Förderung der Selbstbestimmung in der Alltagsbegleitung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden


Diplomarbeit, 2009

116 Seiten


Leseprobe


INHALT

1. Einleitung

2. (Geistige) Behinderung als Begriff und Lebensrealität
2.1 Etablierung des Begriffes „Geistige Behinderung“
2.2 Schwierigkeiten bei der Definition des Begriffes „Geistige Behinderung“
2.3 Eigene Einschätzung / Arbeitsdefinition

3. Geschichtliche Leitbilder in der Behindertenarbeit
3.1 Exkurs I: Die Lebensunwert-Debatte im faschistischen Deutschland
3.2 Verwahrlosung von 1945 bis in die 1970er Jahre
3.3 Die Phase der therapeutischen Förderung
3.4 Das Ideal der Integration und Selbstbestimmung

4. Selbstbestimmung als Leitbild in der Arbeit mit Menschen, die als (geistig) behindert bezeichnet werden
4.1 Der Begriff der Selbstbestimmung
4.2 Rechtliche Grundlagen
4.3 Kritik und Positionen zur Frage nach der Selbstbestimmung bei Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden

5. Wohnsituation von Menschen, die als geistig behindert gelten
5.1 Exkurs II: Die Bedeutung des Wohnens (auch und insb. für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung)
5.2 Historische Entwicklung der Wohnsituation
5.3 Übersicht über die bestehenden Wohnformen
5.4 Leben im Wohnheim - Einblicke in den Heimalltag

6. Das Empowerment-Konzept
6.1 Definition des Begriffes "Empowerment"
6.2 Geschichtliche Hintergründe des Empowerment-Konzepts
6.3 Das Menschenbild des Empowerment-Konzepts
6.4 Ziele von Empowerment
6.5 Ebenen von Empowerment-Prozessen
6.6 Die inhaltliche Ausgestaltung des Empowerment-Konzepts
6.7 Methoden zur Ressourcenaktivierung unter der Empowerment-Perspektive
6.8 Möglichkeiten der Umsetzung des Empowerment-Konzepts, in der Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden

7. Möglichkeiten der Umsetzung des Empowerment-Ansatzes im Wohnbereich der Behindertenhilfe
7.1 Handlungsansätze zur Unterstützung und Förderung der Selbstbestimmung im Wohnheimalltag
7.2 Umsetzungsmöglichkeiten im Wohnheimalltag
7.2.1 Das Konzept der Lebenshilfe Salzburg
7.2.2 NutzerInnenorientierung im Wohnheim Eckardtsheim

8. Zwischenfazit

9. Das Konzept des Community Living als Alternative zum traditionellen Wohn- und Versorgungssystem der Behindertenhilfe
9.1 Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen des Community Living Ansatzes
9.2 Grenzen und Herausforderungen des Community Living Ansatzes

10. Das schwedische Modell der Behindertenhilfe
10.1 Von der institutionellen Tradition hin zur kommunalen Unterstützung
10.2 Zur aktuellen Wohnsituation

11. Schlussbetrachtung

12. Literatur

1. Einleitung

Die Forderung nach Selbstbestimmung bzw. die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens von Menschen, die als (geistig) behindert gelten, ist in den letzten Jahren zu einem wichtigen Schlagwort, wenn nicht sogar zu der zentralsten Forderung überhaupt innerhalb der Behindertenarbeit geworden. Dem Bereich des Wohnens kommt hierbei eine zentrale Position zu. Zum einen ist er im Alltag omnipräsent vertreten und zum anderen erfüllt der Wohnraum wichtige Funktionen. So fungiert er etwa als Raum für Geborgenheit und Sicherheit, als Raum für Beständigkeit und Vertrautheit, als Raum für Selbstverwirklichung und Selbstverfügung, als Raum für Kommunikation und Zusammenleben sowie als Raum für Selbstdarstellung und Demonstration von sozialem Status.

Fragestellung

Obwohl in der BRD der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gilt, lebt nach wie vor ein Großteil aller Menschen mit so genannter geistiger Behinderung in speziellen Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe. Daher muss gefragt werden, wie sich in solchen Einrichtungen Selbstbestimmung fördern lässt. Eine Methode hierzu ist die des Empowerments. Empowerment bedeutet übersetzt Selbstbefähigung bzw. Selbstermächtigung und kommt ursprünglich aus den USA, wo der Begriff das erste Mal in Verbindung mit der Bürgerrechtsbewegung der schwarzen Minderheit verwendet wurde. Im Rahmen meiner Diplom-Arbeit werde ich folgender Fragestellung nachgehen: Inwiefern lässt sich durch den Empowerment-Ansatz Selbstbestimmung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, in Wohneinrichtungen der Behindertenhilfe fördern?

Vorgehensweise

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine theoriegeleitete Konzeptarbeit. Beginnen werde ich die Arbeit mit der Auseinandersetzung mit dem Begriff der geistigen Behinderung, da dieser weder unumstritten ist, es noch eine einheitliche, allgemein anerkannte Definition für ihn gibt. Ich werde die bekanntesten Definitionsansätze erläutern, darauf eingehen wie sich der Begriff in der BRD etablieren konnte und am Ende des Kapitels meine eigene Einschätzung erläutern bzw. mein eigenes Behinderungsverständnis darstellen und erklären, warum ich nicht von geistig Behinderten oder Menschen mit geistiger Behinderung spreche, sondern von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden oder Menschen mit so genannter geistiger Behinderung.

Dass die Forderung auch Menschen, die wir geistig behindert nennen, eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, keineswegs als selbstverständliche Aufgabe der Behindertenarbeit angesehen werden kann und sie erst seit einigen Jahren einen breiteren Zuspruch in der Behindertenhilfe erfährt, werde ich im darauf folgenden Kapitel darstellen. Hierzu werde ich einen Rückblick auf die geschichtlichen Leitbilder in der Behindertenarbeit in der BRD machen. Differenzieren werde ich idealtypisch zwischen drei Phasen: die Phase der Verwahrlosung von 1945 bis in die 1970er Jahre, die Phase der therapeutischen Förderung seit den 1960er Jahren und dem Idealbild der Integration und Selbstbestimmung ab den 1980er Jahren. Um jedoch die Nachkriegsentwicklung verstehen zu können, werde ich zunächst in einem Exkurs auf die Lebensunwert-Debatte im faschistischen Deutschland eingehen. Nach dieser Darstellung der Leitbilder soll noch einmal explizit herausgearbeitet werden, wodurch sich Selbstbestimmung kennzeichnet. Ich werde den Begriff der Selbstbestimmung in Abgrenzung zur Fremdbestimmung und unter der besonderen Berücksichtung der Frage Selbstbestimmung gleich Selbstständigkeit definieren. Dass die Forderung nach Selbstbestimmung jedoch nicht unumstritten als anzustrebendes Ideal in der Behindertenarbeit gilt bzw. Fachleute der Meinung sind, nicht allen Menschen, die als behindert bezeichnet werden, eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen zu können (abhängig ist dies vom Schweregrad der Beeinträchtigung), werde ich in den beiden folgenden Unterkapiteln verdeutlichen. Hier werde ich zum einen auf die Kritik an der Selbstbestimmungsidee in der Behindertenarbeit eingehen, sowie zum anderen auf die Positionen zur Frage nach der Selbstbestimmung bei Menschen, die als geistig (schwer) behindert bezeichnet werden.

Anschließend werde ich dann auf den Bereich des Wohnens zu sprechen kommen. Ich werde in einem Exkurs die Bedeutung des Wohnens im Allgemeinen und insb. auch für Menschen mit so genannter geistiger Behinderung beschreiben. Danach stelle ich die historische Entwicklung der Wohnformen dar, bevor ich auf die aktuelle rechtliche Verankerung näher eingehen werde. Es folgt ein Überblick über die derzeit bestehenden Wohnformen. Da es in meiner Diplom-Arbeit primär um den Wohn- und Lebensraum Wohnheim geht, werde ich abschließend versuchen, die Alltagsrealität in Wohnheimen nachzuzeichnen. Stützen werde ich mich hierbei auf die empirischen Studien von METZLER & WACKER (1998), SONNENBERG (2004), SEIFERT (2005) und RAUSCHER (2005). Ferner werde ich in diesem Kontext unter der Bezugnahme von NIEHOFF (2005a) auf die Bedeutung von Heimordnungen näher eingehen.

