„Es gibt keine logische Erklärung für die politische Unterwerfung der Frauen. Jedes Zögern und jede negative Einstellung in diesem Zusammenhang sind nichts anderes als ein soziales Phänomen der Vergangenheit.“ (Mustafa Kemal Atatürk)
Die Gleichstellung von Frau und Mann ist ein Grundrecht der Europäischen Union. Sie bildet das Fundament einer pluralistischen Gesellschaft. Daher ist die Chancengleichheit ein essentieller Bestandteil der Beitrittsverhandlung zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Hierbei werden die Verhandlungen auf zwei Ebenen geführt: einerseits geht es um die Annahme des Acquis communautaire und andererseits um alle weiteren Fragen, die die Lebensbedingungen der Frauen betreffen. In der vorliegenden Arbeit wird der folgenden Arbeitshypothese
nachgegangen: Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen (1999: Helsinki) zwischen der Türkei und der EG hat sich die normative Gleichstellung der Frau verbessert. Indikatoren sind die Bildung
der Frau, ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Repräsentanz der Frau in der Politik und die Gewalt gegen Frauen. Da sich die gesellschaftliche Realität von Türkinnen durch das politische System und die Gesellschaft bestimmt, wird im ersten Teil zunächst kurz auf die Entwicklung des politischen Systems der Türkei eingegangen. Im zweiten Schritt wird die Diskussion um Gender im Islam angerissen, um dann die Rolle des Islam in der Türkei einzuordnen. Im Weiteren wird die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses dargelegt und drei Identitätsmodelle von Türkinnen und ihre jeweiligen Konzepte des öffentlichen und privaten Raumes vorgestellt. Im zweiten Teil werden zunächst die Kopenhagener Kriterien definiert, die im weiteren Vorgehen in den Kontext der Heranführung der Türkei an die Beitrittsverhandlungen gestellt werden. Dem rechtlichen Entwicklungsprozess zur Gleichstellung der Frau folgt eine Darstellung der Bewertung der
türkischen Entwicklung durch die Europäischen Organe. Grundlage bilden hier die Jährlichen Berichte und Monitoring Reporte. Im Fazit wird die Veränderung der Stellung der Frau bewertet.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Politisches System der Türkei
II.1 Geschichtlicher Abriss des politischen Systems der Türkei seit ihrer Gründung und die Rolle des Islams
II.2 Die Debatte um Gender und Menschenrechte im Islam
II.3 Die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses
II.4 Drei Identitätsmodelle für Frauen und ihre jeweiligen Konzepte des öffentlichen und privaten Raumes in der Türkei
III. Entwicklungsprozess zur Gleichstellung der Frau in der Türkei
III.1. Kopenhagener Kriterien
III.2. Geschichtlicher Überblick über die Heranführungsstrategie für die Türkei durch die EU
III.3. Rechtlicher Entwicklungsprozess zur Gleichstellung der Frau
III.4. Bewertung durch EG- Organe und NGOs
IV. Fazit
Literaturverzeichnis
„Es gibt keine logische Erklärung für die politische Unterwerfung der Frauen. Jedes Zögern und jede negative Einstellung in diesem Zusammenhang sind nichts anderes als ein soziales Phänomen der Vergangenheit.“ (Mustafa Kemal Atatürk)
I. Einleitung
Die Gleichstellung von Frau und Mann ist ein Grundrecht der Europäischen Union. Sie bildet das Fundament einer pluralistischen Gesellschaft. Daher ist die Chancengleichheit ein essentieller Bestandteil der Beitrittsverhandlung zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Hierbei werden die Verhandlungen auf zwei Ebenen geführt: einerseits geht es um die Annahme des Acquis communautaire und andererseits um alle weiteren Fragen, die die Lebensbedingungen der Frauen betreffen. In der vorliegenden Arbeit wird der folgenden Arbeitshypothese nachgegangen: Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen (1999: Helsinki) zwischen der Türkei und der EG hat sich die normative Gleichstellung der Frau verbessert. Indikatoren sind die Bildung der Frau, ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Repräsentanz der Frau in der Politik und die Gewalt gegen Frauen.
