Leseprobe
1. EINLEITUNG
2. „DADA MEETS INDUSTRIAL": ZUR ASTHETIK DER ELEKTRONIK- BAND CABARET VOLTAIRE
2.1 „INDUSTRIAL MUSIC FOR INDUSTRIAL PEOPLE" - BEGRIFFSERKLARUNGEN UND KONTEXTUELLE ANALYSE DER „FIRST WAVE" 1973 - 1981.
2.2 Intermedialitaten im Werk von Cabaret Voltaire durch Einflusse aus AVANTGARDE-KUNST,LITERATUR DER POSTMODERNE UND MUSIQUE concrete: Dadaismus, William S. Burroughs und John Cage.
2.3 PRODUKTION UND REZEPTION:DIEMEDIEN-ASTHETIK IM AUDIOVISUELLEN WERK DER „NOiSE-ART-TERRORiSTS" CABARET VOLTAiRE
3. SCHLUSSTEiL: ZUSAMMENFASSUNG, KOMMENTiERUNG, AUSBLiCK
4. LiTERATURVERZEiCHNiS
1. Einleitung
Die Elektronik-Band „Cabaret Voltaire“ aus der nordenglischen Industriestadt Sheffield war von 1975 bis 1993 aktiv und wird aufgrund ihres experimentellen musikalischen Stils, der sich unter Einsatz von Kommunikationselektronik- Geraten entwickelte, als ..Industrial Band" bezeichnet. Cabaret Voltaire gelten als einflussreichste Mitbegrunder des Genres der „Indusrial Music" in Nordengland, das sich in den spaten 70er Jahren in Sheffield und London entwickelte. Der Name der Band bezieht sich auf den gleichnamigen Grundungsort der Dada- Bewegung in Zurich und markiert damit eine enge Verbindung zur Avantgarde- Kunst des fruhen 20. Jahrhunderts, deren Asthetik und Philosophie das musikalische bzw. multimediale Werk Cabaret Voltaires deutlich pragte.
In dieser Arbeit wird die Asthetik bzw. die Medienasthetik des audiovisuellen Werks der Band im Kontext ihrer soziokulturellen Dimension1 untersucht. Der Begriff „Asthetik" wird phanomenologisch im Sinne von Informations- und Rezeptionsasthetik verwendet, weil es sich bei dem zu analysierenden Forschungsgegenstand um eine Erscheinungder Postmoderne, namlich musikalische „Medien-Kunst" bzw. Pop-Musik handelt. Die von Cabaret Voltaire zur Erzeugung des Mediums Musik verwendeten technischen Medien werden entsprechend als asthetische Phanomene erfasst und einzelmedienubergreifend untersucht2.
DasZiel dieser Arbeit ist, durch die Analyse derbesonderen (medien- )asthetischen Merkmale dieser Band und ihres musikalischen Werks herauszufinden,wie diese (Medien-)Asthetik als soziales und kunstlerisches „Produkt" ihrer Zeit, i.e. die Phase der 3. Industriellen Revolution3 bzw. des Elektronikzeitalters, wahrgenommen wurde.FolgendeFrage soll beantwortet werden:ist die audiovisuelle Medienasthetik des musikalischen Werksvon Cabaret Voltaire ein Ausdruck kritischer Reflexion der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Zeit, und womoglich auch im heutigen digitalen Zeitalter noch relevant, oder - mit Shakespeare gesprochen - „Viel Larm Um Nichts“? Zu diesem Zweck werden in Kapitel 2.1 soziokulturelle und historiographischen Kontexte betrachtet, um Entstehung und Grundgedanken von „Industrial Music“zu erfassen.In Kapitel 2.2 werden intermediale kunstlerische medienasthetische Einflusse auf das audiovisuelle Werk von Cabaret Voltaire untersucht. Zur Analyse der Wirkung der audiovisuellen Asthetik von Cabaret Voltaire werdenin Kapitel 2.3 Produktion und Rezeption des musikalischen Werks untersucht. Anhand eines konkreten Beispiels, namlich des Stucks „Nag Nag Nag“ von 1979, das einen Hohepunkt des kreativen Schaffens4 der Band markiert, soll schlieBlich gezeigt werden, wie Bild, Text und Klang multimedial zusammenwirken und welche medien-asthetischen Interpretationsmoglichkeiten sich daraus ergeben.