Daraufhin möchte ich dann ausführen, wie sich in Wohneinrichtungen, Selbstbestimmung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, fördern lässt. Vorstellen werde ich hierzu die Methode des Empowerments. Beginnen werde ich dieses Kapitel mit vier verschiedenen Annäherungen an den Begriff des Empowerments, bevor ich abschließend meine Arbeitsdefinition erläutern werde. Anschließend gehe ich auf die geschichtlichen Hintergründe des Empowerment- Konzepts ein und werde das dem Empowerment-Gedanken zugrunde liegende Menschenbild erläutern. Ich werde die Ziele von Empowerment darlegen und aufzeigen, dass sich Empowerment-Prozesse nicht nur auf einer Ebene abspielen, sondern auf vier verschiedenen. Zu differenzieren ist zwischen der individuellen Ebene, der Gruppenebene, der institutionellen Ebene und der sozialpolitisch-gesellschaftlichen Ebene. Da die vorhergegangen Ausführungen relativ abstrakt bleiben, folgt daraufhin ein Unterkapitel, welches sich mit der inhaltlichen Ausgestaltung der Empowerment- Philosophie befasst. Ferner gehe ich in diesem Kontext auf die Methoden zur Ressourcenaktivierung unter der Empowerment-Perspektive ein und werde die Möglichkeiten der Umsetzung des Empowerment-Konzepts, in der Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, darstellen.

Abschließend werde ich dann auf die Möglichkeiten der Umsetzung des Empowerment- Ansatzes im Wohnbereich der Behindertenhilfe eingehen. Ich werde hierzu auf Handlungsansätze zur Unterstützung und Förderung der Selbstbestimmung im Wohnheimalltag eingehen und Umsetzungsmöglichkeiten im institutionellen Rahmen beschreiben. Hierzu werde ich zwei Beispiele näher erläutern. Zum einen das Konzept der Lebenshilfe Salzburg und zum anderen das des Wohngruppenverbands I des Wohnheims Eckardtsheim.

2. (Geistige) Behinderung als Begriff und Lebensrealität

Bei der Definition von Behinderung differenziere ich im Folgenden zwischen zwei verschiedenen Ansätzen: dem defizitorientierten medizinischen Modell und sozialen Erklärungsmodellen. Im defizitorientierten Modell wird die betroffene Person als unzulängliches Mangelwesen und ewig Kranke angesehen. Als Folge dessen wird ihr jegliche Urteils-, Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit abgesprochen und sie somit an den Rand der Gesellschaft gedrängt (vgl. HERMES 2006, S. 17). Ähnlich wie auch bei PatientInnen wird bei Menschen, die als behindert bezeichnet werden, in diesem Modell davon ausgegangen, dass sie leiden. Die Betroffenen befinden sich in einer untergeordneten Position und machen Erfahrungen der Abhängigkeit und Herabwürdigung. Sie sind von professionellen BetreuerInnen umgeben und leben in Institutionen, die Krankenhäusern ähneln. Wie auch PatientInnen sind sie Objekte von Fürsorge und Paternalismus und werden nicht als Individuen betrachtet, die selbstbestimmt ihre Meinung artikulieren können (vgl. WALDSCHMIDT 1999, S. 24).

Soziale Erklärungsmodelle sind als Antwort, auf das defizitorientierte medizinische Behinderungsverständnis anzusehen. Entwickelt wurden soziale Erklärungsmodelle seit den 1980er Jahren von WissenschaftlerInnen aus verschiedenen Ländern.[1] Gegensätzlich zum medizinischen Behinderungsverständnis, gehen soziale Modelle davon aus, dass die Hauptprobleme von Menschen, die als behindert bezeichnet werden, nicht von deren individuellen Beeinträchtigung ausgehen, sondern von ausgrenzenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich durch den eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung kennzeichnen (vgl. HERMES 2006, S. 19). Mark PRIESTLEY (2003) differenziert zwischen der individuellen Beeinträchtigung eines Individuums und der Behinderung, die erst durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen entsteht. Er bezweifelt hierbei, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Beeinträchtigung und dem Behindert-Werden gibt. Daraus folgt, dass die Behinderungserfahrung abhängig von gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen ist. Somit sind zwei Personen mit einer ähnlichen medizinischen Ausgangslage nicht unbedingt in gleichen Maße „behindert“ (vgl. PRIESTLEY 2003, S. 23ff.). Was hiermit konkret gemeint ist, verdeutlicht Gisela HERMES (2006, S. 19) mit folgender Ausführung:

„Stellen sie sich zwei Rollstuhlfahrerinnen vor, die die gleiche Art und das gleiche Ausmaß einer Behinderung, z.B. eine Querschnittslähmung haben. Beide benutzen einen Elektrorollstuhl. Die eine wohnt in einer Stadt, in der die Umwelt relativ barrierefrei gestaltet ist (…). Die andere Rollstuhlfahrerin, mit den gleichen medizinischen Ausgangsbedingungen, wohnt auf dem Land. Dort sind die Bordsteine nicht abgesenkt, dort gibt es keinen Niederflurbus und nur Läden, die über Stufen erreichbar sind. Für die Frau auf dem Land endet die gesellschaftliche Teilhabe vor ihrem Haus, da sie bereits bei der Überwindung der hohen Bordsteine Schwierigkeiten hat. Würde sie in der Stadt wohnen, wäre das anders. Sie könnte allein einkaufen gehen und sich ihren Alltag aktiv gestalten. Obwohl die beiden Frauen die gleiche Beeinträchtigung haben, sind ihre Lebensbedingungen völlig verschieden.“

Das Beispiel zeigt auf, dass das Behindert-Werden in großem Maße von der Infrastruktur, dies gilt auch für die Infrastruktur von passenden Hilfsangeboten in Wohnortsnähe, abhängig und nicht als individuelles Wesenmerkmal zu verstehen ist. Da das Behindert-Werden also von gesellschaftlichen Bedingungen abhängig ist, gehen soziale Erklärungsmodelle davon aus, dass Behinderung nicht die einzelne Person, sondern die gesamte Gruppe behinderter Menschen betrifft. Ein weiteres Wesensmerkmal von sozialen Erklärungsmodellen ist, dass sie den Begriff der Behinderung als gesellschaftlich konstruierten Begriff, der veränderbar ist, betrachten. Behinderung bzw. Andersartigkeit wird in unterschiedlichen historischen Epochen und von Kultur zu Kultur unterschiedlich bewertet. So wird bspw. ein gesundheitlicher Zustand, der in einer Gesellschaft als Krankheit bzw. Behinderung definiert wird, in einer anderen als normaler Zustand akzeptiert[2] (vgl. ebd., S. 19f.).

ICIDH und ICIDH-2

Das internationale Klassifikationssystem von Krankheit und Behinderung ICIDH („International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“) der WHO aus dem Jahr 1980 führte zu einer Einstellungsänderung, weg vom starren defizitorientierten Modell hin zu einer Synthese der beiden vorgestellten Erklärungsversuche. Gegenüber früheren Definitionsversuchen aus dem Gesundheitssystem, bezieht sie sich nicht ausschließlich auf medizinische Faktoren, sondern auch auf soziale Aspekte. Zugrunde liegen der ICIDH zwei zentrale Erkenntnisse: erstens erkennt sie an, dass Behinderung etwas Relatives ist und ein Mensch nur in bestimmten Situationen behindert ist bzw. behindert wird und zweitens, dass ein Wechsel des sozialen Rahmens bzw. die Beseitigung von Hindernissen zumindest die soziale Benachteiligung aufheben kann. Aus diesen Erkenntnissen entstand das WHO-Modell der nachteiligen Auswirkungen von Krankheiten, angeborenen Leiden und Unfällen, das auch als Krankheitsfolgemodell bezeichnet wird. Das Krankheitsfolgemodell betrachtet Behinderung auf den drei Ebenen Schädigung (Impairment), Fähigkeitsstörung (Disability) und soziale Beeinträchtigung (Handicap). Nach dem Modell führt eine Krankheit bzw. Störung zu einer Schädigung. Diese Schädigung kann dann ferner zu einer Fähigkeitsstörung und / oder sozialen Beeinträchtigung führen[3]. Abhängig ist dies von dem Vorhanden bzw. Nicht- Vorhandensein von Hilfsmitteln und / oder sozialen Bedingungen (vgl. LINDMEIER 2005, S. 3ff.). Das Krankheitsfolgemodell hat zwar dazu geführt, dass die Definition von Behinderung nicht mehr ausschließlich über das medizinische Erklärungsmodell erfolgte, dennoch stieß es auf Kritik. Zentraler Bestandteil der Kritik ist, dass bei der Definition von Behinderung nach wie vor eine defizitorientierte Sichtweise vorherrschte. Lediglich das „Nicht-Können“ zu beschreiben stieß auf heftige Kritik, so dass bei der zweiten Revision der ICIDH[4] von 1999 nicht mehr die Schädigung im Vordergrund steht, sondern zum einen die individuellen Handlungsmöglichkeiten (Activities) und zum anderen die Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe (Participation) im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext (vgl. WEINGÄRTNER 2006, S. 39). Die ICIDH-2 war Vorläuferin für die heutige ICF[5].

