Margaret Gilberts Pluralsubjekttheorie in "Zusammen spazieren gehen. Ein paradigmatisches soziales Phänomen"


Essay, 2021

9 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Themenhinführungund-kontextualisierung

2 AnalysestarkergeteilterpersönlicherZiele

3 Theorie des Pluralsubjekts

4 Pluralsubjekt,Willenspool,sozialeGruppe

5 Resümee

Literatur

1 Themenhinführung und -kontextualisierung

In ihrem im Jahr 1990 in den Midwest Studies in Philosophy erschienen Beitrag Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon (dt.: Zusammen spazieren gehen: Ein paradigmatisches soziales Phänomen) konturiert die britische Sozialphilosophin Margaret Gilbert einige Kerngedanken ihres umfangreichen Buchs On Social Tacts1 (1989) als weitgehend eigenständigen Diskussionszusammenhang. Hierbei befasst Gilbert sich mit einem für das Verstehen menschlicher Beziehungsgefüge zentralen soziologischen Begriff: soziale Gruppen. Diese, so Gilbert, seien „social phenomena par excellence" (Gilbert 1989: 2, Herv. i. Org.) und deshalb als solche zu analysieren, um die für menschliche soziale Gruppen - die Gilbert auch als Pluralsubjekte bezeichnet (vgl. Gilbert 2009b: 168) - konstitutiven Strukturen offenlegen und sie so ontologisch klassifizieren zu können. Zu diesem Zweck schlägt Gilbert vor, den Term „gemeinsames Handeln" begrifflich zu analy­sieren, um die notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen zu identifizieren, unter denen legitimerweise von einem Fall gemeinsamen Handelns gesprochen werden kann. Als einen paradigmatischen Typus gemeinsamen Handelns untersucht Gilbert das so­ziale Mikrophänomen des gemeinsamen Spazierengehens. Um nun die allgemeinen Bedin­gungen aufstellen zu können, mit Hilfe derer sich ein Fall gemeinsamen Spazierengehens adäquat beschreiben lässt, analysiert sie den Begriff des gemeinsamen Spaziergangs zu­nächst mittels einer „Analyse starker geteilter persönlicher Ziele" (Gilbert 2009b: 157, Herv. i. Org.). Aus ihrer Sicht erweist diese Analysebasis sich jedoch als ungeeignet für die vor­genannte Begriffsanalyse. In der Folge entwickelt Gilbert deshalb eine eigenständige Forma­lisierung, mit der sich Ereignisse gemeinsamen Spazierengehens - und, ganz allgemein, Fälle gemeinsamen Handelns - begrifflich adäquat analysieren lassen sollen, da sie es er­möglicht, die notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen gemeinsamen Spa­zierengehens eindeutig zu erfassen.

Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, Gilberts Theorieentwurf nachzu­vollziehen. Zu diesem Zweck werde ich in Abschnitt 2 zunächst explorieren, was genau Gilbert unter der Analyse starker persönlicher Ziele versteht und erläutern, weshalb diese Analyse die logisch notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, dass ein Fall ge­meinsamen Spazierengehens vorliegt, ihrer Ansicht nach nicht vollständig offenlegen kann. Darauf aufbauend werde ich anschließend (in Abschnitt 3) Gilberts eigenen Vorschlag zur Analyse des Begriffs des gemeinsamen Spazierengehens nachzeichnen sowie aufzeigen, weshalb ihre Theorie des Pluralsubjekts das Phänomen eines gemeinsamen Spaziergangs (und ganz allgemein Fälle menschlichen sozialen Handelns) begrifflich adäquat analysieren kann. Die von ihr eingeführten technischen Begrifflichkeiten wie jene des Pluralsubjekts, des Willenspools und der sozialen Gruppe werden in Abschnitt 4 konkretisiert. Abschnitt 5 schließt die Überlegungen mit einem ausblickenden Resümee ab.