Die Untersuchung beschrankt sich auf die erste Schaffensphase der Band von 1975 bis1981, die sogenannte First Wave5, die eine Entwicklungsmarke darstellt. Innerhalb dieses Zeitraums wird die fruhe experimentelle „DIY“(Do It Yourself) -Phase der Band, die noch stark durch einen Austausch zwischen Bildender Kunst und Musik gekennzeichnet und damit medienasthetisch besonders interessant ist, ebenso erfasst wie der Einsatz von zu dieser Zeit neuartigen musikalischen Produktionsmitteln in Form elektronischer Gerateder Kommunikationstechnologie.Diese Elemente gestalten die besondere „Elektronik-Avantgarde“-Asthetik des audiovisuellen Werks von Cabaret Voltaire, das sich ab1981 durch das Ausscheiden eines Bandmitglieds, aber auch durch dentechnologischen Fortschritt und Wandel der musikalischenProduktionsmittel und Produktionsweise stilistisch allmahlichin Richtung „EBM“ (Electronic Body Music) und „Techno“ entwickelte.
2. „Dada meets Industrial“: zur Asthetik der Elektronik-Band
Cabaret Voltaire.
Stephen Mallinder (*1955), Richard H. Kirk (*1956) und Chris Watson (*1952), drei junge Manner aus der britischen Arbeiterklasse6, aufgewachsen in der nordenglischen Industriestadt Sheffield, kannten sich vom „Abhangen“ in den StraBen der Stadt. Sie waren gelangweilt, kunst-, musik- und technikinteressiert und begangen, zusammen auf dem Dachboden in Chris Watsons Haus musikalische Experimente und bald auch experimentelle Musik zu machen. Fruhe Resultate waren Tape-Loops (Tonband-Schleifen), die sie vom Rucksitz eines Lieferwagens spielten, wahrend sie durch die StraBen Sheffields fuhren7. Diese Aktion erinnerte an den Schriftsteller Ken Kesey, der mit seinen Anhangern, den „Merry Pranksters“, unter dem Einfluss von LSD in den 60er Jahren mit dem Bus durch die USA reiste und dabei psyschedelische Musik uber Lautsprecher spielte8. Dies wirkte wie eine spielerische Ironisierung der Verbreitung von Werbung oder Propaganda in der Art einer Performance - im Fall von Cabaret Voltaire war die „Botschaft“ quasi codefreier Larm. 1973 beschlossen sie, eine Band zu grunden, die sie nach dem Zuricher Kunstlertreffpunkt der Dadaisten „Cabaret Voltaire“ nannten. Zu diesem Zeitpunkt war Mallinder Fabrikarbeiter, Kirk Student an der Sheffield Art School und Watson arbeitete als Telekommunikations-Ingenieur9. Ihren ersten Auftritt hatten sie 1975, doch ihr ungewohnlicher neuer Stil kam beim Publikum zunachst sehr schlecht an, der Auftritt endete in einer Prugelei10. Bis 1981 produzierten sie gemeinsam ihre experimentelle Musik, obwohl sie keinerlei musikalische Ausbildung besaBen, d.h. sie konnten weder Noten lesen noch Instrumente spielen. Mallinder agierte als Bassist und Sanger; seine Stimme erinnerte weniger an Gesang als vielmehr an „bellenden Kasernenhofbefehlston“11. Richard H. Kirk, fungierte als Gitarrist und stellte als ehemaliger Kunststudent die Verbindung zur Avantgarde-Kunst her, wahrend Chris Watson die „Elektronik“ bediente, d.h. Tonbander (Tapes), den Oszillator, in den spateren 1970er Jahren auch Synthesiser, Rhythm Units bzw. Drum Machines und sonstige Gerate und Maschinen wie Sequenzer zur experimentellen Klangerzeugung und - modifikation. Als „Techniker“ der Band besaB er ein modernes Vierspur- Tonbandgerat und baute aus Bausatzen selbst Musikgerate der neuesten Sound-Technologie zusammen12. Auch andere Musiker oder musik-experimentell interessierte Kunstler aus Sheffield nutzten Watsons Gerate fur ihre