ICF

Die ICF wurde auf der 54. Vollversammlung der WHO im Mai 2001 für alle Mitgliedsstaaten zur verbindlichen „internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“. Die ICF knüpft an die ICIDH-2 an, basiert jedoch noch stärker auf einer Synthese aus medizinischen und sozialen Erklärungsansätzen. Die ICF bildet somit ein bio-psycho-soziales Verständnis von Behinderung ab. Der Begriff der funktionalen Gesundheit ist der wichtigste der ICF. Im Sinne der ICF ist eine Person funktional gesund, wenn, vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren (materieller, sozialer und verhaltensbezogener Art sowie personenbezogener und persönlicher Merkmale), erstens ihre körperlichen Funktionen denen eines gesunden Menschen entsprechen, zweitens sie all das unternehmen kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblemen im Sinne der ICD-10[6] erwartet wird und drittens sie ihr Dasein in allen ihr wichtig erschienenden Bereichen in dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Beeinträchtigung erwartet wird (vgl. DIMDI 2005, S. 4). Behinderung resultiert demnach aus der negativen Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem diagnostizierbaren Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren, die sich aus Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren zusammensetzen. Bemerkenswert ist aus pädagogischer Perspektive, dass bei der ICF mit dem Begriff der Partizipation die soziale Dimension gleichberechtigt mit der medizinischen ist[7] (vgl. WEINGÄRTNER 2006, S. 41). In der Theorie, dies gilt sowohl für Medizin und Gesundheitswissenschaften als auch für die Sozialwissenschaften, dominiert also das bio-psycho-soziale Modell von Behinderung.

Laut KALTENBORN (2007) zeigt sich jedoch in der Praxis der medizinischen Forschung und der dazugehörigen Publikationstätigkeit die gewaltige Dominanz der biologisch-medizinischen Wissenschaft (vgl. S. 52). Meiner Meinung nach muss in diesem Kontext ferner kritisch hinterfragt werden, ob die Dominanz des medizinischen Modells lediglich im Bereich der Medizin anzutreffen ist oder auch in breiten Teilen der Gesellschaft und evt. sogar teilweise bei PraktikerInnen der Sozialen Arbeit.

2.1 Etablierung des Begriffes „Geistige Behinderung“

Eingang in die Sonderpädagogik hat der Begriff der „geistigen Behinderung“ hierzulande durch die Gründung der Elternvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“ im Jahr 1958 gefunden. Offensichtlich wurde der Begriff aus der anglo-amerikanischen Terminologie übernommen, in welcher der genannte Personenkreis damals mit den Worten „mentally retarded“ definiert wurde (vgl. SPECK 2007, S. 136). Der heutzutage verwendete Begriff der „geistigen Behinderung“ stellt den Versuch dar, früher gebräuchliche Termini wie „Blödsinn“, „Idiotie“ oder „Schwachsinn“, die stark stigmatisierten, abzulösen (vgl. FORNEFELD 2002, S. 44). Versuche durch ein Auswechseln von Wörtern die Menschen vor den stigmatisierenden Auswirkungen zu bewahren, gab es im Laufe der Geschichte wiederholt, dennoch scheiterten sie stets (vgl. SPECK 2007, S. 136). Somit handelt es sich auch beim heutigen Begriff der „geistigen Behinderung“ um einen stark stigmatisierenden, der nach wie vor überwiegend aus einer defizitorientierten Perspektive betrachtet wird[8].

Der Anteil von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, beträgt in der BRD nach Schätzungen 0,45 % bis 0,5 % an der Gesamtbevölkerung. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass ca. 400.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene als „geistig behindert“ bezeichnet werden. Abweichend hiervon beträgt der Anteil von SchülerInnen an so genannten Sonderschulen schon seit geraumer Zeit 0,6 % eines Jahrgangs. Es zeigt sich hieran, dass die Angabe abhängig von der Definition ist (vgl. KULIG / THEUNISSEN / WÜLLENWEBER 2006, S. 126).

2.2 Schwierigkeiten bei der Definition des Begriffes „Geistige Behinderung“

Wie deutlich wurde, fällt es schwer, eine Definition des Begriffes Behinderung vorzunehmen. Bei dem Versuch „Geistige Behinderung“ zu definieren, treten zusätzlich weitere Probleme auf. Zunächst einmal birgt der Begriff „geistige Behinderung“ das Problem in sich, dass „geistige Behinderung“ nicht als Behinderung des „Geistes“ beschrieben werden kann, während dies bei den meisten körperlichen Beeinträchtigungen[9] durchaus möglich ist. Auch wenn der Begriff des „Geistes“ auf Intellekt reduziert wird, bleibt es sehr umstritten, ob dies wirklich dem Sachverhalt einer so genanten geistigen Behinderung nahe kommt (vgl. WEINGÄRTNER 2006, S. 41).

Aus einer medizinisch-psychiatrischen Perspektive heraus, wird eine „geistige Behinderung“ als Einschränkung von kognitiven Leistungen definiert. Die ICD-10- Klassifikation differenziert hierbei zwischen vier verschiedenen Schweregraden[10] (vgl. DIMDI 2006, Kapitel V). Die nach ICD-10 festgestellten Intelligenzminderungen werden dann in der ICF als Folge von Funktionsbeeinträchtigungen des Gehirns bzw. des Zentralennervensystems erklärt, die zu Schwierigkeiten bei Lern-, Denk- und Gedächtnisprozessen (Aktivitäten) führen können. Intention dieser Diagnose soll es sein, zielgerichtete und kompensierende Maßnahmen abzuleiten (bspw. im Rahmen von bestimmten Unterstützungsdiensten oder technischen Hilfsmitteln). Aufgrund der Fülle von Unterpunkten und Verzweigungen innerhalb der ICF erscheint dies jedoch laut MEYER (2003) als sehr schwierig, wenn nicht gar als unmöglich (vgl., S. 17). Eine solche Einteilung legt durch ihre durch Tests gewonnen Messwerte eine Genauigkeit nahe, die v.a. aus pädagogischer und testkritischer Perspektive bezweifelt werden muss. Zum einen sind die meisten der herkömmlichen Intelligenztest bei Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, nur bedingt oder gar nicht anwendbar und zum anderen lässt der Intelligenzbegriff an sich kulturelle und schichtspezifische Sozialisationserfahrungen völlig außer Acht, indem er auf die kognitiv-abstrakte Dimension reduziert wird (vgl. KULIG et al. 2006, S. 121).

Eine zwar schon aus dem Jahr 1974 stammende Definition, die sich jedoch auch heute noch einer großen Beliebtheit erfreut, stammt vom DEUTSCHEN BILDUNGSRAT:

„Als geistig behindert gilt, wer (…) in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit so sehr beeinträchtigt ist, dass er voraussichtlich lebenslanger, sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Entwicklung einher (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1974, S. 37 zitiert nach Ziemen 2002, S. 27).“

Auf Kritik stößt eine solche Herangehensweise, da sie nur im Vergleich mit Normvorstelllungen arbeiten kann. Ferner steht hier deutlich eine defizitorientierte Betrachtungsweise im Vordergrund (vgl. ZIEMEN 2002, S. 27).

