„Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab" (Alexandre Rudolphe Vinet). Die Erfüllung der Funktion, die diese Aussage eines schweizerischen Theologen und Literaturhistorikers der Familie unterstellt, wird heute angesichts von ansteigenden Scheidungszahlen, immer mehr Ein-Elternfamilien und vermehrter Erwerbstätigkeit beider Elternteile in Folge von Differenzierungs- und Pluralisierungstendenzen zunehmend hinterfragt. Wie unter anderem der Sozialarbeiter und Soziologe Martin Hafen (2003, S.6) anführt, werden gewisse offenkundig erkennbare Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen wie „übermäßiger Medienkonsum", „Herumlungern" und „Respektlosigkeit gegenüber Erwachsenen" in Verbindung mit noch problematischer wahrgenommenen Erscheinungen, wie Sucht und Gewalt, in Beziehung zum oben genannten Wandel der familiären Situation gebracht. Als Folge der veränderten familiären Betreuungssituation sucht die Öffentlichkeit nach „funktionalen Ersatzäquivalenten, also nach Ersatzangeboten für die Familie als Sozialisations- und Erziehungsinstitution". Diese scheint das Erziehungssystem angesichts der allgemeinen Schulpflicht und der großen Zeitspanne, die Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen, zu offerieren. Die vorliegende Arbeit soll dazu dienen, diese Vermutungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Im Verlauf der vorliegenden Analyse sollen unter anderem folgende Fragen beantwortet werden:
- Muss Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz für die Familie dienen? Wie hat sich Familie im Laufe der Zeit verändert und welche Folgen hatten diese Veränderungen? Inwiefern ist sie auf Hilfe angewiesen?
- Kann Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz für die Familie dienen? Wie ist das Erziehungssystem entstanden? Welche Erwartungen werden an das System Schule gestellt, und gelingt es ihm, diese zu erfüllen?
- Welche Rolle kann die Soziale Arbeit übernehmen? Inwiefern kann sie Familie und Schule unterstützen? Welche Kriterien müssen beachtet werden, damit dies erfolgreich geschieht?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Sozialisation, Erziehung, Selektion - eine Begriffsbestimmung nach Luhmann mit Ergänzungen durch Hurrelmann
2.1 Grundlegende „gesellschaftstheoretische Annahmen"
2.2 Der Sozialisationsbegriff
2.3 Der Erziehungsbegriff
2.3.1 Funktion von Erziehung
2.3.2 Zum Verhältnis zwischen Erziehung und Wissen
2.4 Der Selektionsbegriff
2.5 Zum Verhältnis zwischen Selektion und Erziehung
2.6 Vorläufige Zusammenfassung und Abgrenzung zur Theorie Hurrelmanns
3. Die Aus differenzierung des Gesellschaftssystems
3.1 Segmentäre Differenzierung
3.2 Stratifikatorische Differenzierung
3.3 Funktionale Differenzierung
3.4 Die Aus differenzierung des Erziehungssystems
4. Die Funktion der Familie im Wandel der Zeit
4.1 Der Begriff der Familie und ihre Formen
4.2 Funktion und Aufgabenbereich der Familie
4.2.1 Aus makrosoziologischer Perspektive
4.2.2 Aus mikrosoziologischer Perspektive
4.3 Gesellschaftliche Veränderungen im Bereich der Familie
4.4 Auswirkungen der Veränderungen auf die Be deutung der Familie als Sozialisationsinstanz
4.5 Zusammenfassung zum Wandel der Familie
5. Schule als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz
5.1 Zur Entstehung
5.2 Funktion und Funktionieren aus makrosoziologischer Perspektive
5.3 Die Wirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen
5.4 Zur Beziehung zu anderen Funktionssystemen mit besonderer Ber:cksichtigung des Verhältnisses zum System Familie
5.5 Problemlagen der heutigen Schule
5.6 Zusammenfassung zur Schule als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz
6. Die Rolle der Sozialen Arbeit f:r das Erziehungssystem
6.1 Soziale Arbeit als soziales System
6.2 Zur Zusammenarbeit von Sozialer Arbeit und Schulpädagogik - eine Chronologie
6.3 Voraussetzungen f:r und Arbeitsfelder von gelingender Schulsozialarbeit
6.4 Andere Angebote der Sozialen Arbeit und ihre Be deutung f:r Schule und Familie als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz
7. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
„Das Schicksal des Staates hangt vom Zustand der Familie ab" (Alexandre Rodol phe Vinet). Die Erfullung der Funktion, die diese Aussage eines schwei-zerischen Theologen und Literaturhistorikers der Familie unterstellt, wird heute angesichts von ansteigenden Scheidungszahlen, immer mehr Ein-El-ternfamilien und vermehrter Erwerbstatigkeit beider Elternteile in Folge von Differenzierungs- und Pluralisierungstendenzen zunehmend hinterfragt. Wie unter anderem der Sozialarbeiter und Soziologe Martin Hafen (2003, S.6) an-fuhrt, werden gewisse offenkundig erkennbare Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen wie „ubermalliger Medienkonsum", „Herumlungern" und „Res pektlosigkeit gegenuber Erwachsenen" in Verbindung mit noch proble-matischer wahrgenommenen Erscheinungen, wie Sucht und Gewalt, in Be-ziehung zum oben genannten Wandel der familiaren Situation gebracht. Als Folge der veranderten familiaren Betreuungssituation sucht die Offentlichkeit nach „funktionalen Ersatzaquivalenten, also nach Ersatzangeboten fur die Familie als Sozialisations- und Erziehungsinstitution". Diese scheint das Er-ziehungssystem angesichts der allgemeinen Schul pflicht und der grollen Zeits panne, die Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen, zu offerie-ren. Die vorliegende Arbeit soll dazu dienen, diese Vermutungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu untersuchen. Im Verlauf der vorliegenden Analyse sollen unter anderem folgende Fragen beantwortet werden:
— Muss Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz fur die Familie dienen? Wie hat sich Familie im Laufe der Zeit verandert und welche Folgen hatten diese Veranderungen? Inwiefern ist sie auf Hilfe ange-wiesen?