Experimentalmusik13. Watson verlieB die Band 1981, weil er sich von den Erwartungen der seit den 80er Jahren starker marktorientierten Musikindustrie nicht abhangig machen wollte14. Von Martyn Ware, Sanger der Sheffielder Elektronik-Band „The Human League“, die zum bekanntesten Musik-Export aus Sheffield der 1980er werden sollten, werden Cabaret Voltaire als „godfathers of that scene in that time“15 bezeichnet, die alle in ihrer Umgebung inspirierten und damit zu den kreativen Vorbildern der Sheffielder Industrial Music-Szene wurden. Obwohl Cabaret Voltaire weltbekannt werden sollten, stellte sich ein groBerer kommerzieller Erfolg fur sie nicht ein.
Die Erscheinung der Band Cabaret Voltaire (und auch ihr akustisches Werk) lasst sich beschreiben mit dem Begriff „Reiz-Asthetik“16, i.e. eine (kunstlerische) Asthetik als „Mittel der Revolte“17 wie in den Avantgarde-Kunstrichtungen des Dadaismus, Surrealismus und Futurismus. Cabaret Voltaire nutzten diese Reiz- Asthetik in ihrem musikalischen Werk, stellten sich aber durch die Wahl des Namens bewusst ins Erbe der Dadaisten, deren Botschaft und Asthetik sich von den anderen Avantgarde-Kunststromungen deutlich unterschied- vor allem vom Futurismus, der nicht nur dem technischen Fortschritt, sondern in der Folge auch Krieg, Gewalt und dem Faschismus kritiklos zugewendet war. Dabei nahm die Band ebenso wie die Dadaisten und im Gegensatz zu den „Rockstars“ anderer Bands ihrer Zeit bewusst Abstand von jeglicher Form von Personenkult, und das war, wie Chris Watson betonte, als eine Form von Subversion zu verstehen: „Cabarat Voltaire were the most subversive, not interested in personality cult - who we were didn't really matter“18. Dennoch fielen sie durch eine distinguierte „stylische“ Erscheinung auf: Ihr Look war inspiriert von Lou Reed, aber auch von der sinnliche Asthetik Brian Enos und Roxy Music, von denen Cabaret Voltaire nach eigener Aussage begeistert waren19. Dies spiegelt sich noch in der Benutzung von Make-up wieder, wie es fur die Glam-Szene, zu der Roxy Music gehorten, typisch war: Mallinder galt als „the most attractive man in rock“20, er stellte sich als eine Art Post-Punk-Dandy in Lederhosen und mit Lidstrich dar, Kirk trug stets seinen langen schwarzen Mantel und war ebenfalls geschminkt, Watson‘s „Styling“ ahnelte dem Mallinders. In einem Artikel aus dem Fanzine „Gunrubber Magazine“ aus dem Jahr 1977 heiBt es:
„They sound good, they're different, and what's more, they look good. I mean they are really sharp all the time. I think looking good and being good is as important as the noise that comes out of the amps. After all, you don't talk about going to hear a band; you talk about going to see a band.”21
An die intermedialen kunstlerischen Einflusse, die auf die (audio-)visuelle Asthetik und ihre Techniken gewirkt haben, wird in Kapitel 2.2 angeknupft. Im folgenden Kapitel wird nun zunachst der soziokulturelle Hintergrund erortert, der die Grundlage fur die Entwicklung und Asthetik der Musik von Bands wie Cabaret Voltaire bildet.