ZIEMEN (2002) und FEUSER (1996) vertreten hingegen eine radikale Position, wenn sie die These vertreten, dass es „geistige Behinderung“ nicht gäbe, sie sondern nur Ergebnis einer sozialen Konstruktion und nur durch einen phänomenologisch- klassifikatorischen Prozess zustande gekommen sei. FEUSER (1996) hierzu:

„Es gibt Menschen, die WIR aufgrund UNSERER Wahrnehmung ihrer menschlichen Tätigkeit, im Spiegel der Normen, in dem WIR sie sehen, einem Personenkreis zuordnen, den WIR (Hervorhebungen im Original, FL) als "geistigbehindert" bezeichnen. Geistige Behinderung kennzeichnet für mich (…) einen phänomenologisch-klassifikatorischen Prozess, also einen Vorgang der Registrierung von an anderen Menschen beobachteten "Merkmalen", die wir, in Merkmalsklassen zusammenfasst, zu "Eigenschaften" des anderen machen (FEUSER 1996, Kap. 2).“

Wie sich zeigt, lässt sich der Begriff der „geistigen Behinderung“ nicht endgültig definieren und ist überdies sehr umstritten in der (Behinderten-)Pädagogik. SPECK (2005) kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass es nicht als sinnvoll erscheint endgültig zu einem Ergebnis zu kommen, was unter dem Begriff der geistigen Behinderung zu verstehen ist.

„Es sollte vielmehr versucht werden, nur so viel spezifisch zu umschreiben, was im Sinne einer hinreichenden Verständigung und Unterscheidung für einen bestimmten sinnvollen Zweck notwendig ist und zugleich die soziale Situation und die pädagogische Förderung am wenigsten belastet (SPECK 2005, S. 52).“

2.3 Eigene Einschätzung / Arbeitsdefinition

In meiner Arbeit distanziere ich mich klar vom medizinisch defizitorientierten Modell. Dieses betrachtet die betroffenen Personen lediglich als Mangelwesen, deren Leiden zu lindern seien. Ferner werden durch die Einteilung der Schweregrade der Behinderung mittels ICD-10, die unterschiedlichen Grade der Behinderung mit einem Intelligenzalter verglichen, wodurch erwachsene Menschen mit Kindern gleichgesetzt werden. So wird bspw. bei einer schweren geistigen Behinderung, im Sinne der ICD-10 entspricht dies einem IQ-Bereich von 20 - 34, davon gesprochen, dass dies einem Intelligenzalter von drei bis unter sechs Jahren entspricht (vgl. DIMDI 2006, Kapitel V). Gerade gegen eine solche Gleichsetzung mit Kindern wehren sich jedoch Betroffene vehement. So betonen sie, dass es keineswegs gerechtfertigt sei, sie per se mit Vornamen anzusprechen und zu duzen (vgl. STRÖBL 2006, S. 43). Wohl wissend, dass es bestimmte kognitive Beeinträchtigungen gibt, die ein selbstgeführtes Leben erschweren, gehe ich in der vorliegenden Arbeit von einem sozialen Behinderungsverständnis aus. Demnach haben die Betroffenen bestimmte Wesensmerkmale, die zu einer Beeinträchtigung führen können. Abhängig ist dies von den sozialen Bedingungen. Aufgabe der Pädagogik muss es in diesem Kontext sein, Bedingungen zu schaffen, die dem betroffenen Personenkreis Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglichen.

Da der Begriff der „geistigen Behinderung“ sehr umstritten ist und es keine allgemein anerkannte Definition für ihn gibt, distanziere ich mich von ihm und spreche nicht von „Geistig behinderten“ oder Menschen mit einer „geistigen Behinderung“. Anstelle dessen verwende ich Menschen, die als „geistig behindert“ bezeichnet werden oder „so genannte geistige Behinderung“, da diese beiden Begrifflichkeiten klar ausdrücken, dass es einerseits keine allgemein gültige Definition gibt und andererseits sich klar von diesen Begriffen, die nur vergleichend an einer Norm funktionieren können, distanziert.

3. Geschichtliche Leitbilder in der Behindertenarbeit

Auf den ersten Blick erscheint die Forderung auch Menschen, die wir geistig behindert nennen, eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, als selbstverständliche Aufgabe der Behindertenarbeit und es somit als unnötig, dies extra zu betonen. Das dies jedoch nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden kann und die Forderung nach Selbstbestimmung erst seit einigen Jahren einen breiteren Zuspruch in der Behindertenhilfe erfährt, werde ich in diesem Kapitel darstellen. Hierzu werde ich einen Rückblick auf die geschichtlichen Leitbilder in der Behindertenarbeit in der BRD geben. Differenzieren werde ich im Folgenden in Anlehnung an HÄHNER (2006a) idealtypisch zwischen drei Phasen: erstens die Phase der Verwahrlosung von 1945 bis in die 1970er Jahre, zweitens die Phase der therapeutischen Förderung seit den 1960er Jahren und drittens dem Idealbild der Integration und Selbstbestimmung ab den 1980er

Jahren. Um jedoch die Nachkriegsentwicklung verstehen zu können, werde ich zunächst in einem Exkurs knapp auf die Lebensunwert-Debatte im faschistischen Deutschland eingehen.

3.1 Exkurs I: Die Lebensunwert-Debatte im faschistischen Deutschland

Im nationalsozialistischen Deutschland wurden sozialdarwinistische und so genannte „rassenhygienische“ Anschauungen zur Staatsideologie erhoben. Deutschland sollte im Inneren erstarken, um Kraft für militärische Expansionen nach Außen zu gewinnen. Zur Stärkung des Inneren gehörte die Beseitigung von allen Schwachen, worunter auch Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, fielen. Viele Fachleute (insb. ÄrztInnen, PädagogInnen und PsychiaterInnen) unterstützten diese Anschauung und die daraus folgenden Taten (vgl. FANDRY 1990, S. 185). Im Jahr 1933 verabschiedete die NSPAP das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, welches zum 01. Januar 1934 in Kraft trat. Durch ärztliche Diagnosen sowie Willkür und Gewaltmaßnahmen wurden bis zum Jahr 1945 zwischen 350.000 und 400.000 Menschen in Deutschland auf der Grundlage dieses Gesetzes zwangssterilisiert (vgl. HÄHNER 2006a, S. 25). Im Oktober 1939 verfasste Hitler per Geheimerlass den „Gnadentod“ für „unheilbar Kranke“, den er auf das Datum des Kriegsbeginns am 01. September 1939 zurückdatieren ließ. Da diese Ermächtigung geheim bleiben sollte, wurde kein entsprechendes Gesetz verabschiedet (vgl. FANDRY 1990, S. 189). Die systematische Ermordung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ist jedoch keineswegs nur das Resultat faschistischer Ideologie. Schon während der Weimarer Republik forderten an sozialdarwinistischen Theorien orientierte Professoren „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (BINDING / HOCHE 1920). Der deutsche Faschismus setzte diese Vorstellungen dann lediglich sehr gründlich und nahezu perfekt organisiert um. Die Zentrale der Tötungsaktion lag in Berlin- Charlottenburg, Tiergartenstraße 4[11]. Um alle Menschen mit einer so genannten geistigen Behinderung zu erfassen, verschickte die eigens für diesen Zweck geschaffene „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ Meldebögen an alle Einrichtungen. Abgefragt wurde u.a. Behinderungsart, Behinderungsschwere und Arbeitsfähigkeit. Die ausgefüllten Bögen wurden dann an medizinische GutachterInnen weitergeleitet, die über Leben und Tod entschieden, wobei die Arbeitsfähigkeit das Entscheidungskriterium war. Die Bevölkerung wurde über die „T4-Aktion“ nicht aufgeklärt. Angehörige erhielten die sterblichen Überreste in Urnen zugeschickt und gefälschte medizinische Gutachten über die Todesursache. Da jedoch innerhalb der Bevölkerung zunehmend Unruhe aufkam und sich Gerüchte über die „T4-Aktion“ sehr schnell verbreiteten, stoppte Hitler die „T4-Aktion“ im Sommer 1941. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden im Rahmen dieses Geheimerlasses zwischen 80.000 und 100.000 Menschen, die als geistig behindert bezeichnet wurden, systematisch ermordet. Mit dem Stopp der „T4-Aktion“ endete das Morden jedoch nicht. Viele AnstaltsleiterInnen oder ÄrztInnen töteten aus eigenem Antrieb und Ermessen weiter. Auch die Nazi-Diktatur verließ nicht ihren Kurs. So forderte bspw. das Bayrische Innenministerium 1942 Heime und Anstalten dazu auf, ihre „nicht arbeitsfähigen“ Insassen schlecht zu ernähren (i.a.W. verhungern zu lassen). Bis 1945 starben hierdurch allein mehr als 400 Betroffene in der Anstalt Eglfing-Haar (vgl. FANDRY 1990, S. 189ff.).