— Kann Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz fur die Familie dienen? Wie ist das Erziehungssystem entstanden? Welche Erwartun-gen werden an das System Schule gestellt, und gelingt es ihm, diese zu erfullen?
— Welche Rolle kann die Soziale Arbeit ubernehmen? Inwiefern kann sie Familie und Schule unterstutzen? Welche Kriterien mussen beachtet werden, damit dies erfolgreich geschieht?
Stutzen wird sich diese Arbeit dabei in erster Linie auf die systemische Theo-rie, wie sie vor allen Dingen von Niklas Luhmann vertreten wird. Diese soll den theoretischen Rahmen fur die weiteren Ausfuhrungen bilden.
Dements prechend beginnt die vorliegende Abhandlung mit einer Erläuterung der Begriffe Erziehung, Sozialisation und Selektion nach Luhmann. Nach ei-nem Uberblick uber die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems, die mallgeblich zur Entstehung von Schule und Sozialer Arbeit beigetragen hat, wird auf den Wandel der Institution Familie und seine Folgen eingegangen. Daraufhin folgen einige Erläuterungen uber die Schule als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz sowie deren Verhältnis zur Familie. Abschliellend wird die daraus resultierende Bedeutung der Sozialen Arbeit fur Familie und Schule behandelt.
2. Sozialisation, Erziehung, Selektion — eine Begriffsbestimmung nach Luhmann mit Erg änzungen durch Hurrelmann
Um bestimmen zu können, ob Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz f&r die Familie fungieren kann und muss, ist es zunächst wichtig zu erläutern, was unter den oben genannten Begriffen zu verstehen ist. Dies soll im Folgenden geschehen. Grundlage f&r die Definition von Erziehung und Sozialisation stellen die Aufzeichnungen Niklas Luhmanns zum Erziehungssystem der Gesellschaft dar. Des Weiteren wird auch näher auf den Begriff der Selektion eingegangen, da dieser f&r das Erziehungssystem eine wesentliche Rolle s pielt. Am Ende dieses Ka pitels soll, um Einseitigkeit zu vermeiden, zudem noch ein Vergleich mit der Sozialisationstheorie Hurrelmanns gezogen werden.
2.1 Grundlegende „gesellschaftstheoretische Annahmen"
Luhmann baut seine Untersuchungen zu Erziehung und Sozialisation auf ei-ner „Theorie der Gesellschaft" auf. Die seiner Analyse zugrunde liegenden „gesellschaftstheoretische(n) Annahmen" stellt er zu Beginn in Form von Thesen dar, ohne sie naher zu erlautern. Um ein besseres Verstandnis von Luhmanns Vorstellung von Sozialisation und Erziehung zu erhalten, soll dies auch im Folgenden geschehen.
Luhmanns Thesen besagen, dass
1. die Gesellschaft ein soziales System ist, welches „alle sozialen O pera-
tionen einschliellt und andere ausschliellt". Es ist auf der Ebene seiner s pezifischen O perationen „o perativ geschlossen", was bedeutet, dass es „eigene O perationen ausschlielllich im Netzwerk und durch das Netzwerk eigener O perationen", also durch die eigenen Elemente, re produziert und sich dadurch von einer „nicht dazugehörigen Umwelt" abgrenzt (Luhmann 2002, S. 13).1 Es ist in diesem Sinn autonom. Die Umwelt kann jedoch irritierend auf das System einwirken (Löw 2003, S. 54).2
2. es sich bei den oben genannten O perationen, die das „Sozialsystem Gesellschaft" re produziert, also aus eigenen Produkten produziert, um Kommunikationen handelt (Luhmann 2002, S. 13). Urheber von Kom-munikation ist dements prechend nicht der Mensch, sondern das so-ziale System (vgl. Low 2003, S. 54).
3. das System der modernen Gesellschaft durch „funktionale Differenzie-rung" gekennzeichnet ist. Das bedeutet im luhmannschen Sinne, dass es seine „ primären (...) Subsysteme" durch „Bezug auf s pezifische Funktionen"erzeugt.3
4. das Erziehungssystem eines dieser Funktionssysteme ist. Es „o periert
in einer innergesellschaftlichen Umwelt", was zur Folge hat, dass Funktionen wie die Beschaffung von Einkommen, Offentlichkeitsarbeit und das Erstellen von Studien hau ptsächlich von anderen, sich in der Umwelt befindlichen Funktionssystemen (zum Beis piel von Wissen-schaft und Wirtschaft), übernommen werden. Dadurch wird das Erzie-hungssystem entlastet. Damit dies Erfolg hat, müssen sich pädagogi-sche Kommunikationen in das „rekursive Netzwerk anderer Funktions-systeme" einfügen (a.a. 0, S. 14). Das bedeutet, dass sie eine über „andere Elemente laufende Rückbeziehung auf sich selbst" ermogli-chen, zum Beis piel eine über „die Erwartung anderen Handelns lau-fende Handlungsbestimmung" (Luhmann 1984 in Hillmann 2007, S. 786).4 Im konkreten Fall kann das zum Beis piel bedeuten, dass das Erziehungssystem die notigen Kom petenzen für Arbeit im Wirtschafts-system vermitteln muss, damit dieses weiterhin die notigen finanziel-len Mittel für das Erziehungssystem bereitstellt (vgl. Hafen 2003, S. 2, 3).
5. die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme ihre eigenen Operationen beobachten und somit selbstreferent sind. Sie können Beziehungen zu sich selbst herstellen und diese von den Beziehungen zu ihrer Um-welt abgrenzen. Ihre Operationen sind damit „durch die Unterschei-dung von Selbstreferenz und Fremdreferenz bestimmt". Zwischen die-sen beiden Referenzen pendeln sie hin und her, wobei sie jeweils die Aufmerksamkeit auf eine richten können, jedoch nur mit der Möglich-keit im Hintergrund zur anderen überzugehen (Luhmann 2002, S. 14; vgl. Luhmann 1984 in Hillmann 2007, S. 786) .
