Kiezorientierte Prävention von Kinder- und Jugendgewalt

Eine empirische Studie in den Berliner Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding


Diplomarbeit, 2008

122 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Definition der relevanten Begriffe

3 „Das macht man nicht, das geht so nicht“ – Das abweichende Verhalten
3.1 Soziale Kontrolle

4 Kinder- und Jugendgewalt: Mögliche Entstehungsgründe
4.1 Die Entstehung von Gewalt
4.2 Wann wird aus jugendlichem Leichtsinn abweichendes Verhalten?
4.3 Sozialisatorische Bedingungen
4.3.1 Sozialisation allgemein
4.3.2 Sozialisation von Immigranten
4.3.2.1 Verweigerte Integration? Die Bildung von Subkulturen und Parallelgesellschaften
4.3.2.2 Werden Kinder von Migranten häufiger straffällig als deutsche Minderjährige?
4.3.3 Typisch Junge, typisch Mädchen – Geschlechtsspezifische Gewalt
4.4 Resümee

5 Prävention
5.1 Präventionsebenen
5.2 Die Jugendhilfe
5.2.1 Wieso gibt es kein allgemeines, national gültgiges Programm zur Gewaltprävention?
5.3 Lokale Gewalt- und Kriminalitätsprävention in Berlin
5.3.1 Die Landeskommission Berlin gegen Gewalt
5.3.2 Das Programm soziale Stadt
5.3.3 Systematische Prävention
5.3.4 Kiezorientierte Prävention
5.3.4.1 Ebenen der kiezorientierten Prävention
5.3.5 Resümee

6 Die drei Untersuchungsgebiete
6.1 Zahlen und Fakten
6.2 Kriminalitätsbelastung in den einzelnen Bezirken
6.3 Tatverdächtige unter 21 Jahre
6.3.1 Weibliche und nicht strafmündige Tatverdächtige
6.4 Resümee

7 Anlage der Untersuchung
7.1 Aufsuchende und hinausreichende Jugendarbeit
7.2 Die drei Untersuchungsprojekte
7.2.1 Outreach – Mobile Jugendarbeit in Neukölln
7.2.2 Kiezworker in Kreuzberg
7.2.3 Gangway e.V. – Streetwork in Wedding
7.2.4 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
7.3 Zielsetzung und Fragestellung der Untersuchung
7.4 Methodik
7.4.1 Das Experteninterview
7.4.2 Betriebswissen und Kontextwissen
7.4.3 Leitfadengestaltung
7.4.4 Wer ist ein Experte? – Auswahl der Interviewpartner
7.4.4.1 Wer wurde interviewt?
7.4.5 Auswertungsstrategie
7.4.6 Die verwendeten Hauptkategorien
7.4.7 Anonymisierung der befragten Personen

8 Darstellung der Untersuchungsergebnisse
8.1 Bestehende Probleme mit Kinder- und Jugendgewalt im Kiez
8.1.1 Die Formen der Gewalt und das Alter der Opfer
8.1.2 Veränderungen
8.1.3 Ursachen und Ziele der Gewalt
8.1.4 Das von den Medien propagierte Bild der Bezirke – Realtiät oder Phantasie?
8.1.5 Resümee
8.2 Projektkonzeption
8.2.1 Flexibilität der Arbeitsabläufe
8.2.2 Wahrnehmung der eigenen Rolle
8.2.3 Ziele der Befragten
8.2.4 Resümee
8.3 Die Arbeitsweise
8.3.1 Der Umgang mit tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen
8.3.1.1 Die Kommunikation von Gewalt und das Angebot alternativer Konfliktlösungsstrategien
8.3.2 Einbezug des Umfeldes
8.3.3 Problematik
8.3.4 Das propagierte Bild in den Medien – Hilfestellung oder Hindernis?
8.3.5 Resümee
8.4 Vernetzung und Kooperation
8.4.1 Sozialräumliche Vernetzung
8.4.2 Kooperationsprojekte
8.4.3 Kooperationspartner Polizei und Schulen
8.4.4 Die Rolle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt
8.4.5 Resümee
8.5 Individuelle und subjektive Erfolge
8.5.1 Resümee
8.6 Optimierungsbedarf
8.6.1 Finanzierung
8.6.2 Öffentliche Wahrnehmung
8.6.3 Das Alter der Zielgruppen
8.6.4 Verbesserung der Kiezstrukturen und Investitionen in Bildung
8.6.5 Resümee

9 Fazit und Diskussion der Ergebnisse im Kontext der theoretischen Überlegungen
9.1 Bestehende Bedarfe
9.1.1 Die Rolle der Eltern
9.1.2 Beschäftigungsmöglichkeiten
9.1.3 Bildungsfördernde Maßnahmen
9.1.4 Wiedererlangung der Fähigkeit zur Abschätzung möglicher Handlungskompetenzen
9.2 Möglichkeiten zur flexiblen Reaktion auf Bedarfsveränderungen

10 Handlungsempfehlungen für die einzelnen Projekte, sowie für die Präventionsarbeit allgemein

11 Schlussbetrachtung und kritische Reflexion

12 Quellenverzeichnis

13 Anhang

Eidesstattliche Erklärungen

1 Einleitung

„Is’ so Lauf von Gewalt so irgendwie. Wir kriegen von älteren Schläge, dafür schlagen wir wieder andere, die wir schlagen können. Das is’ der Lauf, das is’ so.“[1]

Sätze wie diese begegnen uns in den Medien immer wieder – und immer wieder er­schreckt es uns, dass sie von Minderjährigen ausgesprochen werden. Nicht erst seit dem Amoklauf eines Erfurter Schülers 2002 oder den Vorfällen an der Rütli-Schule in Ber­lin-Neukölln 2006 ist Kinder- und Jugendgewalt ein Thema öffentlichen Interesses. Die Frage, was Kinder und Jugendliche gewalttätig werden lässt, welche Gründe sich da­hinter verbergen und wie dies verhindert werden kann, treibt Journalisten und Wissen­schaftler schon seit Jahrzehnten um, und immer wieder rücken männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Fokus. Die gerichtliche Verhandlung der „U-Bahn-Schläger“ von München hat diese Diskussion aktuell wieder aufkommen lassen. Von besonderem Interesse für die Medien ist hierbei, dass das Opfer ein Erwachsener, ein Rentner war, der von zwei damals unter 21jährigen auch dann noch weiter geschlagen und getreten wurde, als er schon am Boden lag. Im Zuge dessen flammen die Diskussi­onen über die Möglichkeit der Abschiebung von „kriminellen Ausländern“, wie sie Hessens geschäftsführender Ministerpräsident Roland Koch während der Landeswahlen 2007 forderte, wieder auf.

Im Jahr 2007 wurden in Berlin 8.028 Fälle von Körperverletzung polizeilich erfasst, die von Jugendlichen begangen wurden[2]. Die meisten Täter waren männlich, die Anzahl der tatverdächtigten Nichtdeutschen[3] war, im Verhältnis zu ihrem Bevölkerungsanteil, über­proportional hoch. Auffällig ist, dass uns Meldungen über Kinder- und Jugendgewalt fast ausschließlich aus Bezirken erreichen, die eine hohe Arbeitslosenquote sowie einen hohen Ausländeranteil aufweisen. Auch die polizeilichen Statistiken zeigen eine höhere Kriminalitätsbelastung in jenen Gebieten auf. Der besondere Fokus der medialen Be­richterstattung liegt auf den Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding, die all diese Merkmale aufweisen. Sie sind auch Gegenstand dieser Untersuchung. In diesen drei Bezirken leben viele sozial schwache Familien und jeweils über 20% der Bewohner besitzen keinen deutschen Pass[4]. Hier finden sich auch viele Projekte der Jugendhilfe, die meisten davon widmen sich der Prävention von Gewalt. Prävention soll sich auf bestimmte Sozialräume konzentrieren, weshalb die meisten Projekte kiezorientiert kon­zipiert sind, so auch die drei im folgenden untersuchten Projekte Kiezworker, Outreach und Gangway e.V.

Eine mögliche Erklärung für das vermehrte Auftreten von Kinder- und Jugendgewalt in diesen Bezirken ist die Wohnsituation der Familien. Viele Großfamilien leben in klei­nen Wohnungen, in denen sich alle Kinder ein Zimmer teilen müssen, so dass sie keine Rückzugsmöglichkeiten haben. Hinzu kommt, dass Gewalt in vielen der dort ansässigen Familien ein Mittel der Kindererziehung darstellt. Um der räumlichen Beengtheit und der elterlichen Gewalt zu entfliehen, halten sich viele Kinder und Jugendliche häufig den gesamten Tag über auf der Straße auf. Dort fehlt es ihnen an Beschäftigung und sie kommen leicht „auf dumme Gedanken“, da sie ihre jugendliche Energie nicht kanalisie­ren können. Die frühe Gewalterfahrung lehrt die Minderjährigen, Konflikte nur auf eine Art zu lösen – durch den Einsatz ihrer Fäuste.

Die Wege der kriminellen Laufbahnen beginnen oft auf der Straße. Präventionspro­gramme haben die Aufgabe, die Kinder und Jugendlichen von der Straße zu holen, ih­nen Beschäftigung zu bieten und sie auf ihrem Weg in ein geregeltes Leben zu beglei­ten. Die Projekte widmen sich jenen Minderjährigen, die noch empfänglich für derartige Maßnahmen sind, die also noch nicht zu sehr in den kriminellen Bereich abgerutscht sind. In den drei Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding werden hauptsächlich Jungen mit Migrationshintergrund auffällig, weshalb die Projekte sich verstärkt dieser Gruppe zuwenden. Aber wie kommt es überhaupt dazu, dass Kinder und Jugendliche auffällig werden, was sind mögliche Ursachen und Hintergründe, welche Rolle erfüllen die Eltern und die Freunde und wie kann einer Entwicklung in den kriminellen Bereich entgegengewirkt werden? Welches Ziel verfolgen die Präventionsprogramme, welche Strategien verfolgen sie zur Zielerreichung und wie arbeiten sie mit ihren Zielgruppen? Ist Präventionsarbeit überhaupt erfolgversprechend? Um diese Fragen zu beantworten, müssen die Bedarfe an Interventions- und Präventionsmaßnahmen eines Gebietes zu­nächst von den Mitarbeitern der Jugendhilfe ermittelt werden, um ihre Angebote ent­sprechend darauf auszurichten. Hierzu ist eine flexible Reaktion auf Veränderungen notwendig, um möglichst zielgerichtet arbeiten zu können.

Aus den vorangegangen Überlegungen ergibt sich die zentrale Fragestellung für die vorliegende Diplomarbeit:

Gelingt es den Einrichtungen, ihre Maßnahmen und Angebote hinreichend auf die in den Kiezen bestehenden Probleme mit Kinder- und Jugendgewalt abzustimmen und können sie flexibel auf Bedarfsveränderungen reagieren?

Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, ist die Arbeit wie folgt aufgebaut:

Zunächst wird im theoretischen Teil dieser Arbeit der Frage nachgegangen, was unter abweichendem Verhalten zu verstehen ist, wie dieses in einer Gesellschaft definiert wird und welche Rolle die soziale Kontrolle dabei spielt. Um die Hintergründe kindli­cher und jugendlicher Gewalt zu erfassen, werden mögliche Einflussfaktoren und Ursa­chen ihrer Entstehung dargestellt. Da in den drei Untersuchungsgebieten Kreuzberg, Neukölln und Wedding Gewalttaten vermehrt von Minderjährigen mit Migrationshin­tergrund begangen werden, erfolgt eine nähere Auseinandersetzung mit den sozialisato­rischen Bedingungen von Immigranten, die Bildung von Subkulturen und Parallelge­sellschaften und auf die Probleme, mit denen sich viele Kinder von Immigranten kon­frontiert sehen. Da Gewalt hauptsächlich von Jungen verübt wird, wird der Frage nach­gegangen, welche Rolle geschlechtsspezifische Verhaltensweisen spielen. Das darauf­folgende Kapitel widmet sich der Prävention, ihrer Entstehung, Zielsetzung und ihrem Selbstverständnis. Hier wird differenziert dargestellt, welche Ebenen der Prävention es gibt, welche Institutionen an der Entwicklung der Präventionsarbeit beteiligt sind und wie sie in Deutschland betrieben wird. Ein gesonderter Blick mit ähnlichen Fragestel­lungen wird auf die lokale Präventionsarbeit geworfen, zu der auch die kiezorientierte gehört. Anschließend werden die drei Untersuchungsgebiete, ihre Demographie und ihre Kriminalitätsbelastung dargestellt, letzteres mit dem Fokus auf minderjährige Straftäter.

Die Darstellung der empirischen Untersuchung erfolgt im anschließenden Kapitel, in dem zunächst unterschiedliche Formen der Sozialarbeit erläutert und die drei unter­suchten Projekte und ihre Konzeptionen charakterisiert werden. Weiterhin werden das Forschungsdesign, der Untersuchungsverlauf, sowie die Datenerhebung und -auswer­tung beschrieben und begründet. Die Daten wurden mit der von Michael Meuser und Ulrike Nagel beschriebenen Methode des Experteninterviews erhoben und ausgewertet. Die Darstellung der Ergebnisse der empirischen Untersuchung, ihre Diskussion im Kontext der empirischen Überlegungen, sowie Handlungsempfehlungen für die einzel­nen Projekte und die Präventionsarbeit allgemein folgen in den anschließenden Kapi­teln. Eine zusammenfassende Betrachtung der Arbeit hinsichtlich der formulierten For­schungsfrage und eine kritische Reflexion bilden den Abschluss dieser Diplomarbeit.

2 Definition der relevanten Begriffe

Viele der in dieser Arbeit verwendeten Begriffe haben mehrere Bedeutungsdimensionen und bieten vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Aus diesem Grund sollen die wich­tigsten Begriffe und Konzepte genauer definiert werden.

Zunächst gilt es, den Begriff Gewalt näher zu definieren, da die Auslegung des Begriffs stark vom Erkenntnisinteresse abhängt. Wichtig ist die Unterscheidung von legaler und illegaler Gewalt. Legale Gewalt ist meist gesellschaftlich akzeptiert und wird z.B. von der Polizei ausgeführt oder findet sich in Sportarten, die Körperkontakt voraussetzen (z.B. Karate oder Boxen). Im Unterschied zur illegalen Gewalt werden bei der legalen bestimmte Regeln befolgt, wie beispielsweise Vorschriften im Polizeiberuf oder sportli­che Regelungen („fair play“-Regeln). Illegale Gewalt zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass sie rechtlich sanktioniert wird und sich nicht im Rahmen der gesetzlichen Re­geln bewegt. Sie richtet sich gegen Personen oder Dinge, denen bewusst Schaden zuge­fügt wird. So fällt Vandalismus (wie z.B. Graffiti) ebenso unter den Gewaltbegriff[5] wie der Einsatz körperlicher oder psychischer Gewalt zur Zielerreichung. Eine Grauzone stellen hierbei „Schulhof-Rangeleien“ dar, bei denen es im Ermessen der Aufsichtsper­sonen liegt, wann eine Prügelei über das relativ harmlose Kräftemessen hinaus geht, das in einem bestimmten Alter besonders unter Jungen normal und im Allgemeinen kein Grund zur Besorgnis ist. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um ein entwick­lungstypisches Verhalten.

Da sich die vorliegende Arbeit mit Programmen der Prävention von Kinder- und Ju­gendgewalt beschäftigt, wird der Aspekt der legalen Gewalt sowie der des Vandalismus im Gewaltbegriff nicht berücksichtigt. Körperliche Schäden, die versehentlich zugefügt werden, fallen ebenfalls nicht unter den Gewaltbegriff, da sie nicht beabsichtigt waren. So z.B. eine Augenverletzung, die durch einen Schneeball entsteht, in den versehentlich ein Stein geraten ist. Psychische Gewalt wird nur unter dem Aspekt berücksichtigt, dass sie, sollte das Opfer den Forderungen des Täters nicht Folge leisten, in physische Ge­walt mündet, also das Androhen von körperlicher Gewalt, z.B. beim sogenannten „Ab­ziehen“[6]. Die Definition des Gewaltbegriffs für diese Arbeit richtet sich nach der Definition von Andreas Böttger: Als Gewalt wird der intentionale Einsatz „physischer oder mechanischer Kraft durch Menschen, der sich unmittelbar oder mittelbar gegen andere Personen richtet, sowie die ernsthafte Androhung eines solchen Krafteinsatzes“[7] verstanden.

„Devianz [...], Delinquenz, abweichendes Verhalten [ist die] Bezeichnung für Verhal­tensweisen, die mit geltenden Normen und Werten nicht übereinstimmen.“[8] Die Beg­riffe Delinquenz und Devianz sind jedoch nicht synonym. Delinquenz bezeichnet die Verletzung rechtlich bewehrter Normen, während Devianz auch Verhaltensweisen ge­ringeren Unrechtsgehalts mit einschließt, wie z.B. das Schwänzen des Schulunterrichts. Wann Devianz in Delinquenz umschlägt ist eine schwer zu beantwortende Frage. Letzt­lich ist es aber Aufgabe der Präventionsprojekte, diesen Übergang zu verhindern. Für diese Arbeit ist also in erster Linie die Devianz und das Übergangsfeld zur Delinquenz von Interesse.

Gewalt, die von Kindern und Jugendlichen ausgeht, richtet sich meist gegen andere Kinder und Jugendliche. Eine klar definierte Altersgrenze für diese beiden Entwick­lungsphasen gibt es nicht. Laut deutschem Recht „sind Jugendliche Personen, die 14, aber noch nicht 18 Jahre alt sind“[9]. Doch Jugend lässt sich nicht ausschließlich durch Altersgrenzen festlegen. Der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann benennt vier re­levante Rollen, die Jugendliche auf ihrem Weg ins Erwachsensein zu übernehmen ha­ben: Die Berufsrolle, die Partner- und Familienrolle, die Konsumentenrolle und die Rolle als politischer Bürger[10]. Die Zeitpunkte der Übernahme dieser Rollen klaffen weit auseinander, so dass die Jugendphase sich immer weiter ausgedehnt hat. Hurrelmann bezeichnet dies als „Statusinkonsistenz“[11]. Jugendliche übernehmen z.B. früh die Rolle des Konsumenten, jedoch erst sehr spät eine Familienrolle. Diese soziologische Defini­tion macht deutlich, dass die Jugend ihren Übergangscharakter eingebüßt hat und somit als eigene Lebensphase verstanden werden muss. Der Übergang von der Kindheit zur Jugend stellt ein Kontinuum dar, in dem die verschiedenen Rollen eingeübt und allmäh­lich übernommen werden. In dieser Arbeit gilt die Definition des Jugendschutzgesetzes. „Kind“ ist also, wer jünger als 14 Jahre, „Jugendlicher“ wer zwischen 14 und unter 18 Jahren alt ist. In Ausnahmefällen gelten auch Heranwachsende, also 18- bis 21jährige, als jugendlich, nämlich dann, wenn über eine von ihnen begangene Straftat nach dem Jugendstrafgesetz verhandelt wird[12].

Der Begriff Kiez wird hauptsächlich im Norden Deutschlands verwendet und bezeichnet einen kleinen Ortsteil innerhalb eines Bezirks. In seiner ursprünglichen Bedeutung hat ein Kiez „dorfähnlichen“ Charakter mit gut funktionierenden nachbarschaftlichen Strukturen, vielen gastronomischen Betrieben und kleinen Unternehmen[13]. Ein Kiez mit diesen Eigenschaften findet sich nicht nur in „Problembezirken“, sondern z.B. auch rund um den Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg. Ein Kiez ist also ein soziales Bezugssystem, ein Sozialraum.

Der Begriff Prävention bedeutet Vorbeugung, demnach können also „jene Programme, Strategien, Maßnahmen bzw. Projekte [als gewaltpräventiv] bezeichnet werden, die direkt oder indirekt die Verhinderung bzw. die Reduktion von Gewalt zum Ziel ha­ben.“[14] Kiezorientierte Prävention soll diese Maßnahmen in bestehende soziale, kultu­relle und ethnische Zusammenhänge integrieren.

3 „Das macht man nicht, das geht so nicht“ – Das abweichende Verhalten

Jede Gesellschaft hat ihre eigenen verbindlichen Normen, also sozial definierte Verhal­tensstandards. Deshalb existieren in verschiedenen Gesellschaften unterschiedliche Auf­fassungen darüber, wann eine solche Norm verletzt wird, wann eine Handlung demnach als Abweichung zu bezeichnen ist. So gilt z.B. Homosexualität in vielen (meist musli­mischen) Ländern heute noch als anormal, als abweichendes Verhalten, wohingegen sie bei uns weitgehend als Lebensform akzeptiert wird. Einige dieser gesellschaftlichen Standards sind in Gesetzen kodifiziert, andere jedoch nicht. Daher „beinhaltet Abwei­chung sowohl kriminelles Verhalten [...], aber auch solches, das zwar nicht als illegal gilt, aber doch allgemein als unethisch, unmoralisch, eigenartig, unanständig oder ein­fach als ‚krank’ angesehen wird.“[15] Wir alle begehen regelmäßig geringfügige Devianz­handlungen wie eine Straße bei „rot“ überqueren oder die Hotelseife einstecken. Aller­dings werden solche Handlungen meist mit einem Stirnrunzeln oder Schmunzeln abge­tan, da zwar allen bewusst ist, dass sie etwas tun was sie eigentlich nicht sollten, der Grad der Normverletzung aber gering ist. Andere Handlungen werden von der Öffent­lichkeit jedoch stark missbilligt, wie z.B. der sexuelle Missbrauch von Kindern, der nicht als normal, sondern als „krank“ und kriminell eingestuft wird. Deviante Handlun­gen variieren demnach stark nach dem Grad der ihr beigemessenen Schwere. Eine ein­heitliche Definition für abweichendes Verhalten kann es also gar nicht geben, da sie eine Frage der sozialen Definition ist, in den Augen der jeweiligen Betrachter existiert und zwischen ethnischen Gruppen, sozialen Schichten, Geschlechtern, verschiedenen Berufsgruppen und geographischen Regionen variiert. Demnach ist „Abweichung [...] eine Eigenschaft, die bestimmte Verhaltensformen auf der Grundlage geteilter normati­ver Übereinstimmung darüber, was ,gut’ und was ‚schlecht’ sei, zugeschrieben wird.“[16] Allerdings kann das Verständnis von „Abweichung“ nicht nur von Gruppe zu Gruppe variieren, sondern auch von Situation zu Situation innerhalb einer Gruppe. Beispiels­weise ist die Tötung eines Menschen in den meisten Gesellschaften ein stark abwei­chendes Verhalten[17], allerdings nicht, wenn es Notwehr war. Unterschiedliche Auffassungen darüber, was eine Normverletzung ist und was nicht, finden sich aber auch schon in verschiedenen kleineren Gruppen. Was aus Sicht der Erwachsenen als nicht hinnehmbare Gewalttat aussieht und demnach als Abweichung gilt, „mag aus der Perspektive der beteiligten Kinder und Jugendlichen eine normale bzw. akzeptable Form des körperbetonten Ausraufens von Statuspositionen und des Austestens von Grenzen der Fairness oder schlicht als Ausagieren von Lebendigkeit erlebt werden“[18]. Deshalb gilt insbesondere im Kindes- und Jugendalter, dass es zwar gesellschaftlich an­erkannte legitime und illegitime Formen der Gewalt gibt, jedoch sind diese Grenzen nicht nur fließend, sondern müssen gerade im Kindes- und Jugendalter auch erst erfah­ren und gelernt werden[19].