3.2 Verwahrlosung von 1945 bis in die 1970er Jahre

Die Lebensbedingungen von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, wurden noch lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Faschismus geprägt. Die Blockkonfrontation, das „Wirtschaftswunder“ und die Restauration der 1950er Jahre ließen gesellschaftliche Grundstrukturen unangetastet. Sozialpolitik und Rechtssprechung zeigten keineswegs einen umfassenden Bruch mit faschistischen Traditionen. Anstelle dessen wurde vieles aus der Zeit des Faschismus übernommen (vgl. ebd., S. 204). „Hitlers willige Vollstrecker“ konnten, von einigen Ausnahmen abgesehen, zur Tagesordnung übergehen und wurden auch weiterhin mit der Versorgung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, betraut, die i.d.R. in psychiatrischen Krankenhäusern und Anstalten mit zum Teil mehr als 1.000 Betten versorgt wurden. Träger der Einrichtungen waren freie Wohlfahrtsverbände (insb. kirchliche Träger, also Diakonie und Caritas) und die Bundesländer als Träger der psychiatrischen Krankenhäuser. Die Strukturen, die schon während des Kriegs existierten, blieben (größtenteils) auch nach 1945 erhalten. KREBS (1988) spricht von Konzepten einer „karitativ motivierten pflegerischen Versorgung, die nach damaliger Auffassung nur von »Anstalten« bzw. »Oligophrenenabteilungen« in psychiatrischen Einrichtungen zu leisten war (S. 170).“ Viele Kinder und Jugendliche, die als geistig behindert galten, wurden auch nach dem Krieg mit der Diagnose „Pflegefall“ in diese Einrichtungen gebracht. „Behinderung und Anstaltsunterbringung waren Synonyme, andere Formen des Umgangs mit Menschen mit einer Behinderung erschienen als nicht denkbar (HÄHNER 2006a, S. 26).“ Die Medikalisierung von Behinderung und die daraus resultierende Wertung und Verobjektivierung menschlichen Lebens konnte nicht überwunden werden. Menschen, die in die »Oligophrenenabteilungen« der Psychiatrie eingewiesen wurden, „hatten den Status von Patienten, waren »Fälle« und mussten sich aufgrund dieser Etikettierung weitgehend im Bett aufhalten (KREBS 1988, S. 170).“

Die Folgen einer solchen Unterbringung beschreibt JERVIS (1988, S. 129) folgendermaßen:

„Der Aufenthalt in der Irrenanstalt bewirkt fast ausnahmslos nach einigen Jahren, und manchmal nach einigen Monaten, eine charakteristische Art von Verhalten, die "institutionelle Neurose", "institutionelle Regression" oder richtiger "institutionelle Psychose" ("Anstaltspsychose") genannt wird. Der Patient verschließt sich langsam immer mehr in sich selbst, wird energielos, abhängig, gleichgültig, träge, schmutzig, oft widerspenstig regrediert auf infantile Verhaltensweisen, entwickelt starre Haltungen und sonderbare stereotype "Ticks", passt sich einer extrem beschränkten und armseligen Lebensroutine an, aus der er nicht einmal mehr ausbrechen möchte, und baut sich oft als eine Art Tröstung Wahnvorstellungen auf (…) Die geschichts- und zeitlose Welt der Abteilungen für Langzeitpatienten ist verantwortlich für diese Symptome, die auch in Konzentrationslagern festgestellt worden sind.“

3.3 Die Phase der therapeutischen Förderung

Im Jahr 1958 gründete sich die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.“. Hervorgegangen ist sie aus einem Zusammenschluss von Eltern, die Kinder hatten, die als geistig behindert galten. Die Eltern standen damals vor der ausweglosen Situation ihre Kinder entweder in eine zumeist weit entfernte Großeinrichtung (wie bspw. Hephata, Bethel oder Wittekindshof) geben zu müssen, oder aber auf sich allein gestellt zu bleiben. Kindergärten und Schulen waren i.d.R. nicht dazu bereit, die betroffenen Kinder aufzunehmen, spezielle Sondereinrichtungen existierten nicht. Zentrale Forderungen der Lebenshilfe bestanden daher zunächst darin, spezielle Einrichtungen zu schaffen, in denen die Kinder ihren Möglichkeiten entsprechend gefördert werden sollten. Zunächst wurden in diesem Kontext Tagestätten eröffnet und später dann auch Schulen für so genannte geistig Behinderte (vgl. ROHRMANN 1999, S. 55). Die Gründung der Lebenshilfe und sonstiger Initiativen von Eltern seit den 1960er Jahren hatten jedoch zunächst keinerlei Einfluss auf die Lebensbedingungen der Menschen, die als geistig behindert bezeichnet wurden, und in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht waren (vgl. FANDRY 1990, S. 219). Gegen Ende der 1960er Jahre erschien sowohl Fachleuten als auch einer breiten Öffentlichkeit die Lebensbedingungen in den psychiatrischen Krankenhäusern als äußerst kritikwürdig. Als Folge dessen gab die Bundesregierung mit den Stimmen aller Parteien einen „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ in Auftrag. Die so genannte Psychiatrie-Enquete sammelte das bis dato umfassendste Datenmaterial über die Lage der Psychiatrie in der BRD und sprach Empfehlungen aus. Im Jahr 1974 stellte sie fest, „dass, von einer Minderzahl eindeutig Krankenhaus bedürftiger geistig Behinderter abgesehen, das psychiatrische Krankenhaus für die Behandlung und Betreuung dieser Personengruppe nicht geeignet ist. Geistig Behinderte bedürfen in erster Linie heilpädagogisch-sozialtherapeutische Betreuung, die ihnen in der Regel in hierfür geeigneten Einrichtungen außerhalb des Krankenhauses angeboten werden sollte (Psychiatrie-Enquete 1975 zitiert nach HÄHNER 2006a, S. 27).“ Die Lebensbedingungen wurden erstmalig auch von offizieller Seite als elendig und menschenunwürdig beschrieben. Folgende zentrale Handlungsempfehlungen sprach die Enquete auf Grundlage der Beobachtungen aus: die Großenrichtungen sollen verkleinert werden, in jedem Gebiet von etwa 250.000 EinwohnerInnen soll ein umfassendes, bedarfsgerechtes Versorgungssystem aufgebaut werden, neben der Behandlung mit Psychopharmaka sollen soziotherapeutische, psychotherapeutische und milieutherapeutische Behandlungsformen den gleichen Stellenwert erhalten und Erwachsene, die als geistig behindert gelten, sollen nicht mehr länger in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in eigenständigen Einrichtungen leben (vgl. FANDRY 1990, S. 221). Als Folge dessen wurden zum Teil psychiatrische Einrichtungen komplett aufgelöst oder aber Menschen, die als geistig behindert galten, zum Großteil ausgegliedert. Diese fanden dann zumeist in speziellen Sondereinrichtungen (zum Großteil von der Lebenshilfe) einen neuen Wohnplatz. Der zentrale Begriff der Behindertenarbeit der 1970er Jahre wurde der der Förderung. Das Fördersystem entwickelte sich hierbei nicht linear (von der Frühförderung bis zu Hilfen für alternde Menschen mit so genannter geistiger Behinderung), sondern in Sprüngen nach den größten Nöten der Familien und Betroffenen. So wurden seit den 1960er Jahren zunächst Tagesbildungsstätten und Schulen für so genannte geistig Behinderte gegründet und dann später auch Anlern- und Beschützende Werkstätten (heute: Werkstatt für Behinderte; WfBM), Frühförderstellen, Wohnheime, Freizeit und Sportangebote geschaffen (vgl. HÄHNER 2006a, S. 30).