6. das System für sich selbst „intrans parent" ist und in einem „Raum selbst erzeugter Ungewissheit" o periert. Die allgegenwärtig vorhan-dene Ungewissheit „zumeist markiert als Zukunft" entsteht durch das System selbst, und zwar durch die Verknü pfung von o perativer Schlie-llung und Selbstreferenz, die zu einen unermesslichen und für das System unkalkulierbaren „Uberschuss an Möglichkeiten für weitere O perationen" führt. Die Ungewissheit wird dements prechend nicht durch „unbekannte Faktoren" der Umwelt ausgelöst (vgl. Luhmann 2002, S.14).
7. das System auf den „Uberschuss an Möglichkeiten sinnvoller Erzie-hung (...) mit Selbstorganisation auf o perativer und semantischer Ebene" reagiert. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer grollen Anzahl „verschiedenartiger Erziehungs- und Unterrichtssituationen"(ebd.).5
8. das Gesellschaftssystem und die sich daraus entwickelten Subsys-teme diese „selbsterzeugte Ungewissheit in der Form des Mediums Sinn" darstellen. Das Medium Sinn wird dabei nur an charakteristi-schen Formen greifbar, die ihrerseits mit einem Uberschuss an Ver-weisungen auf andere mögliche Sinnformen ausgestattet sind und nur so identifiziert werden können"(Luhmann 2002, S.15). Unter Form ver-steht Luhmann (1997, S. 198) die "Markierung einer Unterscheidung". Der permanente Austausch der jeweilig „aktualisierten Sinnformen" re-produziert zugleich den Informationsträger Sinn so, dass „weitere O perationen nur als Formbildungen in diesem Medium möglich sind".6
2.2 Der Sozialisationsbegriff
Luhmann distanziert sich in seinen Uberlegungen zur Sozialisation vom bis dahin oft verwandten Transmissionsgedanken, der die „Ubertragung von Kul-turgut von einer Generation auf die nächste" beschreibt (Luhmann 2002, S. 48).7 In seiner Analyse und Beschreibung der Sozialisation beschäftigen ihn vor allem zwei Begriffe: die operative Schliellung und die strukturelle Ko pp-lung.8 Er geht davon aus, dass „o perativ geschlossene psychische Systeme auf die strukturelle Ko pplung mit dem Gesellschaftssystem" mit einem „structural drift" reagieren. Dieser „structural drift" beeinflusst die psychische Selbs-terhaltungstendenz insofern, als dass er das System dazu bringt „Strukturen zu wählen, mit denen [es; Anmerk. d. Verf.] in der Gesellschaft zurecht-kommt", ohne dass ein o perativer Kontakt mit dem System Gesellschaft statt-gefunden hätte (Luhmann 2002, S. 52, vgl. a.a.O., S. 24)9. Beis piele für diese Strukturen sind „Automatismen", also Handlungen, die ohne bewusste wil-lentliche Steuerung ablaufen und offen für andere situationsbedingte Ein-flüsse machen, sowie Neurosen und andere Mechanismen, die triebgesteu-erte Wünsche in anerkannte geistige Leistungen oder kulturelle Handlungs-weisen umwandeln. Diesen Vorgang bezeichnet Luhmann als Sozialisation. Es ist ein Prozess, der in allem sozialen Verhalten mitläuft und sich nicht ver-hindern lässt: „Jeder Versuch, sie einzuschränken, würde wiederum soziali-sierend wirken" (a.a.O., S. 52,53). Die Erklärungen zur o perativen Schlie-flung und strukturellen Ko pplung zeigen zudem, dass es sich stets um „Selbstsozialisation" handelt, da das System stets mit einer Veränderung seiner eigenen Struktur auf etwas reagiert und keinerlei Import anderer Struktu-ren, wie etwa von Kulturgut, erfolgt (vgl. Luhmann 2002, S. 52).
2.3 Der Erziehungsbegriff
Erziehung dient, nach Luhmann, dazu, „das zu ergänzen oder zu korrigieren, was als Resultat von Sozialisation zu erwarten ist" (a.a.O., S. 54). Im Gegen-satz zur Sozialisation, die über Handlung und Nachahmung laufen kann und „natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten" vermittelt, legt Erziehung dar, was sie erreichen möchte. Wie er sagt, kann der Begriff der Erziehung nicht inhaltlich definiert werden, zum Beis piel durch die Angabe bestimmter Ziele oder des Lernstoffes (vgl. a.a. O., S. 53). Je-doch können „alle Kommunikationen, die in der Absicht des Erziehers in In-teraktionen aktualisiert werden", als Erziehung bezeichnet werden (a.a.O., S. 54).
Erziehung, als gesellschaftlicher Prozess, lässt sich somit durch zwei Merk-male von Sozialisation abgrenzen:
1. Sie ist auf Kommunikation angewiesen und
2. es muss die Absicht zu erziehen vorhanden sein.
Erziehung ist somit ein „Vorgang der Differenzierung, der sich durch Bezug-nahme auf eine Absicht kenntlich macht" (ebd.). Damit eine „Absicht" zuge-schrieben werden kann, milssen nach Luhmann folgende „strukturelle Im pli-kate" oder Bedingungen erfilllt sein:
1. Es muss eine Rollenasymmetrie vorhanden sein, die sich nicht um-kehren lasst. Es muss von vornherein bestimmt sein, wer die Absicht zu erziehen hat und wer nicht. Luhmann filhrt hier als Beis piel an, dass der Zögling sich zwar der Erziehung entziehen kann, jedoch nie selbst die Rolle des Erziehers annehmen wird. Um dies zu erreichen ist Erziehung auf die Anerkennung durch die Gesellschaft angewiesen (vgl. Luhmann 2002, S. 55).