Ralf Dahrendorf unterscheidet zwischen Muss-, Soll- und Kann-Normen oder auch in kodifizierte Normen, Sitten und Bräuche[20]. Die Verbindlichkeit von Muss-Normen „ist nahezu absolut; die ihnen zugeordneten Sanktionen sind ausschließlich negativer Na­tur“[21], es handelt sich also um rechtliche Normen. Soll-Normen sind hingegen nicht strafrechtlich abgesichert, aber „derjenige, der ihnen [...] nachkommt, [kann] der Sym­pathie seiner Mitmenschen sicher sein“[22]. Ein Beispiel hierfür ist das Essen mit Messer und Gabel. Eine Nichteinhaltung der Kann-Normen, also der Sitten, wird nicht negativ sanktioniert. Eine christliche Familie wird z.B. ihre muslimischen Nachbarn nicht sank­tionieren, weil sie zur Weihnachtszeit keinen Adventskranz aufstellen. Abweichendes Verhalten hängt zusätzlich noch vom relevanten Bezugssystem einer Person ab. Abwei­chung von gesamtgesellschaftlichen Rechtsnormen und gruppen- oder milieuspezifi­schen Sittennormen lassen unterschiedliche Verhaltensweisen als „abweichend“ er­scheinen, und sie können auch miteinander in Konflikt geraten[23]. Seinen Kontrahenten bei einer Meinungsverschiedenheit zu schlagen ist in unserem gesamtgesellschaftlichen Normsystem eine Abweichung von einer Kann- oder Soll-Norm, die sanktioniert wird. In manchen Gruppen unserer Gesellschaft ist dies dennoch ein akzeptiertes Verhalten und entspricht den Gruppennormen. Schlagen sich z.B. zwei Jugendliche aus verschie­denen Gruppen wegen eines Konflikts, so ist dies eine Verletzung der gesellschaftlich und strafrechtlich definierten Verhaltensstandards, jedoch unter Umständen keine Ver­letzung der in den einzelnen Gruppen geltenden Normen.

3.1 Soziale Kontrolle

Die Einhaltung der Gesetze wird durch Institutionen wie Polizei und Justiz kontrolliert, die auch bei Verstößen sanktionierend eingreifen. Die Einhaltung gesellschaftlicher Normen kann von diesen Institutionen nur nachträglich bei einer Normverletzung kon­trolliert werden. Wir alle unterliegen der sozialen Kontrolle, führen sie aber gleichzeitig auch aus, denn Menschen benötigen ein Mindestmaß an Regulierung. Sind keinerlei normative Beschränkungen vorhanden, so scheinen alle Möglichkeiten menschlichen Verhaltens (also auch abweichendes Verhalten) rational[24]. Die soziale Kontrolle ist da­her für das Gleichgewicht einer Gruppe oder Gesellschaft sehr wichtig. Ebenso wie in einer Familie wird in einer Gruppe oder Gesellschaft Wert darauf gelegt, dass ihre Mit­glieder sich den etablierten Normen gegenüber konform verhalten. Hält sich jemand nicht an diese Normen, wird ihm zunächst von seiner Umgebung signalisiert, dass ein solches Verhalten nicht geduldet wird indem ihm z.B. Verachtung entgegengebracht wird. Zunächst wird der Normverletzer[25] also informell sanktioniert, später unter Umständen dann formell durch Polizei und Justiz. Bei Tätern unter 14 Jahren ist die informelle Sanktionierung besonders wichtig, da sie noch nicht strafmündig sind und Polizei und Justiz sich vollkommen auf das nähere Umfeld – besonders auf die Eltern – des Kindes verlassen müssen, da die Tat ansonsten keinerlei Konsequenzen nach sich zieht und das Kind so den Eindruck vermittelt bekommt, sein Verhalten sei akzeptabel. Geringe soziale Kontrolle begünstigt die Entwicklung eines Jugendlichen in Richtung devianten Verhaltens.

Je anonymer eine Wohngegend ist, desto geringer fällt meist die soziale Kontrolle aus, und desto geringer ist auch das Entdeckungsrisiko bei einer Straftat. Natürlich darf die soziale Kontrolle aber nicht in gegenseitige Bespitzelung ausarten, wodurch sich jeder auf Schritt und Tritt beobachtet fühlen würde. Vielmehr sollte allen klar sein, dass bei unrechtem Verhalten nicht weggeschaut wird. Ein gut nachbarschaftliches Verhältnis und ein persönlicher Bezug zur Wohngegend stärken den Zusammenhalt einer Gemein­schaft, lassen sie besser funktionieren und verstärken das subjektive Sicherheitsgefühl der Anwohner[26]. So kann die soziale Kontrolle also als die grundlegendste Ebene der Prävention bezeichnet werden.

In Wohngegenden, in denen soziale Kontrolle nur geringfügig vorhanden oder sogar gänzlich abwesend ist, ist die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens wesentlich höher, als in solchen Vierteln mit hoher sozialer Kontrolle. Polizeilich erfasste Strafta­ten im Jugendalter kommen in „problematischen“ Gegenden häufiger vor als in anderen Wohnvierteln[27]. Auffallend ist, dass es in Stadtteilen mit geringer sozialer Kontrolle, also eben jenen problematischen Gegenden, meist einen besonders hohen Anteil an Be­wohnern mit Migrationshintergrund gibt[28]. Allerdings lässt die Tatsache, dass die Kriminalitätsrate in Vierteln mit hohem Migrantenanteil hoch ist, keinerlei Rück­schlüsse auf kausale Zusammenhänge zwischen den Faktoren „hoher Migrantenanteil“ und „hohe Kriminalitätsrate“ zu. Ursächlich ist vielmehr der Grad der sozialen Kon­trolle, die in Vierteln mit hohem Migrantenanteil nur schwach ausgeprägt ist, da sie häufig von Gebäuden des sozialen Wohnungsbaus mit hoher Anonymität dominiert werden. Hinzu kommt, dass der Freundeskreis vieler Familien mit Migrationshin­tergrund, besonders jener, die die deutsche Sprache weniger gut oder gar nicht beherr­schen, oft ausschließlich aus Menschen aus ihrem Herkunftsland besteht[29]. So kann also eine türkische neben einer polnischen Familie wohnen, ohne auch nur das geringste von den anderen zu wissen, da beiden Seiten eine gemeinsame Sprache zur Kommunikation fehlt und/oder kein Interesse an der anderen Familie besteht.

4 Kinder- und Jugendgewalt: Mögliche Entstehungsgründe

Über die Genese von Gewalt gibt es zahlreiche Untersuchungen und Vermutungen. Durch die Medien wird uns der Eindruck vermittelt, heutige Kinder und Jugendliche seien respektloser und gewaltbereiter als vorherige Kohorten. Hier darf nicht vorschnell geurteilt werden, denn ob dies daran liegt, dass uns durch die mediale Entwicklung mehr solcher Nachrichten erreichen oder ob es tatsächlich häufiger zu Gewaltdelikten von Kindern und Jugendlichen kommt ist, wenn überhaupt, nur schwer nachweisbar. Es scheint jedoch in der Natur der Menschen zu liegen, sich über den Nachwuchs, die „Ju­gend von heute“, zu beschweren und ihm allerlei zu unterstellen, was früher angeblich nicht vorgekommen sei. So beklagte sich schon Sokrates im Jahre 400 v.Chr. über die Jugendlichen: „Sie scheinen jetzt das Wohlleben zu lieben, haben schlechte Manieren und verachten die Autorität, sind Erwachsenen gegenüber respektlos [...] und tyrannisie­ren ihre Lehrer.“[30]

Körperverletzung, Diebstahl, Sachbeschädigung, all das fällt in den Bereich der Krimi­nalität und somit in die Zuständigkeit von Polizei und Justiz, sofern es Erwachsene be­trifft. Bei Kindern und Jugendlichen heißt dasselbe Treiben Kinder-/Jugendgewalt und löst bei den Erwachsenen meist Erschrecken aus, das „alleine dem Umstand [geschuldet ist], dass sich Unmündige, noch nicht mit der Weihe gesellschaftlicher Reife, Verkehrs- und Strafmündigkeit ausgezeichnete Wesen in einer Weise aufführen, die bei ihnen noch nicht erwartet werden kann.“[31] Ist ein Täter unter 14 Jahre alt, so gilt er in Deutschland als noch nicht strafmündig, er kann also allein informell durch Erzie­hungsberechtigte etc. bestraft werden. Da vermutet wird, dass zu harte Strafen bei Tä­tern ab 14 Jahren, bei denen das Jugendstrafrecht greift, eher kriminalitätsfördernd denn abschreckend wirken, fallen die Urteile meist milde aus[32]. Dies stößt in manchen Fällen bei den Erwachsenen auf Unverständnis und ruft ein Ohnmachtsgefühl hervor.

Im Erwachsenenalter sind die Rollen bei einer Straftat meist klar verteilt, eine Person oder Gruppe ist der Täter, eine das Opfer. Bei Kindern und Jugendlichen ist häufig bei­des der Fall. Ein zuvor geschädigter bedient sich oft selbst der Gewalt, um zu demonst­rieren, dass er nun nicht mehr so leicht angreifbar ist, sich zur Wehr setzen kann. Sehr häufig kommt es zu Vergeltungsakten, bei denen die zuvor geschädigte Person ihrer­seits nun den vorherigen Täter schädigt, so dass die Rollen vertauscht werden. Der Beg­riff „Opfer“ ist unter Kindern und Jugendlichen zu einem Schimpfwort geworden, es ist in ihren Augen also unbedingt zu vermeiden, anderen einen Grund zu geben, sie so zu bezeichnen und sollte dies doch der Fall sein, so sind sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die für sie am wirkungsvollsten erscheinende Methode hierfür ist die Gewaltanwen­dung[33].

