Magisches Denken - Konstrukt oder Tatsache


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

„Die Seele enthält so viele Rätsel wie die Welt mit ihren galaktischen Systemen, vor deren erhabenem Anblick nur ein phantasieloser Geist sein Ungenügen sich nicht zugestehen kann. Bei dieser äußersten Unsicherheit menschlicher Auffassung ist aufklärerisches Getue nicht nur lächerlich, sondern auch betrüblich geistlos“ (Jung 1976: 414).

Mit der Veröffentlichung seines Cours de philosophie positive läutet Auguste Comte zu beginn der 1840er Jahre die Geburtsstunde der akademischen Disziplin Soziologie ein. Das neu erschaffene Fach sollte zugleich Bindeglied und Krone im Reigen der Wissenschaften sein. Wie lässt sich nun dieser hohe Anspruch begründen? Die Aufgabe der Soziologie sah Comte in der Produktion

„empirischen Wissens über Tatsachen im Kontext eines sich naturgesetzlich durchsetzenden Fortschritts […] Das soziologische Denken will er auf Tatsachen und die Naturgesetzlichkeit sozialer Erscheinungen zurückführen.“ (Rolshausen 2001: 89)

Die Soziologie erklärt dieser Auffassung folgend sowohl die „Modernisierung“ und Industrialisierung des Abendlandes, als auch deren Ausbleiben in weniger entwickelten Gesellschaften. Gesellschaftlicher und kulturgeschichtlicher Entwicklung liegt demnach eine exakte Funktion zugrunde. Sind die Variablen mitsamt mathematischen Verhältnissen zueinander bekannt, so lässt sich jede soziale Tatsache rekonstruieren. Es sind, so Comte, objektive Kriterien, die Gesellschaften und wichtiger: deren Fortentwicklung determinieren. Die Beschaffenheiten und die Evolution menschlichen Zusammenlebens werden so auch in der Makroperspektive erklärbar. Und mehr noch: Die Kenntnis der Funktionsgleichung der sozialen Welt impliziert nicht nur, dass sämtliche ihrer Determinanten bekannt und erfassbar sind, es ist hier sogar möglich sozialem Geschehen einen Punkt in der Funktionskurve zuzuweisen und mit anderen Punkten zu vergleichen. Für Comte und Generationen seiner geistigen Nachfolger ist die Entwicklung der Menschheit vor allem und in erster Linie eine Entwicklung des Denkens. Dies kommt in seinem Dreistadiengesetz in prägnanter Weise zum Ausdruck. So wie das Kind zum Erwachsenen heranreift, so befindet sich auch die Menschheit in einem fortwährenden Reifeprozess[1], der freilich im Triumph der Wissenschaft über primitive Affektlastigkeit und mythische Irrationalitäten mündet. Das finale positive Stadium Comtes ist durch die Erforschung von Kausalbeziehungen objektivierter Tatsachen geprägt. Die so gewonnenen Kenntnisse sollen der Humanisierung der Gesellschaft und der allgemeinen Wohlfahrt dienen. Die Funktionsgleichung gesellschaftlicher Entwicklung, die später von vielen anderen aufgegriffen und angereichert wird, will, um es einmal mythisch auszudrücken, nichts anderes als den Menschen den Weg ins Paradies aufzuzeigen. Damit das Erreichen des positiven Stadiums gelingen kann, muss es elementare und objektive Unterschiede zwischen archaischem und modernem Denken geben. Diese Unterschiede machen es schließlich erst möglich eine Entwicklungskurve zu entwerfen. Aus diesem Grund machten sich Akademiker wie Lucien Lévy-Bruhl, Ernst Cassirer und, um ein modernes Beispiel zu nennen, Georg W. Oesterdiekhoff auf die Suche nach jenen Unterschieden und Eigentümlichkeiten und wurden reichlich fündig. Der Behandlung dieser subjektiven und keinesfalls vollständigen Auswahl von Autoren folgt eine kurze Diskussion des Weberschen Entzauberungsbegriffes. Abschließend soll die Frage, ob magisches Denken Konstrukt oder Tatsache ist, beantwortet werden.

Lévy-Bruhl

Die Hauptwerke Lévy-Bruhls „Die geistige Welt der Primitiven“ und „Die Seele der Primitiven“ bilden eine Art Ausgangspunkt der Klassifizierung des magischen Denkens für die strukturgenetische Soziologie[2]. Der Begriff des Primitiven bezieht sich hier in erster Linie auf Naturvölker die „gesitteten Völkern“ (Lévy-Bruhl 1959: 5) gegenüberstehen. Der besondere Charakter der Ideologie Lévy-Bruhls offenbart sich bereits auf der ersten Seite der Einleitung zu „Die geistige Welt der Primitiven“. Er nutzt vornehmlich die Erfahrungen von Missionaren bei ihren Bekehrungen von Naturvölkern als Quelle. So berichtet ein Jesuit des 17. Jahrhunderts über die Irokesen:

„Die Gründe der Glaubwürdigkeit, deren die Theologie sich gewöhnlich bedient, um selbst die stärksten Köpfe zu überzeugen, hört man hier nicht an, wo man unsere größten Wahrheiten als Lüge bezeichnet […] Die Wahrheit des Evangeliums wäre ihnen nicht annehmbar erschienen, wenn wir sie einfach auf Vernunftgründe und den gesunden Menschenverstand gestützt hätten. Da ihnen Kenntnisse und Gesittungen fehlen, bedurfte es gröberer und handgreiflicherer Mittel, um auf ihren Geist einzuwirken“ (ebenda).