2. Die Absicht muss gut sein, das heillt, die Erziehungsziele milssen als gut und die Lern programme als niltzlich erkennbar sein.
3. Die Kommunikation muss in „einem System der Interaktion unter An-wesenden" stattfinden. Nur dann kann sie nach Luhmann als Erzie-hung bezeichnet werden. Diese Interaktion ist einerseits dann gege-ben, wenn sich der Lehrer oder die Lehrerin an die ganze Klasse wen-det, andererseits aber auch, wenn er sich unter der Anwesenheit der Anderen mit einem s peziellen Schiller beschaftigt. Wie Luhmann zeigt, sichert die Situation des „Wahrnehmen[s] des Wahrgenommen-werdens" einen Zustand des sozialen Verhaltens, der es ermöglicht, „die ex plizite Kommunikation auf den Unterricht zu konzentrieren" (a.a.O., S. 56).
Die „Absicht zu erziehen" stellt somit ein Symbol filr die „Einheit des Erzie-hungssystems" dar. Diese ist jedoch, wie Luhmann deutlich macht, weder im System selbst noch in der Umwelt des Systems zu finden, sondern wird als Disposition - als Anlage oder innere Einstellung - des Erziehers beschrieben. Sie ist vor allem an den Taten des Erziehers erkennbar, mit denen er ver-sucht, „Wissen und Können an jemanden zu vermitteln, der darilber noch nicht verfilgt" (a.a.O, S. 58,59).
2.3.1 Funktion von Erziehung
Wie Luhmann zeigt, ist „die Funktion der Erziehung auf das Personwerden von Menschen zu beziehen" (Luhmann 2002, S. 38) Sie ist in kom plexen Ge-sellschaften deshalb von groller Bedeutung, da sie die Möglichkeit vergrö-llert, sich vorzustellen, „was in den Kö pfen anderer" vorgeht. Dabei geht es nicht darum, andere Menschen zu durchschauen, sondern um die Möglich-keit „Vorstelllungen zu bilden, auf die man sich bei der Wahl des eigenen Verhaltens stiltzen kann und dies auch, wenn man den anderen nicht oder nicht gut genug kennt" (a.a.O., S. 81). Luhmann geht davon aus, dass sich soziale Interaktion auf eine laufende Deutung des bereits erkennbaren Ver-haltens stiltzt, auf „retros pektive", also rilckwirkende Sinngebung.10 Da kein
Konsens im Sinne einer Ubereinstimmung der Bewusstseinszustände zu er-warten ist, ist ein Rahmen wichtig, indem die soziale Interaktion ablaufen kann und der weitere Interaktion und einen scheinbaren „ges pielten Kon-sens" ermoglicht. Erziehung oder weitergehend Bildung führt dazu, dass dies auch in „nichtstandardisierten Situationen" moglich wird, und trägt somit zur Selbsterhaltung des sozialen Systems bei (a.a.0., S. 81).
2.3.2 Zum Verh altnis zwischen Erziehung und Wissen
Wie Luhmann (2002, S. 97) zeigt, produziert Erziehung Wissen. Unter Wis-sen versteht er dabei im Allgemeinen „ein sozial validiertes Verhältnis von Or-ganismus bzw. psychischem System und Umwelt" oder, anders gesagt, die Uberprüfung bestimmter Thesen auf ihre Gültigkeit und Anwendbarkeit, die nur im kulturellen Zusammenhang geschehen kann. Wissen kann nicht ledig-lich durch die Ubereinstimmung eines Konze ptes mit der Realität begründet werden, sondern muss sich im alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang bewahrheiten.
Die soziale Validierung des Wissens erfolgt nach Luhmann in erster Linie durch die Massenmedien und das Wissenschaftssystem, aber auch durch die Erziehung in Elternhaus und Schule (a.a.O., S. 98).
Im Erziehungssystem wird Wissen - „ungeachtet der Notwendigkeit sozialer Validierung" - vor allen Dingen auf Individuen bezogen. Es herrscht die Prä-misse vor, dass Wissen in das psychische System hineingebracht werden könne, beziehungsweise schon darin vorhanden sei. Die Bedingung für Wis-sen ist somit das Gedächtnis. Man weill, dass man etwas kann oder dass ei-nem etwas bekannt ist und denkt im Normalfall nicht darüber nach, dass man es weill. Es findet lediglich Reflexion statt, wenn Zweifel am „Realitätsbezug des Wissens" auftreten.
Das erlangte Wissen ermoglicht es dem Individuum, „Informationen zu erzeu-gen und zu verarbeiten" und „Variationen, Neuheiten und Uberraschungen" durch den Vergleich mit den bereits bekannten Informationen zu erkennen. Zudem gibt es Sicherheit, da es auch die wiederholte Verwendbarkeit, also Redundanz, ermoglicht.. Es erweitert den „Aktionsradius" von Individuen, in-dem es sie in die Lage versetzt, sich anhand des bereits erworbenen Wis-sens schnell auf unbekannte Situationen einzustellen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Erziehung in diesem Sinne die Absicht verfolgt, Redundanz und Varietät zu steigern. Sie ermoglicht „den Zugang zu einer Ges prächskultur, an der man teilnehmen kann, ohne hilflos zu wirken". So kann zum Beis piel auch Nichtwissen, durch die Art der Fragen, die man stellt, als Bildung präsentiert werden (a.a.O., S. 99,100).
