 2. Auflage 2016, S. 32.
9 Vgl. NOVICK, Peter: Nach dem Holocaust, Frankfurt am Main 2003, S. 14.
10 Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 4.
11 Vgl. BEREK, Matthias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2009, S. 34.
12 Vgl. BEREK, Matthias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 31.
13 Vgl. Ebd. S. 30.
14 Vgl. Ebd. S. 31.
15 Vgl. BEREK, Matthias, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 31.
16 Ebd. S. 33.
17 Ebd. S. 34.
18 Vgl. ASSMANN, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2014, S. 21.
19 Ebd. S. 31.
20 Ebd. S. 33.
21 Vgl. HALBWACHS, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin und Neuwied 1966, S. 23.
22 Vgl. ASSMANN, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität in: Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 10
23 Ebd. S. 10.
24 Vgl. ASSMANN, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 21.
25 Ebd. S. 28.
26 Vgl. ASSMANN, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 28.
27 Vgl. WOLFRUM, Edgar: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als Forschungsfelder in: SCHEUNEMANN, Jan (Hg.): Reformation und Bauernkrieg. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik im geteilten Deutschland, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2010, S. 18.
28 Vgl. ASSMANN, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 25.
29 Vgl. ASSMANN, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 52.
30 Ebd. S. 52.
31 Ebd. S. 53.
32 Ebd., S. 54.
33 Vgl. ASSMANN, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 17.
34 Vgl. WOLFRUM, Edgar: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik als Forschungsfelder, S. 17.
35 Vgl. HOCKERTS, Hans-Günther: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft in: JARAUSCH, Konrad H. / SABROW, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis: Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main 2002, S. 41.
36 CORNELIßEN, Christoph: Erinnerungskulturen, Version 2.0, S in: Docupedia- Zeitgeschichte, 22.10.2012. URL: http://docupedia.de/zg/cornelissen_erinnerungskulturen_v2_de_2012 (30.03.2019)., S. 2.
37 Vgl. BEREK, Matthias, Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 33.
38 Vgl. Ebd., S. 33.
39 Vgl. ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2. Auflage 2011, S. 116.
40 Vgl. Ebd., S. 116.
41 Vgl. ASSMANN, Aleida: Das neue Unbehagen in der Erinnerungskultur, S. 32.
42 Vgl. BURKE, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis in: ASSMANN, Aleida / HARTH Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289.
43 Vgl. BURKE, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis, S. 289.
44 Ebd.
45 Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in: Der unzeitgemäßen Betrachtungen zweites Stück, Leipzig 1934, S. 27.
46 Vgl. NIETZSCHE, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 4.