4.1 Die Entstehung von Gewalt

Das entscheidende Stichwort bei der Frage, warum Jugendliche gewalttätig werden ist Macht. Denn abweichendes Verhalten, egal welcher Natur, hängt fast immer mit der Demonstration von Überlegenheit zusammen, so auch im Falle der Gewaltanwendung, denn sie verleiht dem Devianten Macht über sein Opfer. Das Gefühl der Überlegenheit, der Macht ruft bis zu einem gewissen Grad in jedem von uns Befriedigung hervor. Al­lerdings kommt dadurch meistens niemand ernsthaft zu Schaden, da wir die Grenzen unseres Handlungsspielraums kennen. Wie kann es aber dann dazu kommen, dass man­che Jugendliche wissentlich über diese Grenzen hinaustreten, was macht sie so aggres­siv und lässt sie immer wieder gewalttätig werden?

Über die Tatsache, dass Bildung einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung von Ge­walt- und anderen Straftaten hat, herrscht große Einigkeit. Je höher die Bildung eines Menschen, desto höher sind seine Chancen auf den sozialen Aufstieg, eine gut bezahlte Arbeitsstelle und damit auf ein höheres Ansehen in der Gesellschaft. Wächst ein Ju­gendlicher in einer bildungsfernen Schicht auf und kann er nicht die entsprechenden schulischen Leistungen erbringen die für einen Aufstieg nötig wären, so realisiert er schnell, welche Chancen ihm verwehrt bleiben. Nach der Deprivationstheorie kann dies zu einer Steigerung der Aggressivität führen, da die meisten Wünsche dieses Jugendli­chen vermutlich unerfüllt bleiben werden[34].

4.2 Wann wird aus jugendlichem Leichtsinn abweichendes Verhalten?

In einer bestimmten Phase ihres Lebens, besonders ausgeprägt während der Pubertät, testen Kinder und Jugendliche ihre Grenzen aus und schlagen dabei auch mal über die Stränge. Eine Rangelei auf dem Schulhof sollte also nicht sofort überbewertet werden. Denn meistens halten sich die beiden „Streithähne“ hierbei an die oben bereits erwähn­ten Spielregeln, die hier lauten, dass aufgehört werden muss, sobald der andere darum bittet oder bevor die Situation eskaliert. Wenn dies der Fall ist, die Prügelei aber nicht von allein gestoppt wird, so muss ein dritter, beispielsweise eine Lehrkraft, eingreifen. Bleibt diese Situation ein Einzelfall, so kann hier nicht von abweichendem Verhalten gesprochen werden, da durch die Lehrkraft erfolgreich vermittelt werden konnte, wo der Fehler im Verhalten der beiden Kontrahenten lag und diese daraus gelernt haben. Fallen Kinder und Jugendliche aber immer wieder durch brutales Verhalten, Uneinsichtigkeit bezüglich ihres Fehlverhaltens und/oder Provokation von gewalttätigen Auseinanderset­zungen auf, so wird von einem abweichenden Verhalten gesprochen[35].

Der Übergang von jugendlichem Leichtsinn und abweichendem Verhalten ist fließend. Die Feststellung, wann eine Grenzüberschreitung stattfindet, liegt immer im Ermessen der Beteiligten und der Beobachter bzw. der teilweise erst später hinzukommenden In­stanzen wie Erziehungsberechtigte, Polizei und Justiz. Eines ist jedoch klar: Abwei­chendes Verhalten im Jugendalter ist, im Gegensatz zu kleineren Grenzüberschreitun­gen zur Austestung der Grenzen wie im oben beschriebenen Beispiel, eine Ausnahme Die Mehrheit der Jugendlichen verhält sich konform, wiederholte Abweichung ist die Ausnahme. Außerdem wird auftretende Abweichung Jugendlicher von unterschiedli­chen Personen und Institutionen als höchst problematisch erachtet. Eine negative Sank­tionierung abweichenden Verhaltens wird weitgehend akzeptiert und gefordert. Tritt ein solches Verhalten dennoch auf, so „müssen gewichtige Ursachenfaktoren am Werke sein, die Jugendliche dazu motivieren, Normen (bewusst) zu brechen. Hier liegt die An­nahme nahe, dass Devianz im Jugendalter gewissen Strukturen unterliegt, Jugendliche also in differenzieller Weise anfällig für derartige Verhaltensweisen sind.“[36]

Was also sind die Ursachen für eine solche Anfälligkeit? Die Adoleszenz lässt sich als eine Art Selbstfindungsphase beschreiben, in der die Jugendlichen sehr unsicher sind, dies aber nicht zeigen wollen. Der natürliche Ablösungsprozess von den Eltern, der sich in diesem Alter vollzieht, kann zu Konflikten mit den Erziehungsberechtigten führen, wodurch sich viele Pubertierende von den Erwachsenen nicht ernst genommen fühlen. Im Zuge dieser Entwicklung wird die peer group[37], insbesondere die Freunde, immer wichtiger und unter Umständen nimmt einer der Freunde, meist ein älterer, die Vorbild­funktion ein, die vorher die Eltern innehatten.

Verhaltensweisen werden nicht vererbt[38], wichtig sind die Umweltfaktoren. Ein Dazugehörigkeitsgefühl ist für die meisten Jugendlichen wichtig, weshalb es besonders in diesem Alter zu Cliquenbildungen kommt. Von Erwachsenen fühlen sie sich häufig als Kinder behandelt, gleichzeitig aber auch dem Anspruch ausgesetzt, bereits die Reife eines Erwachsenen besitzen zu müssen, weshalb Jugendliche ihren Status oft als verwir­rend empfinden. In diesem Alter sind die meisten von ihnen leicht beeinflussbar. Gilt es innerhalb einer Gruppe oder Clique als „cool“, sich abweichend zu verhalten, so ver­halten sie sich meist ebenso, um ebenfalls „cool“ zu sein und weiterhin dazuzugehören, vielleicht sogar in der (so denn gegebenen) Rangordnung aufzusteigen. Entscheidend ist auch, dass Jugendliche in dieser Phase häufig ein Gefühl der Machtlosigkeit erleben, da sie sich einerseits bereits für erwachsen erachten, trotzdem aber meistens noch der Be­vormundung ihrer Eltern unterstehen. Mit der Anwendung von Gewalt erschaffen sie sich einen gewissen Machtraum, über den sie die Kontrolle haben. Wird eine solche Entwicklung nicht früh genug aufgefangen, so kann dies verheerende Auswirkungen auf die Zukunft der Jugendlichen haben[39].

Für Jugendliche sind in erster Linie die Sozialisationskontexte Elternhaus und Freun­deskreis relevant. Diese sind – im Gegensatz beispielsweise zur Schule – staatlicher bzw. öffentlicher Strukturierung weitgehend enthoben und markieren damit einen Be­reich der relativ autonomen individuellen Entfaltung. Dieser Bereich kann in positiver Hinsicht „Schutzzone“, in negativer Hinsicht „Nährboden“ sein, nämlich dann, wenn das Verhalten des Jugendlichen keiner elterlichen Kontrolle unterliegt und/oder wenn er deviante Freunde hat. Eltern und Freunde erfüllen die Funktion, den Jugendlichen vor „Dummheiten“ zu bewahren, sie versuchen also, ihn davor zu schützen, was nicht heißt, das dies zwangsläufig auch gelingt. Fällt die elterliche Kontrolle weg oder neigen die Freunde zu deviantem Verhalten, so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch der Ju­gendliche ein deviantes Verhalten entwickelt. Sind diese beiden Punkte gekoppelt und entfällt auch anderweitige soziale Kontrolle, so scheint eine Entwicklung außerhalb des devianten Bereiches nahezu ausgeschlossen, da keine begünstigenden Bedingungen für eine Entwicklung in den nicht-devianten Bereich vorhanden sind[40].

4.3 Sozialisatorische Bedingungen

Gewalt hat häufig einen sozialisatorischen Hintergrund, viele Minderjährige kennen oder beherrschen keine anderen Handlungsformen zur Zieldurchsetzung[41]. Durch unser Umfeld (Eltern, Schule, peer group, Kollegen) lernen wir gewisse Verhaltensweisen, indem wir sie im Laufe unserer Entwicklung von ihm übernehmen. Dazu gehören Kon­fliktlösungsstrategien ebenso wie bestimmte Denkweisen. So lernt ein Kind schon sehr früh einzuschätzen, ob es besser ist, sich aus brenzligen Situationen, die höchstwahr­scheinlich in einer körperlichen Auseinandersetzung enden, herauszuhalten, oder ob es als „feige“ gilt, wenn es sich oder seine Ansicht nicht mit aller Macht, notfalls eben auch durch den Einsatz von Gewalt, zu verteidigen. Sozialisation ist ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren. Dass viele deviante Kinder und Jugendliche Geschwister haben, die ein völlig gewaltfreies Leben führen, macht deutlich, dass die peer group in einem bestimmten Alter einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung Minderjäh­riger hat, der oft über den Einfluss der Eltern hinausgeht.

4.3.1 Sozialisation allgemein

Allgemein versteht man unter Sozialisation den „Prozess, durch den ein Individuum in eine soziale Gruppe eingegliedert wird, indem es die in dieser Gruppe geltenden Nor­men [...], sowie die zur Kultur dieser Gruppe gehörenden Werte, Überzeugungen usw. erlernt und in sich aufnimmt“[42]. Primäre Sozialisation findet im Elternhaus statt, auf der sekundären Ebene wird ein Individuum durch die peer group sozialisiert. Die Annahme, der Mensch hätte keinerlei Einfluss auf seine Sozialisation, ist mittlerweile widerlegt worden[43]. Vielmehr beruht Sozialisation auf dem Prinzip der Interaktion[44].

Eltern reagieren im Normalfall positiv auf ein Lächeln ihres Sprösslings. Das Kind sei­nerseits lernt dadurch, dass es die Chancen auf Durchsetzung seiner Ziele, z.B. der Wunsch nach einem Eis, erhöht, wenn es lächelt, da dem Wunsch nicht entsprochen wird, wenn es schreit oder trotzig weint. Schon Kleinkinder lernen auf diese Weise, die ihnen von den Eltern vermittelten Verhaltensnormen so einzusetzen, dass sie die ge­wünschte Reaktion (in unserem Beispiel also das Eis) erhalten. Das Kind erlernt so das von George Herbert Mead beschriebene „role-taking“[45], also die Möglichkeit, die Erwartungen anderer in das eigene Verhalten zu integrieren. Es übernimmt die Rolle seines Gegenübers (in diesem Fall also der Eltern) und bezieht so fremde Erwartungen in seine Handlungsplanung mit ein[46]. Gleichzeitig kann es durch eigene Intentionen und Bedürfnisse[47] flexibel auf diese fremden Erwartungen in Bezug auf eigene Handlungsabsichten reagieren. Im Kleinkindalter kommt es nicht selten vor, dass das Kind die Grenzen zwischen Selbst und Umwelt mittels körperlicher Angriffe erforscht, allerdings sind diese meist kein Grund zur Sorge. Entwicklungspsychologen sprechen hier von „unschuldiger Aggression“[48]. Die Sichtweise des symbolischen Interaktionis­mus betrachtet ein solches Verhalten als Teil eines kommunikativen Prozesses, durch den das Kind lernt, wie auf seine Taten reagiert wird und durch welche Handlungen es am schnellsten zu seinem Ziel kommt. Die erste Phase der Sozialisation wird also durch die Erziehenden geprägt – Kinder antizipieren das Verhalten ihrer Erziehungsberech­tigten. Wird in einem Haushalt bei einem Streit die Stimme erhoben oder gar Gewalt angewendet, so übernimmt das Kind dies als Weg zur Konfliktlösung. Werden Prob­leme sachlich diskutiert, erlernt das Kind friedliche Wege, einen Konflikt beizulegen. Der friedliche Umgang mit Konflikten innerhalb einer Familie ist zwar keine Garantie dafür, dass das Kind nicht deviant wird, es ist aber eine gute Voraussetzung. Aber auch die Eltern ändern ihr Verhalten im Laufe der Zeit, sie werden wiederum durch ihre Kin­der sozialisiert. Da Eltern ihre Kinder gerne lächeln sehen, tun sie Dinge, um diese Re­aktion hervorzurufen.