Wissen ist jedoch nicht statisch, wie Luhmann zeigt. Es erneuert sich selbst, indem es regelt, welches Wissen ges peichert und in verschiedenen Situatio-nen wieder aufgerufen werden kann und welche Merkmale unwichtig sind be-ziehungsweise sich nicht filr die Ubertragung auf allgemeine Situationen eig-nen und somit vergessen werden können. Damit das Individuum nicht im „einmal bewährten Wissen" erstarrt, ist ein „Konze pt der Selbsterziehung oder des lebenslangen Lernens" wichtig. Es ist wichtig, dass Erziehung Wis-sen bereit stellt, welches es ermöglicht „sich auf bestimmte Verhaltensanfor-derungen einzustellen mit einer ausreichenden Sicherheit; jeweils die Infor-mationen gewinnen zu können, die filr das Verhalten in bestimmten Situatio-nen sinnvoll sind (Luhmann 2002, S.101). Erziehung muss also vor allen Din-gen auch darauf vorbereiten, sich neues Wissen anzueignen und dem Men-schen das nötige Werkzeug geben, dies eigenständig zu tun.
2.4 Der Selektionsbegriff
Selektion ist nach Luhmann, ebenso wie die Erziehung, aus der guten Ab-sicht entstanden (vgl. Luhmann 2002, S. 62). Sie ist die „zwangsläufige Folge der Absicht, richtig, lebensförderlich, sozial akze ptabel zu erziehen" (a.a.O.,S. 69).
Luhmann selbst sieht Selektion als unvermeidbar an, „wenn Erziehung sich als gute Absicht vorstellt" und das anzeigt, was richtig ist. Als Argument filhrt er die Bemilhungen der Reformbewegung in den 70er Jahren an, die ver-sucht hatte, alle Vorselektion durch Herkunft und Familie auszuschalten, in-dem sie den Schillern und Schillerinnen und Schiller mehrere Chancen ein-räumte, Prilfungen zu wiederholen. Trotz besonderer Fördermallnahmen trat auch hier eine interne Selektion ein, indem sich einige als besser erwiesen als andere. Als weiteren Beleg filhrt er die Etablierung der Selektion in der Schillerkultur an. Er ist der Meinung, dass eine „Kommentierung des Lern-verhaltens und eine Bestätigung oder Korrektur" wichtig ist, um zu verdeutli-chen, „dass es ernst gemeint ist". Zudem trage die Notengebung dazu bei, dass der Lehrer oder die Lehrerin in die Verantwortung gerate, sich mit je-dem Einzelnen zu befassen und ihn zu vergleichen, was er ohne diese Be-dingung eventuell nicht täte. Gerechtigkeit wird dadurch möglich, dass es Vergleichsmöglichkeiten gibt. Zahlen bieten diese, nach Aussagen Luh-manns, am besten. Diese sollten jedoch nur auf den Klassenkontext be-schränkt bleiben, da man darilber hinausgehend eventuell nur die „Notenge-bungs praxis der Lehrer" vergleicht. Daher sollte jeder Vergleich daraufhin un-tersucht werden, wofilr er benutzt wird. Zudem ist der Ans pruch an die „Ob-jektivität" wichtig, „ein Sicheinlassen auf die Voraussetzung, dass Andere zum gleichen Urteil kommen wilrden" (vgl. Luhmann 2002, S. 62-64).
Darilber hinaus hatte gerade der Aufbau „eines Netzwerkes formalisierter Se-lektion" durch Entscheidungen ilber Versetzungen und Nichtversetzungen, Noten, Aufnahme prilfen etc. durchaus positive Resultate, wie die stärkere Abko pplung von der sozialen Schichtung zur Folge. Prilfungen können nicht mehr nur durch die Berufung auf die soziale Herkunft bestanden oder um- gangen werden. Bemilhungen um gute Zensuren - „Symbole erfolgreicher Selektion" - finden in allen Schichten statt, sind also ein klassenneutrales Mo-tiv. Dies bedeutet nach Aussagen Luhmanns jedoch nicht, dass unterschiedli-che Sozialisation in der Familie nicht weiterhin die Erfolgschancen beein-flusst, wie durch Studien bestätigt wird (a.a.O. , S. 67, 73).
2.5 Zum Verhaltnis zwischen Selektion und Erziehung
Wie oben bereits gezeigt, sieht Luhmann Selektion als unverzichtbar filr die richtige Erziehung an. Filr ihn ist es möglich, dass die Ziele die Erziehung hat, sich im Verlauf der Entwicklung als Neben produkt des Selektionswe-sens einstellen. Dieses ergänzt die Erziehung durch eine Vielzahl von Be-wertungsmöglichkeiten, die ilber den "Code vermittelbar/-nicht vermittelbar", mit dem sich die Erziehung beurteilen lässt, hinausgehen und so die Wertung von Erfolgen zulässt (Zensuren, Versetzung/ Nichtversetzung etc.). So kann festgestellt werden, ob die Vermittlung durch die Erziehung gelungen ist oder nicht (Luhmann 2002, S.72).
Selektion und Erziehung o perieren im selben System und milssen aufeinan-der Rilcksicht nehmen. Dabei laufen die beiden Prozesse jeweils auf zwei Schienen, wie Luhmann es ausdrilckt, einer „ paradoxiegefährdeten" und ei-ner „eher technischen" (a.a.O., S. 76).
Die Erziehung gilt als paradoxiegefährdet, da sie unter dem Gebiet der „Schonung und Selbstachtung des Zöglings" o periert. Dadurch kann beim Schiller leicht der Verdacht ausgelöst werden, „dass das Wohlwollen, die Freundlichkeit und die Nachsicht des Lehrers strategische Konze pte sind". Es wird unklar, auf welcher Ebene die Interaktion weiterlaufen wird: Ob der Schiller weiterhin Vertrauen in das direkt Kommunizierte setzen wird oder ob er diesem Misstrauen entgegenbringt (a.a.O., S. 75, 76) .
Die Schillerinnen und Schiller und Schiller können dieser Paradoxie jedoch entgehen, indem sie sich vollständig auf den Erwerb guter Leistungen und das Bestehen von Prilfungen konzentrieren und die Freundlichkeit der Lehr-person auger acht lassen. Da Zensuren auf Grund des Ans pruches auf Ge-rechtigkeit eine relative Konstanz aufweisen und nicht im Sinne des erziehe-risch gewilnschten abwandelbar sind, s pricht man hier von der technischen Seite. Durch dieses Zusammenwirken kann das System zwischen den bei-den Kommunikationsformen pendeln ohne vollständig die Nachteile einer der Kommunikationsarten zu vers pilren (a.a.O., S.76).