2.1 „Industrial Music for Industrial People“ - Begriffserklarungen und kontextuelle Analyse der „First Wave“ 1973 - 1981.
Im Kontext der medienasthetischen Analyse des audiovisuellen Werks der Band Cabaret Voltaire werden die historischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in GroBbritannien innerhalb der „First Wave“, d.h. von 1973-1981als soziokulturelle Phanomene betrachtet, die die Entstehung des Genres der sogenannten Industrial Music begunstigten. In diesem Zusammenhang sollen die Begriffe und Grundgedanken von „Industrial Music“ (als Produkt) und „Industrial People“ (als Publikum bzw. Rezipienten) erlautert werden. Einleitend folgt ein kurzer Uberblick uber die historische Dynamik, welche die Medienasthetik Cabaret Voltaires beeinflusste. Im medientechnologischen Kontext sprach man bereits seit den 1960er Jahren von der 3. Industriellen Revolution22und meinte damit die Evolutiondes Informationszeitalters durch Einsatz von Mikro-Elektronik und Computerisierung. Durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien wurde die Automatisierung, Serienproduktion sowie Speicherung von Daten ermoglicht.
[...]
1 Vgl. LESCHKE, Rainer: Einfuhrung in die Medientheorie, Munchen 2003, S. 161.
2 Vgl. SCHNELL, Ralf: Medienasthetik in: Schanze, Helmut (Hrsg.): Handbuch Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 73.
3 Vgl. SCHONFELDER, Christian: MuBe - Garant fur unternehmerischen Erfolg. Ihr Potenzial fur Fuhrung und die Arbeitswelt 4.0, Wiesbaden 2018, S. 11.
4 Vgl. Fish, Mick: Industrial Evolution. Through the Eighties with Cabaret Voltaire, London 2002, S. 63.
5 Vgl. WOODS, Bret D.: Industrial Music for Industrial People. The History and Development of an Underground Genre, Florida State University, College of Music, Tallahassee, FL, USA, Copyright © 2007 Bret D. Woods (Diss. Phil Tallahassee 2007), S. 8.
6 Vgl. REED, S. Alexander: Assimilate. A Critical History of Industrial Music, New York 2013, S. 173.
7 Vgl. FISH, Mick: Cabaret Voltaire: The Art of the Sixth Sense, Harrow 1989, S. 18.
8 Vgl. BUSSER, Martin: On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik, Hamburg 2004, S. 30.
9 Vgl. FISH: Cabaret Voltaire, S. 19.
10 Vgl. FISH, Mick: Industrial Evolution, S. 61.
11 Vgl. Ebd. S. 58.
12 Vgl. FISH: Cabaret Voltaire. S. 21.
13 Vgl. Ebd, S. 22.
14 Vgl. FISH: Industrial Evolution, S. 108.
15 Vgl. WOOD, Eve: Made in Sheffield. the birth of electronic pop, DVD, Sheffield und New York, 2005, 20.43“.
16 HECKEN, Thomas: Pop-Asthetik, 24.11.2013 in: Pop-Zeitschrift.de.
URL: http://www.pop-zeitschrift.de/2013/11/24/pop-asthetikvon-thomas-hecken24-11- 2013-2/ (22.09.2018), S. 7.
17 Vgl. Ebd, S. 6.
18 Vgl. WOOD: Made in Sheffield, 20.17”.
19 Vgl. REYNOLDS, Simon: Schmeiss Alles Hin Und Fang Neu an. Postpunk 1978-1984, Munchen 2007, S. 176.
20 Vgl. FISH: Ebd., S. 63.
21 BOWER, Paul / NEWTON, Adi: "Made in Sheffield: A decade of Documenting Sheffield Music: Gunrubber excerpts". © www.sheffield vision ltd. 2001-2007.URL: http://www.sheffieldvision.com/aboutmis gunrubber.html.
22 Vgl. SCHONFELDER: MuBe - ein Garant fur unternehmerischen Erfolg, S. 10.