Wie aber kommt es dann zu abweichendem Verhalten? Ist ein Kind bereits mit verbaler und/oder physischer Gewalt in der Familie aufgewachsen, so hat es dieses Verhalten auch für sich übernommen und die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es immer wieder durch gewalttätiges Verhalten auffällig wird. Oft entwickelt es jedoch erst später ein abweichendes Verhalten, das nicht von den Erziehungsberechtigten geprägt wurde. Dies liegt an der peer group, die die zweite sozialisatorische Instanz im Jugendalter darstellt und zur Emanzipation des jungen Menschen von familiären Abhängigkeitsverhältnissen beiträgt. Der Jugendliche erprobt sich erstmals als unabhängiger Mensch und neigt so auch zu abweichendem Verhalten, was in den meisten Fällen jedoch unbedenklich ist, da es sich hierbei um eine Abweichung von den Kann- oder Soll-Normen handelt. Auch eine einmalige Abweichung von den Muss-Normen ist nicht sofort ein Indiz für den Beginn einer kriminellen Karriere, sie muss zwar sanktioniert werden, meist handelt es sich jedoch um alterstypische Phasendelikte wie z.B. den Ladendiebstahl[49]. In manchen Fällen hat die peer group jedoch einen schädlichen Einfluss auf den Jugendlichen, näm­lich dann, wenn es innerhalb der Gruppe üblich ist, sich abweichend von den in der Ge­sellschaft geltenden Normen zu verhalten. In diesem Fall sehen sich die Erziehungsbe­rechtigten machtlos gegenüber dem Verhalten ihres Kindes. Der Jugendliche verhält sich zwar im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Normen abweichend, nicht jedoch im Sinne der gruppenspezifischen. Dadurch entsteht ein Normen-Konflikt[50], denn der Ju­gendliche wird einerseits wahrscheinlich durch seine Eltern sanktioniert, andererseits erhält er in seiner Gruppe durch sein Verhalten vermutlich Anerkennung oder sogar Macht.

Meistens hat abweichendes Verhalten jedoch seinen Ursprung sowohl in der durch die Eltern, als auch in der von der peer group geprägten Sozialisation. Denn wer durch die elterliche Sozialisation schon ein aggressives Verhalten entwickelt hat, der wird ver­mutlich auch in Zukunft zu einem solchen Verhalten neigen und sich entsprechende Freunde suchen.

Sozialisation ist also ein Prozess, der nicht mit der Kindheit abgeschlossen ist. Kinder und Jugendliche antizipieren zunächst das Verhalten ihrer Erziehungsberechtigten und später auch das ihrer peer group. Eltern, Freunde, Erzieher, Lehrer, Arbeitskollegen etc. erfüllen hierbei die Funktion, darauf zu achten, dass eine Person kein Verhalten entwi­ckelt, das von den geltenden Normen und Werten der Gesamtgesellschaft und/oder der Gruppe abweicht und dass sie bei einem Neueintritt in die Gruppe die neuen Verhal­tensformen schnell antizipiert. Sie üben also soziale Kontrolle aus. Zwar kann abwei­chendes Verhalten in einer bestimmten Gruppe als „normal“ gelten, gesamtgesell­schaftlich wird es jedoch nicht akzeptiert und sowohl formell als auch informell sankti­oniert. Eine Nichteinhaltung der Gruppennormen kann demnach zu einem Ausschluss aus der Gruppe führen. Dies heißt jedoch nicht automatisch, dass die Abweichung auch die gesamtgesellschaftlichen Normen und Werte betrifft. Eine Sanktionierung kann folglich auch formell oder informell sein.

4.3.2 Sozialisation von Immigranten

Wandert ein Franzose nach Deutschland aus, so hat er kaum Probleme, sich in der hie­sigen Gesellschaft zurechtzufinden, da er aus dem gleichen Kulturkreis stammt und die Sozialisation somit in beiden Ländern nahezu gleich abläuft. Die Situation von Immig­ranten aus anderen Kulturkreisen ist weitaus schwieriger. Nicht ohne Grund gibt es den Begriff des „Kulturschocks“, der sich auf die spezielle Übergangsperiode bei der Ein­gewöhnung in eine fremde Kultur bezieht. In dieser Periode durchlebt der Mensch nach dem amerikanischen Anthropologen Oberg fünf Phasen: Euphorie (die eigene Kultur wird nicht in Frage gestellt), Entfremdung (Schwierigkeiten, für die man sich selbst die Schuld zuweist), Eskalation (Schuldzuweisung an die fremde Kultur und Verherrli­chung der eigenen), Missverständnisse (Konflikte werden als Ergebnis der kulturellen Unterschiede wahrgenommen) und schließlich Verständigung (die unterschiedlichen kulturellen Spielregeln werden verstanden, geduldet, erlernt und geschätzt)[51]. Nicht jeder erlebt jede einzelne dieser Phasen, schwierig wird es, wenn jemand in der dritten Phase verharrt und die eigene Kultur so sehr verherrlicht, dass er die fremde Kultur, inklusive der in ihr geltenden Normen und Werte, nahezu komplett ablehnt. Ob ein Einwanderer letztlich die Phase der Verständigung erreicht, liegt einzig bei ihm und seiner Integrationsbereitschaft, aber auch an der Integrationsleistung seines Umfelds. Haben sich die Menschen im sozialen Bezugssystems eines Immigranten integriert, so wird es ihnen letztgenannter vermutlich gleich tun. Ist dies nicht der Fall, so kann es unter Umständen zur Bildung einer „Parallelgesellschaft“ und damit einhergehenden Problemen kommen.

4.3.2.1 Verweigerte Integration? Die Bildung von Subkulturen und Parallelgesellschaf­ten

In zahlreichen Aufsätzen und Medienberichten tauchen immer wieder die Begriffe „Subkultur“ und „Parallelgesellschaft“ auf. Unter Subkultur ist allgemein zu verstehen, dass eine Gruppe von Menschen eine Kultur lebt, die in das „kulturelle System“[52] einer Gesellschaft eingebettet ist. Verschiedene Glaubensrichtungen oder auch Musikstile wie z.B. der Rap oder der Punk können solche Kulturen sein, die sich durch eine bestimmte Art der Kleidung oder bestimmte sprachliche Besonderheiten von anderen Kulturen unterscheiden. Diese Subkulturen sind als Teil der großen Kultur eines Landes zu se­hen, da sie die gängigen Normen und Werte nicht verletzen, vielmehr bereichern sie die Kultur, machen sie facettenreicher, da ihre Mitglieder sich immer noch als Teil der ge­meinsamen Kultur eines Landes sehen. Subkulturen können aber auch in Opposition zu den allgemeinen Werten und Normen stehen und eine Gegenkultur entwickeln. Dies ist das Kennzeichen beispielsweise von revolutionären Bewegungen oder auch von „Aus­steigern“. Speziell mit Blick auf Migranten wird hierbei in jüngerer Zeit von „Parallel­gesellschaften“ gesprochen, deren Herausbildung als Kennzeichen der misslungenen Integration interpretiert wird[53]. Eine Gruppe von Menschen, die eine Parallelgesell­schaft bilden, sehen sich selbst als nicht zur Gesamtgesellschaft zugehörig. Während eine Subkultur als eine spezielle Ausrichtung innerhalb der gesamtgesellschaftlichen Kultur zu sehen ist, kann die „Parallelgesellschaft“ als Gegenkultur bezeichnet werden, da sie die von einer Gesellschaft sozial definierten Standards nicht für sich akzeptiert und somit auch bewusst nicht danach lebt.

In Großstädten sind die Bedingungen für Minderheiten günstig, Subkulturen, aber auch Parallelgesellschaften zu bilden. So auch in Berlin, wo unterschiedliche Viertel ver­schiedener Bezirke angeblich fest in der Hand sogenannter Subkulturen sind. Dies allein ist jedoch noch nicht negativ zu bewerten, da sie das multikulturelle Bild Berlins prägen und die Stadt durch ihre anderen Bräuche und ihre Sprachen bunter werden lassen. Problematisch wird es dann, wenn sie sich als autonome Wertgemeinschaft, abgeschot­tet von der Gesamtgesellschaft, sehen. Diese Gemeinschaften sind ethnisch homogen, sie definieren sich über ihren gemeinsamen Ursprung und üblicherweise gehören sie auch der gleichen sozialen Schicht an. Oft sind es nur zwei oder drei Ethnien (manch­mal sogar nur eine), die ein Viertel stark dominieren. Einige der Erwachsenen schotten sich von anderen Kulturen – so auch von der ihrer aktuellen Heimatstadt – soweit als möglich ab, indem sie unter sich bleiben, ausschließlich ihre Muttersprache sprechen und die Sitten und Gebräuche der für sie fremden Kultur gänzlich ablehnen. Sie bilden also eine Gegenkultur mit eigenen Wert- und Normorientierungen. Kinder und Jugend­liche sind im Normalfall nicht so sehr in einer solchen Parallelgesellschaft verhaftet, da sie aufgrund des Schulbesuchs oder durch Sportvereine etc. häufiger mit anderen kultu­rellen Orientierungen in Kontakt kommen[54].

In den in dieser Arbeit untersuchten Gebieten Kreuzberg, Neukölln und Wedding gibt es einige Viertel, die weitgehend von der türkischen Bevölkerungsgruppe geprägt sind. Rund um den U-Bahnhof Kottbusser Tor z.B. finden sich hauptsächlich türkische Ge­schäfte und ein Großteil der Bewohner hat einen türkischen Migrationshintergrund – nicht umsonst wird dieses Viertel auch „Klein Istanbul“ genannt. Die Frage, ob sich hier schon parallelgesellschaftliche Strukturen herausgebildet haben, ist nicht Gegenstand der Untersuchung. Aus der Idee der Parallelgesellschaft entsteht jedoch eine für diese Untersuchung interessante Frage: Ist für diese Jugendlichen ein anderer Horizont maß­geblich oder bewegen sie sich insofern in dieser Gesellschaft, als sie sich in ihrem Rahmen biographische Möglichkeiten suchen, Anerkennung, Lob und Erfolg zu erhal­ten, jedoch keinen Zugang finden?