2.6 Vorlaufige Zusammenfassung und Abgrenzung zur Theorie Hurrelmanns
Wie in den obigen Abschnitten gezeigt, sieht Luhmann Sozialisation immer als „Selbstsozialisation" an. Diese erfolgt durch die strukturelle Ko pplung des psychischen Systems mit dem sozialen Systeme. Aus der Differenz dieser
Systeme entsteht die Möglichkeit und Notwendigkeit der Sozialisation. Durch diese Differenz kommt es zu einer Veränderung oder An passung der Struktu-ren des psychischen Systems, allerdings ohne dass das soziale System o pe-rativ auf das die Person einwirken würde (vgl. 2.2). Dabei ist zu beachten, dass der Mensch in seiner „Persönlichkeitsentwicklung" zwar auf das Gesell-schaftssystem angewiesen ist, jedoch niemals Teil dessen wird (vgl. Hurrel-mann 1998, S. 47). Sozialisation ist demnach nicht steuerbar. Es ist nicht di-rekt beeinflussbar, welche Reaktion/ welche Veränderung in der psychischen Struktur hervorgerufen wird.
Auch wenn Luhmann selbst nie den Begriff „Persönlichkeit" gebraucht, so lassen sich doch Ahnlichkeiten mit der Definition Hurrelmanns finden, die die-ser aus der Beschäftigung mit den verschiedensten aktuellen psychologi-schen und soziologische Theorien gewinnt. Seine Definitionen lassen sich also als eine Art Schlussfolgerung aus diesen Modellen bezeichnen und sind somit für einen Vergleich äullerst passend. Hurrelmann sieht Sozialisation als „ produktive Verarbeitung der inneren und äulleren Realität" an und defi-niert sie als den „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt". Hier lässt sich demgemäll eine Verände-rung des psychischen Systems durch die Wechselwirkung mit dem sozialen System, wie auch Luhmann sie sieht, erkennen. Dabei geht Hurrelmanns Verständnis von der „äulleren und inneren Realität" jedoch über Luhmanns Aullerungen hinaus: Die „äullere Realität" steht in seinem Verständnis für die Gesellschaft, die sich durch „Sozial- und Wertstruktur und soziale und materielle Lebensbedingungen" darstellt. Die innere Realität steht für den „menschlichen Organismus", das bedeutet nicht nur für die psychischen Strukturen, sondern auch für die „körperlichen Grundmerkmale und die phy-siologischen Strukturen und Prozesse"(Hurrelmann 1998, S. 70, 71, vgl. a.a.O., S. 62 ff.). Eine Reduktion der Kom plexität auf die „Person" wie bei Luhmann findet also nicht statt (vgl. 2.2.).
Hurrelmann erweitert Luhmanns Gedanken zudem, indem er die Strukturen des psychischen Systems, das er als Persönlichkeit bezeichnet, genauer er-läutert. Unter Persönlichkeitsentwicklung versteht er „die individuelle, in Inter-aktion und Kommunikation mit Dingen wie mit Menschen erworbene Organisation von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen, Handlungskom peten-zen und Selbstwahrnehmungen eines Menschen auf der Basis der natürli-chen Anlagen und als Ergebnis der Bewältigung von Entwicklungs- und Le-bensaufgaben zu jedem Zeit punkt der Lebensgeschichte" (Hurrelmann 1998, S. 71).
Erziehung grenzt sich bei Luhmann von der Sozialisation ab, indem sie defi-niert, was sie erreichen möchte. Sie muss in einem interaktiven Kontext erfol-gen und setzt die Absicht zu erziehen bei der Lehr person voraus (vgl. 2.3). Sie ermöglicht einen „ges pielten Konsens" der Bewusstseinszustände zwi-schen zwei Ges prächs partnern und bereitet die Individuen darauf vor, auch in unbekannten Situationen zu bestehen(vgl. 2.3.1). Somit erweitert sie den „Aktionsradius" der Individuen durch die Vermittlung von Wissen (vgl. 2.3.2). Als unverzichtbar für die richtige Erziehung sieht Luhmann die Selektion an und s pricht sogar von der Möglichkeit, dass Erziehung sich im Laufe der Zeit als Neben produkt der Selektion einstellt (vgl. 2.4; 2.5).
Auch Hurrelmann erkennt die Absicht des Erziehers als Grundlage für die Er-ziehung an, wenn er davon s pricht, dass mit dem Begriff Erziehung „diejeni-gen gesellschaftlich vermittelten Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwick-lung" gemeint sind, die bewusst und ge plant auf sie Einfluss nehmen sollen (Hurrelmann 1998, S. 14). Auch er erkennt an, dass „soziale Interaktion und Kommunikation" eine wichtige Rolle für den Prozess der „Aneignung und Verarbeitung von äullerer Realität" s pielen, wenn er diese Tatsache auch auf die gesamte Sozialisation bezieht, nicht nur auf die Erziehung (a.a.O., S. 74). Dabei s pielt die Bildung sogenannter Handlungskom petenzen bei Hurell-mann eine grolle Rolle. Den Begriff der Handlung versteht er als „(zumindest teilweise) bewusstes, auf ein Ziel gerichtetes, ge plantes und beabsichtigtes Verhalten" (a.a.O., S. 75). Der Ausdruck „bewusst" drückt in diesem Sinne aus, dass die objektive Handlung subjektiv erlebt und „kognitiv re präsentiert" wird. Dabei kann die subjektive Abbildung jedoch auch unvollständig oder zum Teil sogar „falsch" sein (vgl. Cranach u.a.1980, S. 24 in Hurrelmann 1998, S. 76). „Verhalten" beschreibt die Gesamtheit menschlicher Aktivitäten, zu denen auch die unbewussten und unge planten Formen gehören können. Aullerst wichtig sind für Hurrelmann auch die S pezialformen „interaktives und kommunikatives Handeln". Wie er sagt ist die „Kom petenz zum Handeln und insbesondere auch zum interaktiven und kommunikativen Handeln (...) Vor-aussetzung dafür, dass sich ein Mensch mit den Erfordernissen und Anforde-rungen der Umwelt arrangieren und dabei die eigenen Motive, Bedürfnisse und Interessen berücksichtigen und einbringen kann", sich also selbst regu-liert. Diese bilden sich im Laufe der Differenz mit der inneren und äulleren Realität (ebd.).