Durch die Sondereinrichtungen erfahren die Betroffenen jedoch Ausgrenzungserfahrungen und werden zudem zu therapiebedürftigen Subjekten aus der damaligen sonderpädagogischen Perspektive, die sich an der gesellschaftliche Norm(alität) orientiert.

„Der allseits beschriebene Therapieboom sowie der inflationäre Gebrauch des Wortes Therapie hat den Bereich der behinderten Menschen voll erfasst. Aus Musizieren wird Musiktherapie, aus Turnen Sporttherapie, aus Malen und Basteln Beschäftigungstherapie, aus Tanzen Motopädie, aus Freizeit Freizeittherapie usw. Der Alltag wird zur Therapie erklärt. Aber es handelt sich nicht nur um Wortgeklingel. Die Therapeutisierung des Alltags ist hier wie anderswo Ersatz für wirkliches Leben und gleichberechtigten Umgang zwischen Menschen (WUNDER 1982, S. 73).“

3.4 Das Ideal der Integration und Selbstbestimmung

Während es in den 1950er Jahren die Eltern von Kindern mit so genannter geistiger Behinderung waren, die sich zusammenschlossen und 1958 schließlich die Lebenshilfe gründeten, um sich für den Aufbau eines Förder- und Hilfesystems für ihre Kinder einzusetzen, sind es seit den späten 1970er Jahren die Betroffen selbst, die auf ihre Lebensumstände aufmerksam machen und sich für eine Neuorientierung in der Behindertenarbeit einsetzen. Wichtig Impulse gingen hierbei zunächst von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen aus, die sich in den 1970er Jahre in der Körperbehindertenbewegung zusammenschlossen, sich selbst den Namen „Krüppelbewegung“ gaben und auf Missstände innerhalb der Behindertenarbeit aufmerksam machten. Sie setzten sich gegen die Aussonderung und Abschottung zur Wehr und engagierten sich für eine Verbesserung der Lebensqualität im Hinblick auf die Wohnsituation, der Mobilität und der Ausbildungs- und Berufssituation. Das primäre Ziel bestand darin, Fremdbestimmung zu überwinden und die Rahmenstrukturen für eine selbstbestimmte Lebensführung zu schaffen, die auch auf eine Integration abzielt. In diesem Kontext machten die Betroffenen durch spektakuläre, oftmals auch regelverletzende Aktionen auf ihre Anliegen aufmerksam. Ihren Höhepunkt erreichte die Bewegung dann im Jahr 1981, dem offiziellen UNO-Jahr der Behinderten. Kritisiert wurde, dass derartige Veranstaltungen keinen Sinn hätten, da die Betroffenen außen vor geblieben sein und somit lediglich selbst ernannte ExpertInnen Festtagsreden hielten. Als Reaktion wurde zum einen während der offiziellen Eröffnungsveranstaltung die Bühne besetzt und zum anderen wurde ein „Krüppel- Tribunal“ zum Thema „Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat“ als Gegenveranstaltung abgehalten (vgl. STEINER 2004, S. 55). Infolgedessen wurden dann die ersten Vereine von aktiven Mitgliedern aus der Körperbehindertenbewegung gegründet, die den Aufbau von ambulanten Wohnformen vorantrieben und sich als Alternative zum traditionellen System der Behindertenfürsorge ansahen. So ist in diesem Kontext etwa die Vereinigung Integrationsförderung München e.V. (VIF e.V.) zu nennen, die bereits im Jahr 1978 gegründet wurde oder aber auch der Verein zur Förderung der Integration Behinderter e.V. Marburg (FIB e.V.) von 1982 (vgl. ROHRMANN 1999, s. 60). Des Weiteren engagierten sich die Mitglieder der Körperbehindertenbewegung in der Kommunalpolitik und setzten sich hier für eine Verbesserung der Infrastruktur ein. Als Sammelbecken fungierte hierbei oftmals die 1983 gegründete Partei Die Grünen.

Aus den skandinavischen Ländern und dem angloamerikanischen Sprachraum stammen zudem bemerkenswerte Berichte, die erläutern, dass nicht nur Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen damit begannen, öffentlich für ihre Belange und Rechte einzutreten, sondern auch Menschen, die als geistig behindert gelten. Wichtige Impulse sich im Rahmen des Self-Advocacy[12] selbst zu vertreten, kamen hierbei aus Schweden, wo Betroffene in verschiedenen Städten Freizeitclubs eröffneten, die sie selbst verwalteten und in denen bewusst auf eine Leitung verzichtet wurde. Der eigentliche Beginn der Self-Advocacy-Bewegung wird jedoch mit der Gründung der Self-Advocacy-Gruppe aus Oregon (1978) datiert. Sie gilt als erste Gruppe, die sich eineN nichtbehinderteN BeraterIn suchte, die / der die Gruppe dabei unterstützen sollte, für die Gruppe zu sprechen, ohne sie dabei jedoch zu leiten. Betont wurde in diesem Kontext, dass gute HelferInnen wichtig für die Anliegen der Self-Advocacy Gruppe seien. Als gute HelferInnen gelten dabei solche, die sich stets bewusst sind, dass sie die Anliegen der Gruppe und nicht ihre eigenen vertreten. Ferner sollen sie die Gruppe unterstützen und nicht versuchen sie zu manipulieren. Daher sollen sie auch Fehler zulassen, da die Gruppe nur so Verantwortung übernehmen kann, wodurch sie schließlich auch wächst. In Anlehnung an THEUNISSEN (2007) lässt sich zwischen vier verschiedenen Organisationsformen von Selbstvertretungsgruppen unterscheiden:

1. Gruppen, die in Wohneinrichtungen, Tagestätten, Werkstätten etc. aktiv sind (institutionsintegriertes Modell)
2. Gruppen, die einer Vereinigung oder Organisation angegliedert sind (Unterabteilungsmodell)
3. Gruppen, die unabhängig von Verbänden, Organisationen, Einrichtungen oder Institutionen agieren (autonomes Modell) und
4. Gruppen, die mit anderen Gruppen (z.B. mit denjenigen, die aus der Körperbehindertenbewegung entstanden sind) kooperieren (Koalitionsmodell) (vgl. ebd., S. 104f.).

In den skandinavischen Ländern und im angloamerikanischen Sprachraum gibt es inzwischen eine Vielzahl von aktiven Mitgliedern, die in Self-Advocacy-Gruppen organisiert sind. So waren etwa allein in den USA im Jahr 1996 ca. 17.000 Menschen in 743 Selbstvertretungsgruppen organisiert. In der BRD befindet sich hingegen ein flächendeckendes Netz von Self-Advocacy-Gruppen noch im Aufbau. Innerhalb des Netzwerks People First Deutschland e.V. sind derzeit 21 Self-Advocacy-Gruppen organisiert (vgl. People First Deutschland 2008).

Es zeigt sich, dass die Forderung nach Selbstbestimmung und Integration maßgeblich eine Forderung der Betroffenen selbst ist und sie den entscheidenden Anstoß zum Umdenken gaben. Der Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung beginnt nun, „ein ganzes Hilfesystem umzukrempeln und (…) am Selbstverständnis der professionellen Helfer“ (HÄHNER 2006a, S. 35) zu rütteln. Die professionelle Orientierung muss sich demnach an einer „Entpädagogisierung“ orientieren. Die methodische Ausrichtung soll sich am Empowerment, der dialogischen Begleitung und Erwachsenenbildung orientieren. Das Hilfssystem soll zugunsten integrativer Einrichtungen und offener Hilfen umgebaut werden. Das Ziel besteht darin, Integration und Selbstbestimmung zu ermöglichen (vgl. ebd., S. 45).