Da sich die gesellschaftliche Realität von Türkinnen durch das politische System und die Gesellschaft bestimmt, wird im ersten Teil zunächst kurz auf die Entwicklung des politischen Systems der Türkei eingegangen. Im zweiten Schritt wird die Diskussion um Gender im Islam angerissen, um dann die Rolle des Islam in der Türkei einzuordnen. Im Weiteren wird die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses dargelegt und drei Identitätsmodelle von Türkinnen und ihre jeweiligen Konzepte des öffentlichen und privaten Raumes vorgestellt. Im zweiten Teil werden zunächst die Kopenhagener Kriterien definiert, die im weiteren Vorgehen in den Kontext der Heranführung der Türkei an die Beitrittsverhandlungen gestellt werden. Dem rechtlichen Entwicklungsprozess zur Gleichstellung der Frau folgt eine Darstellung der Bewertung der türkischen Entwicklung durch die Europäischen Organe. Grundlage bilden hier die Jährlichen Berichte und Monitoring Reporte. Im Fazit wird die Veränderung der Stellung der Frau bewertet.
II. Politisches System der Türkei
II.1. Geschichtlicher Abriss des politischen Systems der Türkei seit ihrer Gründung und die Rolle des Islams
1923 wird die Türkische Republik von Mustafa Kemal, später Atatürk (Vater der Türken), gegründet. Er leitete die kemalistischen Reformen ein, die er anhand von sechs Prinzipien definierte: (1) Der Nationalismus sollte das verbindende Element der Völker sein – mittels türkischer Sprache und Kultur. Atatürk führte zudem den (2) Laizismus ein, der eine strikte Trennung von Religion und Staat vorsah. Mit seinen Reformen „von oben“ wollte er die alten osmanischen Gesellschaftsstrukturen und Gewohnheiten aufbrechen und sie den westlichen anpassen (vgl. Moser 2002) Die Rückständigkeit des Landes, gegenüber anderen europäischen Ländern, sah er in erster Linie durch die tiefe Verwurzelung der Religion, des Islam, in der Bevölkerung begründet. „Dem Islam wurde in dieser Zeit seine ehemalige bedeutende soziale Funktion entzogen“ (Pusch 1997: 243). Der (3) Republikanismus sah die Volkssouveränität als auch Freiheit und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz vor. Dies bedeutete gleichzeitig die Abschaffung des Kalifats und die dauerhafte Errichtung der Republik. Der (4) Populismus beinhaltete, dass alle türkischen Bürger unabhängig von Sprache, Glauben, ethnischer Herkunft und gesellschaftlicher Schicht, vor dem Gesetz gleich waren und sich am Staat durch Rechte und Pflichten beteiligen sollten. Der (5) Reformismus symbolisierte die ständige Entwicklung und Erneuerung im Besonderen in den Bereichen Wissenschaft und Technik. Die Erneuerungen sollten die Gesellschaft den Erfordernissen der Zeit anpassen und die Türkei zu einem modernen Staat nach dem Vorbild europäischer Nationen entwickeln lassen. Der (6) Etatismus beinhaltete die Aufgabe des Staates die Wirtschaft zu lenken, um so die ökonomische Entwicklung voran zu bringen. Diese sechs Prinzipien wurden im Jahr 1937 in die Türkische Verfassung von 1924 aufgenommen und besitzen zum Teil heute noch Gültigkeit. So wurde beispielsweise das Tragen von religiösen Gewändern und Bedeckungen verboten. „Die Befreiung der türkischen Frau aus den ihr von orientalischer Tradition und islamischer Religion auferlegten Zwängen war ihm [Mustafa Kemal] ein Hauptanliegen, das er unnachgiebig verfolgte“(Moser 2002:115). Atatürk verankerte im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1926 gleiche Rechte für Männer und Frauen in der Familie. Zudem sollte Mädchen der Weg zu höherer Schulbildung und den Universitäten eröffnet werden. Außerdem wurde 1934 Frauen das aktive und passive Wahlrecht für Parlamentswahlen eingeräumt.