Da sich Luhmann in seinen s päteren Werken von dem Begriff der Handlung trennt und durch den Ausdruck „Kommunikation" als verbindendes Element sozialer Systeme ersetzt, ist in dieser Hinsicht kein direkter Vergleich möglich (vgl. Löw 2003, S. 54). Jedoch lassen sich Gemeinsamkeit in Bezug auf den Sinn und Zweck von Handlung (im Sinne Hurrelmanns) und Wissen (im Sinne Luhmanns) ziehen, da beide dazu dienen, auf die Anforderungen, die die Umwelt an den Menschen stellt, zu reagieren und diese zu bewältigen. Hier wäre zu fragen, inwieweit der Begriff der Handlungskom petenz über den Begriff Wissen hinausgeht und weitere Möglichkeiten in Bezug auf die „An-eignung und Verarbeitung" der Umwelt eröffnet. Jedoch scheint Luhmann ge-nau das unter dem Begriff des Wissens zu verstehen, wenn er davon s pricht, dass die Erziehung als Vermittler von Wissen darauf vorbereiten soll, „sich auf bestimmte Verhaltensanforderungen einzustellen mit einer ausreichen-den Sicherheit; jeweils die Informationen gewinnen zu können, die für das Verhalten in bestimmten Situationen sinnvoll sind" (Luhmann 2002, S.101, vgl. Hurrelmann 1998, S. 77,78; vgl. 2.3.2). Neben diesen partiellen Gemein-samkeiten s prechen sowohl Luhmann als auch Hurrelmann von der Wichtig-keit des lebenslangen Lernens und der Selbsterziehung oder Selbstregula-tion (vgl. Hurrelmann 1998, S. 77,80; 2.3.2).
Hurrelmann führt zudem den Begriff des „reflektierten Selbstbildes" ein (der bei Luhmann nicht zu finden ist). Er sieht ein „realistisches" und „identitätss-tiftendes Selbstbild" als Notwendigkeit „für die Fähigkeit flexiblen und situati-onsangemessenen sozialen Handelns" an. Die Entwicklung einer „stabilen Identität" wird als Ziel der Persönlichkeitsentwicklung gesehen. Sie entsteht durch die „Kontinuität des inneren Selbsterlebens und des inneren „Sich-Selbst- Gleichseins" und damit durch die Zusammenfügung von Individuation und Vergesellschaftung oder - wie Luhmann sagen würde - durch die Wech-selwirkung von psychischem und sozialem System. Störungen der Identitäts-bildung erfolgen demnach durch die „fehlende Passung von strukturell veran-kerten Anforderungen der Umwelt und ( potentiell entflechtbaren) individuel-len Fähigkeiten" und deuten auf organisatorische Abläufe hin, die „keine den eigenen Bedürfnissen, Motiven und Interessen ents prechende Entfaltung der Persönlichkeit zulassen". Deshalb ist die Beachtung sozialer und materieller Ressourcen, neben den individuellen Handlungskom petenzen, in der Erzie-hung sehr wichtig (Hurrelmann 1998, S. 79, 80; vgl. 2.1).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hurrelmann in vielen As pekten mit Luhmann übereinstimmt, wenn auch die grundlegende Theorie sowie die Be-grifflichkeiten oftmals anders sind.
3. Die Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems
Wie Luhmann zeigt, hat sich das Erziehungssystem als Folge „bereits einge-tretener sozialer Differenzierung" in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt.11 Da die Ausdifferenzierung eines „Funktionssystems für Erzie-hung" bedeutende Veränderungen für die Rolle der Familie in der Gesell-schaft zur Folge hatte, wird im Folgenden kurz auf Luhmanns Theorie der ge-sellschaftlichen Differenzierung eingegangen (Luhmann 2002, S. 111,112). Diese baut er auf dem Konze pt der auto poietischen sozialen Systeme auf (vgl. Löw 2003, S. 54). Dabei unterscheidet er zwischen drei Differenzie-rungsty pen: der segmentären, stratifikatorischen und funktionalen Differen-zierung (vgl. Löw 2003, S. 54).
[...]
1 Mit dem Begriff der „Umwelt" ist folglich im systemtheoretischen Sinne alles gemeint, „was nicht zu einem bestimmten System gehört" (Hillmann 2007, S. 916)
2 Es handelt sich also beim sozialen System um ein autopoietisches System. Auch psychische und neuronale Systeme sind autopoietisch, das heil3t sie produzieren und repro duzieren alle wesentlichen Elemente, aus denen sie bestehen, durch interne Vernetzung.
3 - Differenzierung bezeichnet im allgemeinen einen „Prozess der Trennung, Besonderung und (horizontal wie vertikal) wirksamen Abgrenzung von zunächst homogenen Gebilden". Im Sinne Luhmanns hat sie die Bildung von „partiell voneinander unabhängigen Teilkulturen bzw. Subsyste-men und von gesellschaftlich. Pluralismus zur Folge" (Hillmann 2007, S. 153).
- Der Begriff „Subsystem" bezeichnet folgerichtig „einzelne Bereiche eines gr613eren umfassende-ren System, die gleichfalls Systemeigenschaften, insbesondere einen eigenen Strukturzusammen-hang aufweisen" (a.a.O., S. 873).