Der hohe Ausländeranteil der drei Bezirke und die dortigen großen ausländischen Ge­meinschaften lassen sich u.a. auch durch die Gastarbeiter erklären, die in den 1950er und ’60er Jahren nach Deutschland kamen und in Siedlungen der Arbeiterbezirke unter­gebracht wurden. Eine Integration war von deutscher Seite nicht vorgesehen, schließlich sollten sie nach vollendeter Arbeit wieder in ihr Ursprungsland zurückkehren. Die Gast­arbeiter arbeiteten und lebten also fast ausschließlich mit anderen Ausländern zusam­men und hatten kaum Kontakt zu Deutschen. So ist es nicht verwunderlich, dass Italie­ner, Türken, Portugiesen etc. sich an ihre Landsmänner hielten, da sie sich schließlich wegen mangelnder Sprachkenntnisse auch mehr schlecht als recht mit Gastarbeitern aus anderen Ländern verständigen konnten. Viele von ihnen kehrten allerdings nicht wie von deutscher Seite geplant wieder zurück, sondern blieben in den deutschen Städten. Einem großen Teil von ihnen gelang es vermutlich, den oben erläuterten Kulturschock zu überwinden und die Phase der Verständigung zu erreichen, einigen jedoch nicht. Zwar zogen die ehemaligen Gastarbeiter in eigene Wohnungen, viele von ihnen blieben aber im gleichen Bezirk, da sie dort bereits Freunde gefunden hatten und holten oft auch ihre Familien nach, wodurch sich große ausländische, kulturell homogene Gemein­schaften bilden konnten[55]. Die heute viel beklagte Problematik der Parallelgesellschaf­ten[56] ist somit teilweise auch von den Einheimischen selbst forciert worden. Es kann demnach nicht pauschal von einer verweigerten Integration gesprochen werden, ebenso wenig kann allerdings jedwede Schuld den damaligen Versäumnissen der deutschen Politik zugesprochen werden. Vereinfacht kann gesagt werden, dass durch die absichtli­che Abschottung der Gastarbeiter von der deutschen Politik der Grundstein für die Bil­dung von Parallelgesellschaften gelegt worden ist. Gleichzeitig bemühen sich einige Bewohner der entsprechenden Bezirke jedoch kaum oder gar nicht um eine vollständige Integration.

Auffällig ist, dass in diesen Bezirken eine deutlich höhere Zahl von jugendlichen Straf­tätern zu verzeichnen ist als in anderen Teilen der Stadt[57]. Von ihnen hat wiederum eine beträchtliche Zahl einen Migrationshintergrund, worauf immer wieder durch die Me­dien und die Politik aufmerksam gemacht wird. Liegt dies daran, dass diese tatsächlich deutlich häufiger durch delinquentes Verhalten auffallen?

4.3.2.2 Werden Kinder von Migranten häufiger straffällig als deutsche Minderjährige?

Viele Kinder und Jugendliche in den problembehafteten Gebieten halten sich täglich auf der Straße auf, oft von morgens bis abends. Dies trifft sowohl auf die deutschen Min­derjährigen, als auch auf jene mit Migrationshintergrund zu, vor allem aber auf die Jun­gen. „[...] Der Aufenthalt auf der Straße [ist] nicht nur der Tatsache geschuldet [...], dass hier vermeintlich weniger soziale Kontrolle herrscht, sondern er oftmals schlichtweg auf der Tatsache beruht, dass entweder die Wohnverhältnisse sehr beengt sind oder die Spannungen und Anforderungen innerhalb der Familien unerträglich zu sein scheinen. [...] Das Zusammenleben von bis zu zehn Personen in nur zwei Räumen ist bei be­stimmten Zielgruppen keine Seltenheit.“[58] Die Familien, in denen diese Minderjährigen aufwachsen sind häufig sozial benachteiligt und die Verhältnisse in der Familie sind schwierig[59]. Wegen mangelnder Privatsphäre, die es ihnen nicht erlaubt, Freunde einzuladen und aufgrund der Konflikte verlassen die Kinder und Jugendlichen die elter­liche Wohnung für die meiste Zeit des Tages. Auf der Straße fehlt es ihnen an Beschäf­tigung, was schnell zum Problem wird und nicht selten dazu führt, dass diese Kinder und Jugendlichen auffällig werden.

Gerade Kinder von Migranten sehen sich oft mit zwei unterschiedlichen Welten kon­frontiert – der meist sehr traditionellen ihrer Familie und der modernen in der Schule und im Umgang mit Freunden. Bei vielen löst dieser Zustand ein Gefühl der Zerrissen­heit aus, da die beiden Welten einfach nicht zueinander passen wollen. Und auch die Eltern sehen sich häufig damit konfrontiert, dass sie die Welt ihrer Kinder nicht mehr verstehen[60]. Viele ziehen sich deshalb mehr und mehr aus dem Leben ihrer Kinder zu­rück und demonstrieren so Desinteresse. Bei Jugendlichen kann diese Zerrissenheit und das Desinteresse ihrer Eltern ein Gefühl des Verlustes des familiären Rückhalts auslö­sen, weshalb sie dann oft mit auffälligem, abweichendem Verhalten reagieren. Dies heißt jedoch nicht, dass alle Kinder von Migranten tendenziell zu delinquentem Ver­halten neigen, bei den meisten bleibt es, ebenso wie bei ihren deutschen Altersgenossen, bei harmlosem, entwicklungstypischem Verhalten, durch das sie ihre Grenzen austesten oder neue Freiheiten genießen wollen und dabei über die Stränge schlagen. In der Regel stellen sie ein solches Verhalten mit zunehmendem Alter ein. Allerdings wird durch die Medien immer wieder gerade auf minderjährige Straftäter mit Migrationshintergrund aufmerksam gemacht. Dies mag teilweise daran liegen, dass die Medien auf die beste­henden Probleme unserer Gesellschaft durch mangelnde Integration aufmerksam ma­chen möchten, vor allem sind solche Vorkommnisse aber besonders schlagzeilentaug­lich. Eine weitere Begründung fanden Dirk Baier und Christian Pfeiffer in einer Schü­lerbefragung im Jahr 2005. Ausländer werden schneller angezeigt als ihre deutschen (oder zumindest deutsch aussehenden) Altersgenossen[61]. Baier und Pfeiffer stützen sich bei der Erklärung dieser Beobachtung auf die Etikettierungstheorie von William Chambliss. Ihm zufolge nehmen wir das Verhalten von Menschen immer typisierend wahr und versehen es damit von vornherein mit einem „Etikett“, das die Erwartungen an und die Bewertungen des wahrgenommenen Verhaltens prägt. So wird beispiels­weise einem arabisch aussehenden Jugendlichen, von dem vielleicht auch noch bekannt ist, dass er aus einem „schwierigen“ Viertel stammt, eher eine Straftat zugetraut als ei­nem deutsch aussehenden Jugendlichen aus Schmargendorf[62]. Wird letzterem eine Tat allerdings eindeutig nachgewiesen, so ist man davon eher schockiert und überrascht, während der gleiche Sachverhalt bei dem arabischen Jugendlichen die vorgeprägten Erwartungen erfüllen würde. Dieser wird dann schneller angezeigt, da sein Verhalten entsprechend den stereotypen Erwartungen interpretiert und auf die Person generalisiert wird. Der deutsche Jugendliche aus dem „besseren“ Viertel könnte sogar ungeschoren davon kommen, da davon ausgegangen wird, dass seine Eltern diese vermeintlich ein­malige Verfehlung ausreichend sanktionieren werden.

Natürlich kann dies nicht die einzige Erklärung sein. Die oben beschriebene Unsicher­heit der minderjährigen Migranten durch die zwei Welten, in denen sie sich bewegen müssen, spielt sicherlich auch eine große Rolle. Zudem ist die Kriminalitätsbelastung in problembehafteten Wohngegenden allgemein höher. Zwar wohnen dort mehr Ausländer als in weniger problematischen Gegenden, die höhere Kriminalitätsbelastung ist jedoch eher durch die Unzufriedenheit mit dem eigenen Status und die geringere soziale Kon­trolle zu erklären als durch die Herkunft. Denn auch deutsche Kinder und Jugendliche fallen in solchen Vierteln häufiger durch delinquentes Verhalten auf als in „gutbürgerli­chen“ Wohngegenden. Fest steht außerdem, dass die Zahl der von Ausländern[63] verüb­ten Straftaten seit 1993 zurückgegangen ist[64]. Allerdings ist gerade die hohe Kriminalitätsbelastung durch Minderjährige in bestimmten Bezirken ein Indiz dafür, wie wichtig präventive Maßnamen dort sind.

4.3.3 Typisch Junge, typisch Mädchen – Geschlechtsspezifische Gewalt

Physische Gewalt gilt gemeinhin als männlich, das zeigt sich schon daran, dass es bei­spielsweise für den Begriff „Raufbold“ kein weibliches Äquivalent gibt. Im Kindergar­ten- und Vorschulalter werden Konflikte hauptsächlich körperlich ausgetragen, hier gibt es noch keinen großen Unterschied zwischen den Geschlechtern, da die meisten Kinder in Tageseinrichtungen erstmals für längere Zeit ohne ihre Eltern mit anderen Kindern zusammen sind und die Gruppe ein wichtiges soziales Erprobungs- und Experimentier­feld darstellt. Konfliktlösungsstrategien kennen sie bis dahin nur von ihren Eltern, die ihnen naturgemäß überlegen sind und deren Autorität in der Regel nicht in Frage ge­stellt wird, in der Kindergruppe erleben sie Konflikte erstmals auf Augenhöhe. Sie er­fahren Zugehörigkeit, Anerkennung oder Ablehnung durch die peer group, machen erste Erfahrungen mit Dominanz und Unterordnung und probieren verschiedene Strate­gien zur Lösung von Konflikten aus. Der erste und zunächst naheliegenste Weg ist der körperliche. So lernen sie, was es heißt, über- bzw. unterlegen zu sein[65]. Mit zunehmen­dem Alter werden ihnen in der Regel von ihren Erziehungsberechtigten und Aufsichts­personen andere, gewaltlose Strategien vermittelt, die sie als den „besseren Weg“ verin­nerlichen. Dies funktioniert nicht immer reibungslos, in fast jeder Gruppe gibt es ein oder mehrere Problemkinder, die sich auf keine anderen Strategien zur Konfliktlösung einlassen möchten, üblicherweise nehmen die körperlichen Auseinandersetzungen mit zunehmendem Alter jedoch ab. Trotzdem fallen männliche Kinder und Jugendliche häu­figer durch aggressives Verhalten auf. Sie unterscheiden sich von ihren weiblichen Al­tersgenossen jedoch nicht in der Häufigkeit, sondern lediglich in der Art ihrer proble­matischen Verhaltensweisen. Jungen entwickeln eher solche, die nach außen gerichtet sind, also ihre äußere Umwelt schädigen, während Mädchen eher Verhaltensweisen entwickeln, die nach innen, also gegen die eigene Person gerichtet sind. Die Gründe hierfür liegen in der geschlechtsspezifischen Sozialisation, die auch in unserer heutigen, weitgehend emanzipierten Gesellschaft stattfindet[66]. Jungen werden z.B. eher zu Sportarten animiert, in denen ihr Kampfgeist geweckt wird, in denen sie sich „richtig austoben“ können und in denen nicht selten starker Körperkontakt stattfindet oder sogar vonnöten ist, wie beispielsweise beim Judo oder Fußball. Mädchen hingegen treiben auf Wunsch vieler Eltern eher Sport, der keinen oder nur sehr wenig Körperkontakt erfor­dert und der „schön anzuschauen“ ist, wie Ballett oder Schwimmen. Kinder werden sich mit dem Eintritt in die Pubertät erstmals der nicht ausschließlich körperlichen Unter­schiede zum anderen Geschlecht bewusst und viele beginnen, sich (zumindest für eine gewisse Zeit) bewusst anders zu verhalten als es das jeweils andere Geschlecht tut. Hinzu kommt, dass Mädchen mit zunehmendem Alter vermittelt wird, wie wichtig es sei, hübsch auszusehen und schön gekleidet zu sein und sich entsprechend zu beneh­men. Dies geschieht teilweise durch die Eltern, vielmehr aber durch die Medien und andere weibliche Bezugspersonen. Außerdem neigen Mädchen eher dazu, die Schuld an einem Konflikt zunächst bei sich selbst zu suchen. Ihre Aggressionen sind daher eher internalisierend und äußern sich beispielsweise durch Essstörungen, weil körperliche Auseinandersetzungen nicht zu ihrem eigenen Selbstbild passen würden[67].