Das türkische Rechtswesen gründet auf dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch, auf dem italienischen Strafrecht und dem deutschen Handelsrecht. Gewandelt haben sich in der Geschichte der Republik das Verständnis von Atatürks Prinzipien, dem Etatismus und Laizismus. So wird seit 1964 wieder mit dem Islam Politik gemacht, begünstigt durch die Einführung des Mehrparteiensystems (vgl. Pusch 1997). Die Gründung der Refah Partisi (Wohlstandspartei) läutete im islamistischen1 Lager eine neue Ära ein(vgl. Pusch). Sie wurde 1998 vom türkischen Verfassungsgericht wegen des Verstoßes gegen den Laizismus verboten. Danach spaltete sich das pro-islamische Lager. Seither bildet die pro- islamische Adalet ve Kalk ı nma Parti (AKP: Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) die Regierung. Nach Udo Steinbach gibt es drei Varianten des Islams in der Türkei: Staatsislam, Volksislam und politischen Islam (Islamismus). Der Staatsislam wird ausgeführt von der Religionsbehörde, der 88 000 Angestellte angehören. Das Konzept einer „türkisch-islamischen Synthese sucht eine Verbindung von Türkentum und Islam, Staat und Religion herzustellen.“ (Steinbach 2003: 99). Der Volksislam spricht das einfache Volk an und organisiert sich beispielsweise in Bruderschaften. Der politische Islam entwickelte sich dank Scheich Mehmet Zahid Kotku in den sechziger Jahren in Istanbul. (vgl. Steinbach 2003: 101). Einer seiner Schüler war Necmettin Erbakan, der die erste islamistische Partei seit Atatürks Reformen gründete. Jedoch war erst der modernistische Flügel der Partei auf kommunaler und Bundesebene mehrheitsfähig in der Türkei. (vgl. Steinbach 2003: 101). In wie fern der Islam zu einem „integralen Bestandteil der türkischen Demokratie werden könnte, ist eine der großen Fragen an die Türkei mit Blick auf die Zukunft.“ (Steinbach 2003: 102).
II.2. Die Debatte um Gender und Menschenrechte im Islam
Die Debatte um Geschlechterrollen im Islam wird auf mehreren Ebenen geführt: die theoretische Ebene befasst sich mit der religiös-philosophischen Dimension und die praktische bezieht sich auf die Geltung von Frauenrechten und deren Gewährung in Ländern in denen das Rechtssystem und das gesellschaftliche Leben vom Islam geprägt sind. „Der Islam sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass er sich dem universellen Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau verschließe.“ (Abid 1999: 143). In ihrer menschlichen Würde sind Mann und Frau vor Gott gleich. So wurde die Frau nach dem Koran aus der gleichen Essenz geschaffen wie der Mann. „Sie ging nicht aus einer seiner Rippen hervor, sondern ist, gemäß einem Ausspruch des Propheten, seine Zwillingshälfte, was vollkommen mit der koranischen Lehre übereinstimmt, wonach Gott allen Dingen ein Paar schuf.“ (Boisard 1982:103). Die Scharia bildet das islamische Recht. Sie vereint die göttliche Offenbarung und menschliches Denken. Sie ist also eine Kombination von rechtlichen und ethischen Prinzipien, „die aus dem Koran abgeleitet und vom Menschen in verschiedenen historischen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext interpretiert wurden.“ (vgl. Abid 1999: 157). Sie wird als unvereinbar mit den universellen Prinzipien der Menschenrechte angesehen. Dieser Widerspruch, so Abid, ist „überbrückbar, indem man betont, dass das Prinzip der Gleichheit von Mann und Frau[...]auch die ethische Vorstellung des Islams in Bezug auf die Gleichheit der Geschlechter widerspiegelt.“
II.3 Die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses
Für das muslimische Sittlichkeitsempfinden ist die Stellung der Frau bedeutend. Sie wird als „Zentralcode muslimischer Sozialität“ bezeichnet. (Seufert 1999: 152) Die verschiedenen religiösen Flügel sind sich einig in den Prinzipien der Trennung der Geschlechter, dem hohen Stellenwert der Ehe und dem Ausschluss von nichtehelichem Geschlechtsleben. Der religiös-konservative Teil der türkischen Gesellschaft verfolgt daher drei Strategien um die Geschlechtertrennung aufrecht zu erhalten: Sie leisten Widerstand gegen die Etablierung aller öffentlichen Räume, in denen sich die Geschlechter begegnen könnten. Sind öffentliche Räume erst einmal geschaffen, so bevorzugen die Religiösen die strikte Trennung dieser Räume nach Geschlecht. Lässt sich die Frau auf die Hausfrauenrolle ein, so hat ihre Propagierung durch die Religiösen gefruchtet. (vgl. Seufert 1999) Doch in der Türkei konkurrieren mittlerweile verschiedene weibliche Lebensmuster, die sich nach Serpil Üşür in folgende Identitätsmodelle kategorisieren lassen.