- Der Aus druck „Funktion" bezeichnet im allgemeinen „die spezielle Wirksamkeit in einem gr613e-ren Zusammenhang" (Wissen Media Verlag 2009). In der Soziologie beschreibt der Begriff seit Durkheim „die Leistung, den Beitrag o der die erkennbare Konsequenz eines sozialen Elements für den Aufbau, die Erreichung, Erhaltung o der Veränderung eines bestimmten Zustandes des gesell-schaftlich. Systems [...], zu dem das Element geh6rt (Hillmann 2007, S. 255).
4 Der Begriff der Rekursion stammt aus der Mathematik und bedeutet in diesem Sinne „(auf bekannte Werte) zurückgehend" (Wissen Media Verlag 2009). Ein System muss sich dementsprechend immer auf die Ergebnisse vorangegangener Operationen stützen, um anstehende Operationen ausführen zu k6nnen.
5 Selbstorganisation meint in der Systemtheorie „die Fähigkeit von Systemen sich selbst zu organisieren und zu entwickeln". Diese ist jedoch nicht das „Resultat eines bewussten Plans [...], aus dem die Organisationen und Systeme hervorgehen" (Hillmann 2007, S. 786).
6 Da die Formbildung sowie das Medium Sinn in der folgenden Abhandlung le diglich eine untergeordnete Rolle spielen, wird hier auf eine detaillierte Beschreibung dieser verzichtet. Vergl. hierzu u.a.: Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundri3 einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main.
7 Der Begriff Transmission steht in der Bildungssoziologie far die Ubertragung kulturellen Kapitals auf die nachfolgende Generation. Unter kulturellem Kapital versteht man unter anderem die Bildung, die uber die Familie an die Kinder weitergegeben wird, ebenso wie den Besitz kultureller Guter und Titel (vgl. Luhmann 2002,S. 48).
8 Der Begriff der operativen Schlie13ung beschreibt die Reproduktion des sozialen Systems aus den eigenen Elementen (vgl. 2.1). Das System importiert we der Strukturen, noch exportiert es Pro dukte in und aus anderen Systemen. Die Strukturen des Systems selbst können jedoch äu13erst vielfältig sein und sind nicht vornherein festgelegt. Genauso verhält es sich mit dem psychischen System. Während die Gesellschaft Kommunikationen repro duziert, repro duziert das psychische System Gedanken. Das soziale System kann keine Ge danken repro duzieren, das psychische keine Kommunikation. Der Begriff der strukturellen Kopplung erklärt, warum ein System Auswirkungen auf das andere haben kann, ohne operativ darauf zuriickzugreifen. So sind das psychische System und das soziale System zum Beispiel uber die Sprache strukturell gekoppelt. Dabei lösen die selben Worte „im psychischen Prozess ganz andere Rekursionen aus als im sozialen System" (Luhmann 2002, S. 2224, 52).
9 Der „structural drift" erklärt allgemein gesehen, warum sich selbst erhaltende Systeme, „ohne operativen Kontakt mit der Umwelt Strukturen ausbil den, die zu bestimmten Umwelten passen und sich auf diese Weise spezialisieren, also die Freiheitsgrade, die ihre Autopoiesis an sich bereithielte, einschränken". Kinder lernen deshalb beispielsweise auch die Sprache, die um sie herum gesprochen wird (Luhmann 2002, S. 24).
10 „Interaktion" bezeichnet in der Soziologie die „Wechselbeziehung zwischen Handlungen" oder einen „Handlungsaustausch". Interaktion liegt dann vor, „wenn ein Handelnder (Individuum, Gruppe, Organisation) sich nicht nur am zufälligen oder gerade erkennbaren Verhalten eines anderen Handlungspartners, sondern auch und in erster Linie an dessen Erwartungen, positiven und negativen Einstellungen sowie Einschätzungen und Bewertung der gemeinsamen Situation orientiert". Diese ist nur „im Rahmen einer vorgegebenen sozialen Struktur von gemeinsamen Werten, normativen Mustern , Symbolen und Kommunikationstechniken moglich" (Hillmann 2007, S. 387).
11 Luhmann definiert den Begriff der Differenzierung „systemtheoretisch", also als die Bildung selektiv unabhängiger Subsysteme (Luhmann 2002, S. 112; vgl. 2.1). Dabei ist die Unterscheidung von System und Umwelt von besonderer Be deutung. Ein System kann sich, nach Luhmann, „nur repro duzieren, wenn es dabei eine Differenz zur Umwelt erzeugt, also Grenzen zieht, also „Umwelt" entstehen lässt". Diese Differenz kann das System beobachten, „es kann sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden und sich an diesem Unterschie d orientieren" (Luhmann 2002, S.113). Dadurch wird die Unterschei dung von System und Umwelt in das System verlagert, wo durch ein Uberschuss an Möglichkeiten far das System entsteht, welche es sich selbst nicht ausrechnen kann. Die dadurch entstehende „selbsterzeugte Ungewissheit" zwingt das System zur „Selbstorganisation", zur „Orientierung am eigenen Ge dächtnis" und zur „Imagination", „ deren Problemlösung dem Test einer noch unbekannten Zukunft ausgesetzt ist". Das Ergebnis der beschriebenen Aus differenzierungsprozesse ist Autonomie. Autonomie ist im luhmannschen Sinne nicht zu verstehen als vollige Ungebundenheit an die Umwelt, sondern bedeutet vielmehr, dass sich das System seine Elemente durch durch das „Netzwerk" selbst repro duziert Die Umwelt bestimmt in diesem Falle, inwieweit die Aus differenzierung eines Systems moglich ist (vgl. Luhmann 2002, S. 113, 114; 2.1)
- Arbeit zitieren
- Janina Baierle (Autor:in), 2009, Schule als Erziehungs- und Sozialisationsersatz für die Familie? , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125624
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