In der fachwissenschaftlichen Diskussion der Geistigbehindertenpädagogik fand der Begriff der Selbstbestimmung erst Anfang / Mitte der 1990er Jahre breiteren Eingang und bestimmt seitdem die Diskussion (vgl. KLAUß 2007, S. 4). Im Jahr 1994 wurde dann von der Bundesvereinigung der Lebenshilfe ein Kongress zum Thema „Ich weiß doch selbst, was ich will ...“ abgehalten, dessen Dokumentation 1996 erschien (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V. 1996). Verabschiedet wurde auf diesem Kongress die Duisburger Erklärung, die von einem Komitee von Menschen mit so genannter geistiger Behinderung ausgearbeitet und von den TeilnehmerInnen des Kongresses per Akklamation angenommen wurde. Formuliert ist in dieser Erklärung explizit die Forderung nach mehr Selbstbestimmung und Mitsprachemöglichkeiten in allen relevanten Lebensbereichen. Konkret heißt es in der Duisburger Erklärung:

„Wir möchten mehr als bisher unser Leben selbst bestimmen. Dazu brauchen wir andere Menschen. Wir wollen aber nicht nur sagen, was andere tun sollen. Auch wir können was tun! (…) Selbst zu bestimmen heißt, auszuwählen und Entscheidungen zu treffen: (…) Wir möchten die Wahl haben, wo und wie wir wohnen: mit den Eltern, zu zweit oder mit Freunden, im Wohnheim, in einer Außenwohngruppe oder Wohngemeinschaft. Es soll auch betreutes Wohnen geben. (…) Wir wollen überall dabei sein! (…) Wir können mehr als uns zugetraut wird (PROGRAMMKOMITEE BEHINDERTER MENSCHEN 1996, S. 10f.).“

4. Selbstbestimmung als Leitbild in der Arbeit mit Menschen, die als (geistig) behindert bezeichnet werden

Nachdem zuvor dargestellt wurde, dass das primäre Ziel der Behindertenarbeit darin bestehen muss, auch Menschen, die als geistig behindert gelten, eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen, werde ich in diesem Kapitel explizit herausarbeiten, wodurch sich der Begriff der Selbstbestimmung kennzeichnet. Hierzu werde ich zunächst näher auf den Begriff der Selbstbestimmung eingehen. Ich werde den Begriff in Abgrenzung zur Fremdebestimmung und unter der besonderen Berücksichtung der Frage Selbstbestimmung gleich Selbstständigkeit definieren. Anschließend werde ich auf die rechtliche Verankerung der Selbstbestimmungsidee näher zu sprechen kommen.

Dass die Forderung nach Selbstbestimmung jedoch nicht unumstritten als anzustrebendes Ideal in der Behindertenarbeit gilt bzw. Fachleute der Meinung sind, nicht allen Menschen, die als behindert bezeichnet werden, eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen zu können, werde ich in dem darauf folgenden Unterkapitel verdeutlichen. Hier werde ich zum einen auf die Kritik an der Selbstbestimmungs-Idee in der Behindertenarbeit eingehen, sowie zum anderen auf die Positionen zur Frage nach der Selbstbestimmung bei Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden.

4.1 Der Begriff der Selbstbestimmung

Die Selbstbestimmungs-Idee setzt innerhalb der Behindertenarbeit neue Akzente. Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, wird mehr zugetraut und nicht nur in Bezug auf das Ausführen von Vorgegebenen, sondern auch und insb. darin, dass sie eigene Motive für ihr Handeln entwickeln, sich selbst Ziele setzen, die Ergebnisse ihres Handelns bewerten und Bedürfnisse ausbilden und artikulieren lernen, um hierdurch Einfluss auf ihre Lebensbedingungen nehmen zu können (vgl. KLAUß 2007, S. 5). Ein solches Vorgehen führt zwangsläufig „zu einem selbstkritischen Hinterfragen sonderpädagogischer Theorie und Praxis (RITTMEYER 2001, S. 144).“ Laut LINDMEIER (1999) geht es bei der Umsetzung der Selbstbestimmungs-Idee um eine Subjektszentrierung, bei der sich die Unterstützung und Begeleitung ausschließlich auf die vorhandenen Interessen, Bedürfnisse, Wünsche und Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffen stützen soll (vgl. ebd., S. 212). MÜHL (1997) definiert Selbstbestimmung als Gegenbegriff zur Fremdbestimmung. Fremdbestimmung meint, von einer anderen Person bestimmt bzw. überstimmt zu werden und charakterisiert die Unmöglichkeit oder Schwierigkeit, eine selbstbestimmte Lebensführung auszuüben[13]. Demnach beschreibt er den Begriff der Selbstbestimmung wie folgt:

„Selbstbestimmung (bedeutet, FL) die Möglichkeit des Individuums, Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen oder Wertvorstellungen entsprechen (ebd., S. 312).“

Bezug nehmend auf HAHNs (1981) These, die besagt, dass sich das Phänomen der so genannten Geistigen Behinderung primär durch ein Mehr an sozialer Abhängigkeit kennzeichnet, mit dem ein Mehr an Fremdbestimmung einhergeht, wird die Selbstbestimmungs-Idee als „Befreiung des beeinträchtigten Menschen aus Abhängigkeit, sozialer Kontrolle und (psychiatrischer) Definitionsmacht“ (STINKES 2000, S. 170) verstanden. Festzuhalten bleibt zunächst, dass sich Selbstbestimmung deutlich in Abgrenzung zur Fremdbestimmung definieren lässt. Doch wie unterscheiden sich Selbstbestimmung und Selbstständigkeit voneinander? Während Selbstständigkeit bedeutet, dass eine Person dazu fähig ist, eine Handlung ohne die Hilfe einer anderen Person auszuführen[14], impliziert der Begriff der Selbstbestimmung, dass eine Person eigene Motive hat, sich selber Ziele setzt, diese plant und die Ergebnisse der Handlung selbst bewertet, die Handlung jedoch nicht zwingend selbst ausführen muss (vgl. KLAUß 2007, S. 5f.). Was hiermit gemeint ist, wird beim Assistenzkonzept deutlich, bei dem der bzw. die HelferIn dem Menschen, der als behindert bezeichnet wird, quasi als verlängerten Arm fungiert. Die Anleitungskompetenz bleibt bei der betroffenen Person (vgl. WEINGÄRTNER 2006, S. 31). Es zeigt sich also, dass Selbstbestimmung und Selbstständigkeit nicht identisch sind. Jedoch ist eine selbstständige Person nicht auf Unterstützung angewiesen, um selbstbestimmt zu leben, während Selbstbestimmung bei Menschen, die als behindert gelten, lediglich möglich ist, wenn sie von den HelferInnen, von denen sie abhängig sind, ermöglicht wird. KLAUß (2007) differenziert in diesem Kontext zwischen zwei Arten der Selbstbestimmung:

„1. Bei Bedürfnissen, die unabhängig von anderen Menschen selbst befriedigt werden können, fallen Selbstbestimmung und Selbständigkeit zusammen: Ich möchte etwas und tue es selbst.
2. Bei Bedürfnissen, deren Befriedigung von anderen Menschen abhängt, bedeutet Selbstbestimmung, dass diese anderen Menschen mitgeteilt werden und diese sich darauf einlassen (ebd., S. 6).“

Die Befriedung von Bedürfnissen, bei denen eine Person von einer anderen abhängig ist, setzt zum einen voraus, dass die betroffene Person ihre Anliegen kommunizieren kann und von dem bzw. der HelferIn verstanden wird und zweitens wird die Bereitschaft und Fähigkeit der HelferInnen vorausgesetzt, auf die Wünsche der AssistenzgeberInnen einzugehen und bei der Befriedung von Bedürfnissen zu assistieren. Für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, gilt dies im verstärkten Maße, da ihnen oftmals Kommunikation ermöglicht werden muss und ihre Anliegen beachtet und ernst genommen werden müssen (vgl. ebd., S. 6). Wenn es um die Ermöglichung von Selbstbestimmung geht, muss es demnach zentrale Aufgabe der Pädagogik sein, Kommunikation zu fördern und zu ermöglichen. Umso mehr gilt dies, je abhängiger die Betroffenen von Unterstützung sind. Benötigt werden hierzu HelferInnen, die ihnen Wünsche und Bedürfnisse zutrauen, bereit sind, ihre Äußerungen zu hören, gelernt haben, diese zu verstehen und dazu fähig sind, darüber hinaus zu kommunizieren und Zeit haben und motiviert sind, auf die Wünsche und Lebensvorstellungen einzugehen (vgl. ebd. S. 24).