Hier offenbart sich in ungeschminkter Frische die grundlegende Konsequenz jedweder Bekehrungsmission[3]. Der Wilde darf gemäß dieses Selbstverständnisses schon froh sein auf eine solch nachsichtige Weise mit der christlich-abendländischen Tradition in Berührung gebracht zu werden (vgl. ebenda: 305). Dies ist jedoch eher als eine Art Bonusleistung zu sehen, denn es handelt sich ja hier nicht um vollwertige zivilisierte Menschen[4], weshalb man bei Bedarf auch ruhig zu „gröberen Mitteln“ greifen kann[5]. Dass letztlich eben doch nicht die allumfassende Wahrheit des Evangeliums die Primitiven zur Besinnung bringt, sondern die Peitsche, stört die Missionare dabei herzlich wenig. Für sie und Lévy-Bruhl steht die eigene kulturelle Überlegenheit außer Frage und entzieht sich jedweder Diskussion, auch wenn ihre Basis auf nackter Gewalt ruht (vgl. Feyerabend 1989: 431f).

Nachdem die Marschrichtung so festgelegt ist, baut Lévy-Bruhl den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen mit Hilfe weiterer Belege aus. So berichtet ein weiterer Missionar in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die Grönländer:

„Die geistigen Handlungen werden niemals um ihrer selbst willen vorgenommen und sie erheben sich deshalb für uns nicht zur Würde dessen, was wir im eigentlichen Sinne Gedanken nennen“ (Lévy-Bruhl 1959: 6).

Der Geistliche W.H. Bentley, der im Kongo missionierte, fügt dieser Einschätzung vielleicht etwas resigniert hinzu: „Der Afrikaner, Neger oder Bantu denkt nicht, überlegt nicht, folgert nicht, wenn er es irgendwie vermeiden kann“ (ebenda: 11). Wahrscheinlich in einem Anflug christlichen Mitgefühls räumt er jedoch ein: „Die Fähigkeiten zur vernunftgemäßen Überlegung und Erfindung schlummern noch in ihm“ (ebenda). Das Fazit des Forschers Parkinson bezüglich der kognitiven Verfassung der Melanesier bringen die bisherigen Aussagen jedoch am treffendsten auf den Punkt:

„Er steht geistig sehr tief. Er ist fast immer unfähig logisch zu denken. Was er nicht unmittelbar durch die Wahrnehmung seiner Sinne erfasst, ist für ihn Zauberei oder eine magische Handlung; darüber länger nachzudenken, wäre eine ganz unnötige Arbeit“ (ebenda: 13).

[...]


[1] Hier liegt ein schönes Beispiel der Verquickung von Ontogenese und Phylogenese vor. Norbert Elias und seine Schule bauen diesen Zusammenhang zur Fundierung der Zivilisationstheorie weiter aus.

[2] Der Begriff wird von Oesterdiekhoff eingeführt und meint nichts anderes als die oben skizzierte Soziologie Comtes inklusive deren Zielsetzung.

[3] Der Zusammenhang zwischen Evolutionstheorien und der darin implizierten Rechtfertigung des Kolonialismus wird hier deutlich (vgl. Duerr 1994: 12f).

[4] Der Gedanke der abendländischen Zivilisiertheit im Kontrast zu anderen Kulturen scheint im modernen westlichen Denken so tief verankert zu sein, dass dessen Ergüsse auch gegenwärtig zu beobachten sind. So bezeichnet beispielsweise Ex-Bundeskanzler Schröder die Anschläge auf das World Trade Center in 2001 als „Angriff auf die zivilisierte Welt“. Demgegenüber wäre eine gleiche Betitelung der durch Westmächte angezettelten Massaker wohl schwer vorstellbar. Die weit über 100000 auch zivilen Todesopfer des dritten Golfkrieges oder die gegenwärtige Hungerkrise der sogenannten dritten Welt scheint die zivilisierte Welt dagegen kaum zu tangieren.

[5] Hier liegt auch ein Kernpunkt, weshalb die Vorstellung der Überlegenheit der eigenen Kultur gegenüber einer Fremden innerhalb eines linearen Prozesses leicht der Rechtfertigung von Ausbeutung, Unterwerfung und Kolonialismus führt (vgl. Duerr 1995: 12).

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Magisches Denken - Konstrukt oder Tatsache
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Veranstaltung
Sinn und Übersinnlichkeit
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
15
Katalognummer
V125627
ISBN (eBook)
9783640311408
ISBN (Buch)
9783640310289
Dateigröße
450 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Magisches, Denken, Konstrukt, Tatsache, Sinn
Arbeit zitieren
Sebastian Theodor Schmitz (Autor:in), 2008, Magisches Denken - Konstrukt oder Tatsache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125627

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