4.4 Resümee

Von Minderjährigen ausgehende Gewalt kann viele Ursachen haben. In stark problem­behafteten Gebieten wachsen die meisten Kinder in schwierigen familiären und sozial benachteiligten Verhältnissen auf – ein großer Teil von ihnen hat einen Migrationshin­tergrund. Das Aufwachsen in einer sozial schwachen Familie lässt diese Kinder schnell die Diskrepanz zwischen ihren Zielen und Möglichkeiten erkennen. Sie wachsen in ei­ner Gesellschaft auf, in der Statussymbole wie Markenkleidung oder technische Geräte wie z.B. mp3-Player besonders im Jugendalter einen großen Stellenwert haben. Durch die soziale Stellung ihrer Familie ist es den meisten jedoch nicht möglich, an solche Statussymbole zu gelangen, so dass sie alternative Wege der Beschaffung beschreiten[68]. Hinzu kommen weitere Faktoren wie die Unsicherheit, die die Pubertät mit sich bringt, das Bedürfnis, in einer Gruppe oder Clique aufgehoben zu sein, sowie entwicklungsty­pische Auseinandersetzungen mit den Eltern. In vielen sozial schwachen Familien blei­ben die Kinder auf der Strecke, da die Eltern mit ihnen, zusätzlich zu anderen Proble­men, überfordert sind. Eltern mit Migrationshintergrund verstehen die Welt, in der ihre Kinder leben oft nicht und lassen sie einfach gewähren. Diese Faktoren können dazu führen, dass die elterliche soziale Kontrolle, die gerade während der Pubertät enorm wichtig ist, entfällt und die Minderjährigen sich selbst oder gegenseitig erziehen müs­sen. All das kann in einem Minderjährigen eine große Frustration auslösen und viele kennen keine andere Möglichkeit, diese zu kanalisieren, als die Gewalt.

5 Prävention

Die in den vorangegangenen Kapiteln erläuterten möglichen Entstehungsgründe für Gewalt bei Minderjährigen machen präventive Maßnahmen so wichtig. Weiterhin ver­deutlichen sie, dass Prävention ein breit gefächertes Feld ist, in dem die Projekte auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Zielgruppen eingehen müssen. Die Mitarbeiter von Präventionsprojekten können den Minderjährigen helfen, ihr Frustrationsniveau zu senken und ihnen neue Wege zur Zukunftsgestaltung aufzeigen. In Deutschland ist die Präventionsarbeit noch recht jung. Dies hat zum einen den Nachteil, dass sich be­stimmte Methoden erst noch bewähren müssen, zum anderen hat es jedoch den Vorteil, dass die Mitarbeiter nicht in eingefahrenen Strukturen festsitzen und die Möglichkeit haben, ihre Arbeit auf den bestehenden Bedarf ausrichten können. Im folgenden wird nun die Entstehungsgeschichte und das Prinzip der Präventionsarbeit in Deutschland erläutert, die unterschiedlichen daran beteiligten Institutionen vorgestellt, sowie speziell auf die kiezorientierte Prävention eingegangen.

Durch die in Kapitel 2 erläuterte Wortbedeutung von Prävention wurde bereits deutlich, dass es sich bei Präventionsprojekten um vorbeugende Maßnahmen handelt. Der Begriff Vorbeugung macht deutlich, dass es sich bei der Präventionsarbeit um Maßnahmen handelt, die Kinder und Jugendliche früh genug auffangen sollen, so dass sie nicht in den kriminellen Bereich abrutschen. Die betreuten Kinder und Jugendlichen der einzel­nen Präventionsprojekte sind also jene, die durch die Interventionsmaßnahmen noch in eine legale Lebensführung zurückgeführt werden können, bei denen „noch Hoffnung besteht“. Diejenigen, die bereits als Schwellen- oder Intensivtäter[69] bekannt sind, sind meist nicht Teil der Zielgruppen der Präventionsprojekte. Die Zuständigkeit für diese Jugendlichen liegt bei der Polizei und der Justiz.

Präventionsarbeit war von jeher Ländersache und darüber hinaus kommunal angelegt, so dass ein flächendeckendes Angebot erst schrittweise zustande kam. Mit dem Fall der Mauer wurde es umso wichtiger, die vorhandenen Probleme und entsprechenden Ge­genmaßnahmen des wiedervereinten Deutschlands zu dokumentieren und dadurch Vorteile bereits bestehender Projekte und Maßnahmen herauszuarbeiten, Defizite auf­zudecken, sowie neue Ansätze der Prävention zu schaffen. Bereits im Dezember 1987 wurde im Rahmen eines Kabinettsbeschlusses die „Unabhängige Regierungskommis­sion zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt“, die sogenannte Schwind- (nach ihrem Vorsitzenden) oder Gewaltkommission, eingesetzt. Sie hatte den Auftrag, den Stand der Fachdiskussion und Forschung zu erfassen, Analysen zu den Erscheinungs­formen und Ursachen, sowie zum Ausmaß von Gewalt zu liefern und Leitlinien zur Prävention und zur strafrechtlichen Intervention zu formulieren. Die Ergebnisse der Gewaltkommission erschienen 1990 und können als maßstabsetzend bewertet werden. Zwar waren die gewaltpräventiven Angebote hier noch eher randständig, es wurde aber mehr Jugendarbeit gefordert und Vorschläge zur Verhinderung und Bekämpfung der Gewalt auf Straßen und Plätzen abgeleitet. Seither gab es eine beeindruckende Ent­wicklung, die Zahl der Strategien und Ansätze hat deutlich zugenommen und sie sind differenzierter geworden.

5.1 Präventionsebenen

Grundsätzlich wird zwischen drei Präventionsebenen unterschieden. Auf der primären Ebene ist das Hauptziel der Abbau gewaltfördernder oder -erzeugender Momente, aber auch die Optimierung der individuellen Möglichkeiten und Ressourcen, die dem Ein­zelnen zur Verfügung stehen. Die primäre Prävention setzt also ein, bevor es zu Ge­waltäußerungen oder Straftaten kommt und ist den formellen Reaktionen, die unmittel­bar auf Straftaten folgen, vorgelagert. Auf der sekundären Ebene sind die Maßnahmen auf bestimmte Situationen, Konstellationen und Personengruppen gerichtet, um die Auslösung von strafbarem Handeln zu verhindern oder zu erschweren und deren Aus­weitung und Eskalation zu verhindern. Sekundäre Prävention hat also konkrete Gefähr­dungsmomente im Blick und ist dadurch spezialisierter als die Prävention der ersten Ebene. Da es sich, wie bereits erläutert, bei Präventionsprojekten um vorbeugende Maßnahmen handelt, findet die Arbeit der Projekte immer auf diesen beiden ersten Ebenen statt. Tertiäre Präventionsmaßnahmen sind hauptsächlich täterorientiert und haben zum Ziel, die Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen zu unterbinden, z.B. durch Verhaltenstraining, Therapie oder Inhaftierung. Projekte der ersten beiden Ebenen basieren auf freiwilliger Partizipation, während Maßnahmen der dritten Ebene meist sanktionierend sind.

5.2 Die Jugendhilfe

Alle Leistungen und Aufgaben freier und öffentlicher Träger zugunsten junger Men­schen und deren Familien werden in der Jugendhilfe (eigentlich Kinder- und Jugend­hilfe) zusammengefasst. Kindererziehung ist vorrangig Aufgabe der Eltern[70], die zent­rale Zuständigkeit für die Bildung liegt bei der Schule. Die Aufgaben und Leistungen der Jugendhilfe wurden 1990/1991 im Sozialgesetzbuch VIII[71] neu zusammengestellt und grundlegend überarbeitet. Sie soll „zusätzlich fördern, Benachteiligungen vermei­den bzw. abbauen, Erziehungsberechtigte beraten und unterstützen, junge Menschen vor Gefahren schützen und einen Beitrag zur Entwicklung positiver Lebensbedingungen leisten.“[72] Hierzu ist ein breites Spektrum an Hilfen und Unterstützung entwickelt wor­den, zu dem Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Hilfen für junge Volljährige u.v.m. gehö­ren, wobei Gewalt hierbei nur einen – wenn auch wichtigen – Teilaspekt darstellt. Wäh­rend die Jugendarbeit alle Jugendliche als Zielgruppe anvisiert[73], „soll Jugendsozialar­beit zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigung von jungen Menschen beitragen“[74]. Hilfen für junge Volljährige wer­den meist in Form der Einzelfallhilfe angeboten[75].

Der wichtigste Aspekt der Arbeit der Jugendhilfe ist Kooperation, allein stößt sie schnell an ihre Grenzen. Denn „eine sich zunehmend stärker ausdifferenzierende Ge­sellschaft mit mehr Heterogenität der Lebensbedingungen, mit sinkenden Chancen jun­ger Menschen auf dem Arbeitsmarkt, mit wachsenden Anforderungen der Bildung, mit veränderten Herausforderungen durch Zuwanderung und vielfältigeren kulturellen Mi­lieus schafft neue Fragen im Umgang mit Gewalt“[76]. Wichtige Kooperationspartner hierbei sind Mitarbeiter aus anderen Projekten, Erziehungsberechtigte, Fachkräfte der Jugendhilfe, Schule, Polizei, Justiz etc., sowie auch der Politik und Öffentlichkeit.

5.2.1 Wieso gibt es kein allgemeines, national gültiges Programm zur Gewaltpräven­tion?

Ein wichtiges Prinzip im System der sozialen Sicherung in Deutschland ist das Subsidi­aritätsprinzip, das Selbstverantwortung vor staatliches Handeln stellt und nach dem auch die Jugendhilfe strukturiert ist. Das bedeutet, dass sich zunächst „kleinere Einhei­ten“ eines Problems annehmen sollen. Als erste Einheit dient hierbei die Selbstverant­wortung der Familie, die Kommune folgt erst danach. Der Staat wird als letzte Instanz hinzugezogen. Dies hat zur Folge, dass Projekte und Programme hauptsächlich lokal entwickelt und realisiert werden. Der Bund setzt hierbei mit dem SGB VIII nur den ge­setzlichen Rahmen und verfügt außerdem noch über eine Anregungskompetenz, die sich vor allem in Form von Modellprogrammen manifestiert. Auf lokaler Ebene haben die anerkannten freien Träger der Jugendhilfe[77] mit ihren Angeboten Vorrang vor den Jugendämtern, die erst dann als öffentliche Träger tätig werden dürfen, wenn die freien Träger keine oder nicht ausreichende Angebote machen bzw. machen können. Trotz­dem besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen den Jugendämtern und den Projekten, da die meisten freien Träger und alle kommunalen Projekte durch das Jugendamt, Ab­teilung Jugend, finanziert werden und die Abteilung Jugend für die Umsetzung der rechtlichen Beratungsaufgaben nach dem SGB VIII, also das Kinder- und Jugendhilfe­gesetz, zuständig ist[78].