2 Analyse starker geteilter persönlicher Ziele

Stellvertretend für Fälle menschlichen sozialen Handelns - ein basales soziologisches Phänomen - wendet Gilbert die „Analyse starker geteilter persönlicher Ziele" (Gilbert 2009b: 157, Herv. i. Org.) (engl. strong shared personal goal analysis) auf das soziale Phänomen gemeinsamen Spazierengehens an. Gemäß dieses Analyseansatzes liegen starke geteilte persönliche Ziele dann vor, wenn unter den Spazierengehenden (Gilbert nennt sie Sue und Jack) ein „gemeinsames Wissen darüber besteht, dass jeder bzw. jede von ihnen das erwähnte Ziel [des gemeinsamen Spazierengehens] hat" (ebd., Herv. i. Org., Erg. FW). Gemeinsames Wissen (engl. common knowledge)2 wiederum liegt dieser Analysemethodik zufolge dann vor, wenn die persönlichen Ziele der beteiligten Subjekte - und diese Ziele beziehen sich bei gemeinsamem Spazierengehen eben genau darauf, nämlich gemeinsam spazieren zu gehen - den Beteiligten „vollständig offenlieg[en]" (ebd., Erg. FW). Ein solches Wissen setzt nicht vorauss, dass es sprachlich expliziert wird. Es kann bereits dann vorliegen, wenn der Handlungskontext ein solches Wissen des jeweils anderen über das gemeinsame Ziel vernünftigerweise nahelegt (im Fall des Spazierengehens beispielsweise, weil die Beteiligten eine angemessene Zeit lang ohne Unbehagen nebeneinanderher gelaufen sind). Entsprechend der Analyse starker geteilter persönlicher Ziele ist das Vor­liegen gemeinsamen Wissens in dem vorgenannten Sinn logisch notwendig und hinreichend dafür, dass ein Fall gemeinsamen Spazierengehens vorliegt.

Gilbert jedoch lehnt diese Analyse ab: Das Bestehen gemeinsamen Wissens allein er­achtet sie nicht als eine hinreichende Bedingung dafür, von gemeinsamem Spazierengehen sprechen zu können und mahnt an, dass „ein entscheidendes Merkmal gemeinsamen Spazierengehens fehlen würde" (ebd.) - ein Merkmal, das Gilbert im Verlauf ihrer Argumentation als beidseitig verbindliche Verpflichtungen und Berechtigungen der Spaziergänger identifiziert, die sich ihr zufolge einzig und direkt aus der Tatsache gemeinsamen Spazierengehens herleiten lassen. Zwar würde ein Gemeinsames-Wissen- Szenario - gemeinsames, vollständig offenliegendes Wissen, das einen Fall gemeinsamen Spazierengehens in der Weise konstituiert, wie vorstehend definiert - ebenfalls nahe legen, dass die Beteiligten gewisse Verpflichtungen eingehen, etwa nicht ohne guten und für den anderen ersichtlichen Grund vorauszueilen, und dass ihnen hieraus gewisse Rechte erwachsen, wie beispielsweise die Berechtigung, den anderen für ein solches Vorausgehen zu rügen. In anderen Worten: „Gründe der Moralität allgemein, der Klugheit oder tatsächlich der ,Sorge"' (Gilbert 2009b: 163) könnten die (über das gemeinsame Wissen des gemeinsamen Spaziergehens verfügenden) Akteure Sue und Jack dazu verpflichten, das ihnen jeweils Mögliche beizutragen, „um das Erreichen des von beiden verfolgten Ziels zu sichern" (ebd.). Beispielsweise scheinen moralische Gründe dafür zu sprechen, dass Sue und Jack tatsächlich gemeinsam nebeneinander herlaufen (und nicht unbegründet vor­auseilen oder zurückfallen), etwa, weil hierdurch das Glück beider maximiert wird (vgl. ebd.: 159). Ferner lassen es Klugheitsüberlegungen naheliegend erscheinen, dass beide Parteien sich gegenseitig an ihr ursprüngliches Ziel des gemeinsamen Spazierengehens erinnern - ggf. dadurch, dass eine Partei die andere entsprechend rügt besonders in jenen Situationen, in denen wiederholtes Vorauseilen bzw. Zurückfallen in den Parteien Zweifel an diesem Ziel aufkommen lassen könnten (vgl. ebd.: 159-160).