4.2 Rechtliche Grundlagen

Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die im Jahr 1948 von der UN- Generalversammlung verabschiedet wurde, beinhaltet zentrale Rechte, die für alle Menschen gelten. Der Art. 1 impliziert das Recht auf Selbstbestimmung, welches für alle Menschen gleichermaßen gilt. Laut Art. 3 hat jede Person darüber hinaus das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Art. 21 beinhaltet das Recht auf Teilhabe und Art. 25 das Recht auf einen Lebensstandard, der notwendige soziale Hilfsleistungen gewährt (vgl. UN 2008a, S. 2ff.). Darüber hinaus wurde im Dezember des Jahres 2006 eine spezielle Konvention bzgl. der Situation von Menschen, die als (geistig) behindert gelten, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Die BRD unterzeichnete diese Konvention im März 2007. Der Art. 1 dieser Konvention beinhaltet deren Zweck. Die Konvention fordert einen Paradigmenwechsel von einer Fürsorgepolitik hin zur Menschenrechtsorientierung. Sie enthält keine Sonderregelungen, sondern lediglich den allgemeinen „Menschenrechtsschutz für die besonderen Gefährdungen, denen behinderte Menschen ausgesetzt sind (GRAUMANN 2008, S. 1).“ In Art. 3 der UN-Konvention werden acht grundlegende Prinzipien formuliert: erstens die Achtung der Würde des Menschen inkl. seiner Autonomie, zweitens die Nichtdiskriminierung, drittens die vollständige Teilhabe und Einbeziehung in die Gesellschaft, viertens die Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit so genannter (geistiger) Behinderung und dessen Anerkennung als Teil der menschlichen Vielfalt, fünftens die Chancengleichheit, sechstens die Zugänglichkeit, siebents die Gleichheit von Mann und Frau und achtens die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit so genannter (geistiger) Behinderung (vgl. UN 2008b, S. 5). Art. 12 und Art. 13 umfassen das Recht auf gleiche Annerkennung als rechtsfähige Person und die Notwendigkeit von unterstützender Assistenz. Für die Punkte Selbstbestimmung und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe „ist das Recht auf einen "angemessenen Lebensstandard" (Art. 28) wesentlich, das damit deutlich über das "soziokulturelle Minimum" im deutschen Sozialrecht hinausgeht (GRAUMANN 2008, S.1).“ Hierzu gehört ferner die Beseitigung von allen Barrieren, welche den gleichberechtigten Zugang „zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation (…) sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen“ (Art. 9) behindern.

In der BRD sind laut dem Grundgesetz (GG) Menschen mit so genannter geistiger Behinderung BürgerInnen der Gesellschaft, für die alle Grundrechte und die darin enthaltenen BürgerInnenrechte uneingeschränkt gelten. Unterstrichen wurde dies durch die Reformierung des Grundgesetzes 1994, bei der als Ergänzung zum Artikel 3 der Zusatz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ (Art. 3, Abs. 3, GG) aufgenommen wurde. Im Jahr 2002 wurde darüber hinaus das „Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen“ (BGG) verabschiedet, welches von vielen Behindertenverbänden eingefordert wurde.

„Ziel dieses Gesetzes ist es, die Benachteiligung von behinderten Menschen zu beseitigen und zu verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten

Menschen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen (BGG, § 1).“

Die Würde des Menschen mit so genannter geistiger Behinderung war zwar zuvor schon durch das GG gewahrt, jedoch war Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe (bspw. bei dem Aspekt der Barrierefreiheit) bis dato nicht einklagbar. So verblieben die im GG enthaltenen Wertvorstellungen zunächst Postulate (vgl. BERNS 2002, S. 52). Im SGB befasst sich das neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“, das zum 01. Juli 2001 in Kraft trat, mit der Lebenssituation von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden. Selbstbestimmung und Teilhabe nehmen hierbei einen zentralen Platz ein. So steht im Kapitel 1, § 1 des SGB IX:

„Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen.“

Bezug nehmend auf den Art. 25, Abs. 1 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UN[15] kommt BRILL (1991) zu dem Schluss, dass jeder Mensch das Anrecht auf eine eigene Wohnung hat. Er definiert Wohnung klar in Abgrenzung zu dem Begriff der Unterkunft, den er mit Heimen oder Landeskrankenhäusern assoziiert. Er schreibt ferner „Ein Bett ist keine Wohnung“ (S. 101) und fordert, dass alle Menschen, unabhängig davon, wie hoch ihr Unterstützungsbedarf ist, ein Anrecht auf eine eigene Wohnung und deren Einrichtungsgestaltung sowie den Anspruch auf die Schutzfunktionen einer Wohnung haben. Damit einher geht schließlich auch mehr Selbstständigkeit, so BRILL weiter (vgl. S. 102).

[...]


[1] In der Literatur findet sich eine Vielzahl von verschiedenen sozialen Erklärungsmodellen. Da diese jedoch nur in Detailfragen Unterschiede aufweisen, jedoch über viele Gemeinsamkeit verfügen, fasse ich diese zusammen, wenn ich im Folgenden vom sozialen Erklärungsmodell von Behinderung spreche

[2] Zu nennen ist in diesem Kontext etwa das Bsp. des Analphabetismus. Der Analphabetismus ist weltweit sehr stark verbreitet und wird in vielen Staaten als normaler Zustand akzeptiert. In den Industriestaaten hingegen wird das Nicht-Schreiben und Nicht-Lesen-Können als Lernbehinderung definiert

[3] Für eine graphische Abbildung des Modells vgl. Abb. 1 „Behinderungsverständnis der WHO von 1980“ im Anhang

[4] ICIDH-2 (International Classification of Impairments, Activities and Participation: A Manual of Dimensions and Functioning)

[5] International Classification of Functioning, Disability and Health

[6] International Klassifikation der Krankheiten (10. Revision)

[7] vgl. auch Abb. 2 „Das bio-psycho-soziale Modell der ICF“ im Anhang

[8] Da es sich bei dem Begriff der „geistigen Behinderung“ um einen stigmatisierenden Begriff handelt, fordert der Verein People First Deutschland e.V. (bundesweite Selbstvertretungsgruppe von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, mit Hauptsitz in Kassel) die Ersetzung des Begriffes durch den Terminus Lernschwierigkeiten (für ausführlichere Informationen vgl. STRÖBL 2006, S. 43)

[9] z.B. Behinderung beim Sehen > Sehbehinderung

[10] leichte geistige Behinderung (IQ-Bereich 50 - 69), mittelgradige geistige Behinderung (IQ-Bereich 35 - 49), schwere geistige Behinderung (IQ-Bereich 20 - 34), schwerste geistige Behinderung (IQ > 20)

[11] Daher die Tarnbezeichnung „Aktion T4“

[12] „Advocacy heißt aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt: Anwaltschaft, das Sprechen oder das Vertreten von jemanden. Self-Advocacy kann mit »für sich selbst sprechen«, sowohl als Einzelperson als auch in Gruppen, übersetzt werden. Self-Advocacy bedeutet mehr Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Jede Aktion, die Selbstbestimmung / Selbstvertretung einschließt, kann Self-Advocacy genannt werden (KNUST-POTTER 1997, S. 519).“

[13] THEUNISSEN (2007) zählt auf, wodurch u.a. Fremdbestimmung, gerade in der Arbeit mit Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ausgelöst wird. Er nennt Infantilisierung, Überverhütung, Überversorgung, ständige Kontrolle und Reglementierung sowie die Ignoranz individueller Wünsche und Interessen (vgl. THEUNISSEN 2007, S. 39)

[14] Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Zielsetzung und / oder die Bewertung der Handlung nicht bei einer anderen Person liegen kann!

[15] „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände (UN 2008, S. 7).“

Ende der Leseprobe aus 116 Seiten

Details

Titel
Förderung der Selbstbestimmung in der Alltagsbegleitung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Autor
Jahr
2009
Seiten
116
Katalognummer
V125405
ISBN (eBook)
9783640309191
ISBN (Buch)
9783640307241
Dateigröße
1365 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Förderung, Selbstbestimmung, Alltagsbegleitung, geistige Behinderung, Empowerment, Wohnheimalltag, Community Living
Arbeit zitieren
Fabian Lerbs (Autor:in), 2009, Förderung der Selbstbestimmung in der Alltagsbegleitung von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125405

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