[...]


[1] „Knallhart“, Making of, Minute 06:37 (Während der Drehpausen wurden Jugendliche aus Neukölln zu ihrem Gewaltverhalten befragt)

[2] vgl. Der Polizeipräsident in Berlin (2007b), S. 106

[3] Als „Nichtdeutsche“ gelten in der an späterer Stelle noch betrachteten polizeilichen Kriminalstatistik diejenigen, nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

[4] vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg (2008)

[5] Vandalismus wird über §303 Strafgesetzbuch (StGB) als Sachbeschädigung sanktioniert und fällt damit im weiteren Sinne unter den Gewaltbegriff.

[6] Hierunter ist das Androhen von Gewalt zu verstehen, gibt das Opfer dem Täter nicht die gewünschte(n) Wertsache(n), beispielsweise Sätze wie: „Gib mir dein Handy oder ich verprügle dich“.

[7] Böttger, A. (1998), S. 23

[8] Fuchs-Heinritz, W. / Lautmann, R. / Rammstedt, O. / Wienold, H. (1995), S.137

[9] § 1, Abs. 2, Nr. 2 Jugendschutzgesetz (JuSchG)

[10] vgl. Hurrelmann, K. (2004), S. 40f

[11] vgl. ebd. S. 34

[12] Die Entscheidung, die Tat eines Heranwachsenden nach dem Jugendstrafgesetz zu verhandeln liegt im Ermessen des jeweiligen Richters

[13] vgl. Unabhängige Kommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt in Berlin (1996), S. 374

[14] Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.) (2007),

S. 17

[15] Lindenberg, M. / Sack, F. (2001), S. 170

[16] ebd. S. 172

[17] Dies trifft deshalb nicht auf alle Gesellschaften zu, da in einigen wenigen Gesellschaften z.B. der soge­nannte Ehrenmord nicht als Abweichung gilt. Hierbei handelt es sich beispielsweise um die Ermordung eines Mädchens, das durch vorehelichen Geschlechtsverkehr die Ehre ihre Familie beschmutzt habe. Die Tat wird immer durch ein Familienmitglied begangen, das möglichst noch nicht strafmündig ist, um der deutschen Justiz so „ein Schnippchen zu schlagen“. Auch die Ermordung von Zivilisten durch Soldaten gilt nicht als Abweichung, solange die Morde von Uniformierten während eines Krieges begangen wer­den.

[18] Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.) (2007),

S. 21

[19] vgl. ebd.

[20] vgl. Dahrendorf, R. (1965), S. 30

[21] ebd.

[22] ebd.

[23] vgl. Merton, R. K. (1995), S. 127 - 154

[24] Ein solcher Zustand der Anomie bewirkt weitgehende Verhaltens- und Erwartungsunsicherheiten, die sich bis hin zum Suizid auswirken können – Durkheim spricht hier von „anomischem Selbstmord“. Vgl. Durkheim, E. (1983), S. 273ff

[25] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit jeweils nur die männliche Form verwendet, womit jedoch auch die weibliche Form gemeint ist. Bezieht sich eine Aussage nur auf ein Geschlecht, so wird dies entsprechend gekennzeichnet.

[26] vgl. Lindenberg, M. / Sack, F. (2001), S. 181f

[27] vgl. Krause, H.-U.(2006), S. 28

[28] So auch in den drei Untersuchungsgebieten, wo der Ausländeranteil bei über 20% liegt. Die genauen Zahlen sind in Kapitel 6.1 aufgeführt

[29] vgl. Ross-Strajhar, G. (2005), S. 12

[30] zitiert nach: Böttger, A. (1998), S. 43

[31] Huisken, F. (1996), S. 41

[32] vgl. Böttger, A. (1998), S. 15

[33] vgl. Gutzeit, A. (2006), S. 17

[34] vgl. Baier, D. / Pfeiffer, C. (2007), S. 3

[35] „Abweichendes Verhalten“ schließt auch Drogenkonsum, Ausländerfeindlichkeit etc. ein. Oft sind mehrere dieser Faktoren bei einer Person gekoppelt. In diesem Beispiel werden andere Faktoren als der der Gewalt jedoch ausgeklammert. Vgl. Baier, D. (2005), S. 382

[36] ebd.

[37] Die peer group ist eine Gruppe gleichaltriger Kinder und Jugendlicher „deren Bedeutung in unserer Gesellschaft hauptsächlich darin gesehen wird, dass sie als Primärgruppen den Sozialisationsprozess, der in der Familie eingeleitet wird, fortsetzen“ (Fuchs-Heinritz, W. / Lautmann, R. / Rammstedt, O. / Wie­nold, H. (1995), S. 249)

[38] Allerdings gibt es biologische Prädispositionen wie z.B. ein höheres Erregungspotenzial, das wiederum schneller zu aggressivem Verhalten führt. Und auch Pierre Bourdieu spricht von der „sozialen Verer­bung“ von Habitus-Dispositionen. Hier steht weniger die Biologie als der Habitus, den wir von unseren Erziehenden vorgelebt bekommen im Vordergrund. (vgl. Bourdieu, P. (1987), S. 277-355)

[39] vgl. Baier, D. (2005), S. 385

[40] vgl. ebd., S. 385f

[41] vgl. Böttger, A. (1998), S. 48

[42] Fuchs-Heinritz, W. / Lautmann, R. / Rammstedt, O. / Wienold, H. (1995), S. 615

[43] Auch die traditionelle Auffassung, Sozialisation im Erwachsenenalter sei bloß ein ergänzendes Lernen und somit eigentlich nicht als Sozialisation zu bezeichnen, ist mittlerweile widerlegt worden. Der Eintritt in einen neuen Status (beispielsweise die Geburt des ersten Kindes) oder Betrieb hat selbstsozialisierende Wirkungen. Dieter Geulen bezeichnet diesen Prozess als Resozialisation bzw. Desozialisation. (Geulen, D. (2001), S. 140)

[44] vgl. Geulen, D. (2001), S. 128

[45] vgl. ebd.

[46] dies entspricht dem „me“ des symbolischen Interaktionismus von Mead

[47] dies entspricht dem „I“ des symbolischen Interaktionismus. Das Zusammenspiel von „me“ und „I“ nennt Mead „self“

[48] Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.) (2007), S.79

[49] vgl. Der Polizeipräsident in Berlin (2007b), S. 104

[50] vgl. Merton, R. K. (1995), S. 127 - 154

[51] vgl. Kursbuch E-Mail-Projekt (2008), Kapitel 1.3

[52] In ihm sind die kulturellen Werte und Normen versammelt, die von allen geteilt werden bzw. geteilt werden sollten, wenn die Gesellschaft insgesamt funktionieren soll. Vgl. Münch, R. (2002), S. 27ff

[53] näheres hierzu bei: Halm, D. / Sauer, M. (2006)

[54] vgl. Baier, D. / Pfeiffer, C. (2007), S. 4

[55] Von deutscher Seite war es zwar vorgesehen, dass sich die ehemaligen Gastarbeiter auf die übrigen Bezirke verteilen, es gab eine Quotenregelung, die garantieren sollte, dass der Ausländeranteil in einem Bezirk einen gewissen Prozentsatz nicht übersteigt, dieser Plan scheiterte jedoch. Die meisten meldeten sich zwar in einem anderen Bezirk an, lebten aber weiterhin in ihrem „alten“ Bezirk.

[56] Der Begriff führte besonders im Jahr 2000 im Zusammenhang mit dem von Bassam Tibi entwickelten Begriff der Leitkultur zu einer weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Debatte über das Thema Zuwanderung. Seither ist „Parallelgesellschaft“ u.a. in Medienberichten ein Schlagwort, wenn Integrati­onsproblematiken oder die Zuwanderung thematisiert werden.

[57] Die Zahlen der von Minderjährigen begangenen Straftaten sind in Kapitel 6.3 aufgeführt

[58] Eßmann, W. (2008), S.2

[59] vgl. ebd.

[60] vgl. Frenzel, W. / Lashlee, D. / Ledge, J. / Mai, M. / Penkert, W. / Pomierski, R. (2008), S. 1

[61] vgl. Baier, D. / Pfeiffer, C. (2007), S. 5

[62] Schmargendorf ist ein Teil des Bezirks Wilmersdorf, der als sehr ruhig, als „spießig“ gilt. Straftaten von Jugendlichen werden hier weniger erwartet.

[63] Als „Ausländer“ wird in der später noch aufgeführten polizeilichen Kriminalstatistik bezeichnet, wer keinen deutschen Pass besitzt. Wie viele der Jugendlichen Straftäter einen deutschen Pass besitzen, den­noch aber einen Migrationshintergrund haben, wird hier nicht erfasst.

[64] siehe Kapitel 6.3

[65] vgl. Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.) (2007), S. 76ff

[66] vgl. Ittel, A. et al. (2008), S. 107f

[67] vgl. ebd.

[68] Also Raub (das sogenannte Abziehen), Diebstahl etc. Vgl. Baier, D. / Pfeiffer, C. (2007), S. 3

[69] Als Schwellentäter wird ein Jugendlicher bezeichnet, wenn er bis zu fünf Raub- oder schwerwiegen­dere Straftaten begangen hat, als Intensivtäter bei der Begehung von mindestens 10 Straftaten. Definition von einem Polizisten des Intensivtäterkommissariats, mit dem ein vorgeschaltetes Expertengespräch ge­führt wurde.

[70] vgl. Art. 6 Grundgesetz

[71] Im weiteren SGB VIII

[72] Deutsches Jugendinstitut. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention (Hrsg.) (2007),

S. 132

[73] §11 SGB VIII, vgl. delphi – Gesellschaft für Forschung, Beratung und Projektentwicklung mbH (2007), S. 6

[74] §13 SGB VIII, ebd.

[75] Bei der Einzelfallhilfe handelt es sich um alltagsorientierte Beratung und individuelle Hilfestellung bei Problemen in der Familie, Schule oder Ausbildung bzw. bei der Lehrstellen- und Arbeitsplatzsuche, die sowohl vom Jugendamt, als auch von Mitarbeitern der Präventionsprojekte angeboten wird.

[76] ebd. S. 136

[77] Diese sind: Kirchen, Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts, sowie die Verbände der freien Wohlfahrtspflege.

[78] Auf die Art und Weise der Kooperation wird in Kapitel 8.4 näher eingegangen

Ende der Leseprobe aus 122 Seiten

Details

Titel
Kiezorientierte Prävention von Kinder- und Jugendgewalt
Untertitel
Eine empirische Studie in den Berliner Bezirken Kreuzberg, Neukölln und Wedding
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
122
Katalognummer
V124685
ISBN (eBook)
9783640298358
ISBN (Buch)
9783640303564
Dateigröße
856 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kiezorientierte, Prävention, Kinder-, Jugendgewalt
Arbeit zitieren
Lea Wolf (Autor:in), 2008, Kiezorientierte Prävention von Kinder- und Jugendgewalt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/124685

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