II.4 Drei Identitätsmodelle für Frauen und ihre jeweiligen Konzepte des öffentlichen und privaten Raumes in der Türkei
Zurzeit werden in der Türkei drei Identitätsmodelle für Frauen diskutiert. Hierbei handelt es sich um das islamistische, das kemalistisch- sozialdemokratische und das neoliberale Identitätsmodell.
1. Das Identitätsmodell islamistischer Frauen
Das Öffentlichkeitskonzept ist hier geschlechtsspezifisch. So werden im öffentlichen Bereich zwei getrennte Welten anhand des Geschlechts differenziert. Die Trennung weist den Geschlechtern jeweils Aufgaben zu. Danach sind Männer für politische, institutionelle und formale Aufgaben zuständig. Frauen hingegen unterstützen Kampagnen und die ideologische Mobilisierung unter Frauen. Sie schaffen informelle Netzwerke(vgl. Üşür 1997). Der politische Islam sucht hierbei die Frau als Objekt autoritärer Massenmobilisierung zu instrumentalisieren. (vgl. Üşür 1997). Auch im Privaten herrscht eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Hier nimmt die Frau die bekannte Rolle als Gattin, Mutter und Hausfrau ein. Frauen betrachten diesen Bereich „als Quelle weiblicher Macht“(Üşür 1997: 298). Trotz dieses mit Macht verknüpften Selbstbildes im Identitätsmodell islamistischer Frauen bleibt es konservativ(vgl. Üşür 1997). Es dient als anti- emanzipatorisches Instrument für die Forderungen der Frauen.
2. Das Identitätsmodell sozialdemokratischer oder kemalistischer Frauen Der Ursprung dieses Identitätsmodell liegt im „staatsfeministischen Zugang zu Frauenfragen, den das modernistisch-autoritäre Regime der republikanischen Aufbauphase der Türkei zu Beginn des Jahrhunderts vertrat“(Üşür 1997:298). In diesem Identitätsmodell fordern die sozialdemokratischen Frauen Gleichberichtigung, die gleichwertige Beteiligung an Entscheidungsprozessen und die öffentliche Repräsentanz(vgl. Üşür 1997). Sie streben die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Öffentlichen und Privaten an. In diesem Identitätsmodell wird jedoch die sexistische Unterdrückung der Frau im Privaten nicht thematisiert(Üşür 1997: 304) .
3. Das neoliberale Identitätsmodell
Das neoliberale Identitätsmodell beinhaltet ein Konzept von Öffentlichkeit, welches keine geschlechtsspezifischen Züge trägt. Dies bedeutet das Negieren von sexistischer Diskriminierung. In diesem Modell weisen die Frauen lediglich eine Marktorientierung auf. Die politischen Ideen dieser Frauen unterliegen einer „Konjunktur[...], die entpolitisierte, individuelle Positionen favorisiert“(Üşür 1997:302). Im Privaten bevorzugen die neoliberalen Frauen einen offenen Lebensstil „als selbstbestimmtes weibliches Individuum“(Üşür 1997:302). Insgesamt nehmen sie also keine Trennung von Privatem und Politischen vor und führen ein „geschlechtsunabhängiges Leben, das auf der Befriedigung individueller Bedürfnisse basiert“ (Üşür 1997:304).
[...]
1 Analog zu Yeşim Arat wird der Begriff islamistisch im Sinne des politischen Islams verwandt.
- Arbeit zitieren
- Daniela Kaya (Autor:in), 2006, Die Gleichstellung der Frauen in der Türkei im Zusammenhang mit dem Europäischen Integrationsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125137
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