Gilbert macht allerdings geltend, dass „diese Art der Verpflichtung [...] oder die ent­sprechende Berechtigung zur Rüge" (ebd.: 163, Herv. i. Org.) - also Verpflichtungen und Berechtigungen aus Moralitäts- oder Klugheitsgründen oder aus Eigennutz (vgl. ebd.) - nicht diejenige Art von Pflichten und Rechten sei, die für einen Fall gemeinsamen Spa­zierengehens in Frage kommen könne. Denn bei jener Art handele es sich lediglich um ein­seitige Pflichten und Rechte der spazierengehenden Parteien, die sie deshalb auch einseitig aufkündigen könnten. Dies habe zur Folge, dass keine der Parteien tatsächlich berechtigt sei, sich „über Verletzungen [...] dessen, was getan werden wird, zu beklagen" (ebd., Herv. i. Org.), denn Einseitigkeit könne „das Gefühl, dass die Existenz einer solchen Berechtigung [...] geschaffen worden ist" (ebd.: 161, Herv. i. Org.) nicht vermitteln. Hierfür seien statt­dessen beidseitig verbindliche Verpflichtungen und Berechtigungen nötig: Diese Art sei dazu geeignet, den Parteien eine Berechtigung im vorstehenden Sinne zu vermitteln, denn diese sei durch ein „bestehendes Übereinkommen" (ebd.: 163, Herv. i. Org.) darüber, gemeinsam spazieren zu gehen, legitimiert. Folglich konstatiert Gilbert, dass die zentralen Ver­pflichtungen und Rechte gemeinsamen Spazierengehens nicht „'externe' Faktoren" (ebd.) sein können - einseitig resultierend aus Moral-, Klugheits- oder Eigennutzüberlegungen -, sondern „eine direkte Funktion der Tatsache gemeinsamen Spazierengehens" (ebd., Erg. FW) sein müssen. Anders formuliert: Nicht ein gemeinsames Wissen über das Ziel des ge­meinsamen Spazierengehens, sondern das soziale Phänomen des gemeinsamen Spazieren­gehens selbst sei der Grund dafür - und allein „aus diesem Grund" (Gilbert 2009b: 159, Herv. i. Org.) heraus sei zu erwarten -, dass die Spaziergänger bestimmte Pflichten (zur Erbringung der versprochenen Leistung) und Rechte (auf Erfüllung der versprochenen Leistung) als beidseitig verbindlich und deshalb vollzugsfähig anerkennen.

3 TheoriedesPluralsubjekts

Bisher wurde die Analyse starker geteilter persönlicher Ziele näher spezifiziert. Des Wei­teren wurde aufgezeigt, weshalb Gilbert diese Analyse zumindest in einer Hinsicht als de­fizitär ablehnt: Ein für alle Beteiligten offenliegendes gemeinsames Wissen über ein gemeinsames Ziel ist nicht imstande, die für soziale Handlungen typischen beidseitig ver­bindlichen Verpflichtungen und Berechtigungen zu generieren. Demgegenüber wird nach­folgend Gilberts eigener Theorievorschlag zur Analyse des Begriffs des gemeinsamen Spazierengehens konturiert, mit dem sie gedenkt, dieses Defizit zu beheben. Um explizieren zu können, woraus die mit menschlichen sozialen Handlungen typischerweise einher­gehende beidseitige Verbindlichkeit relevanter Verpflichtungen und Berechtigungen erwächst, führt Gilbert zwei aus ihrer Sicht entscheidende Bedingungen ein. Bei diesen Bedingungen handelt es sich um das von Gilbert gesuchte „entscheidende^..] Merkmal" (ebd.: 157) dafür, de facto von einem Fall gemeinsamen Handelns sprechen zu können, weil primär und direkt hieraus die für soziales Handeln typischen beidseitig verbindlichen und deshalb vollzugsfähigen Pflichten und Rechte entstehen. Diese beiden formalen Bedin­gungen - jede jeweils notwendig und beide zusammen hinreichend für einen Fall ge­meinsamen Spazierengehens - lauten:

Erstens: Ein Ausdruck der Bereitschaft zur Bildung eines ,,Pluralsubjekt[s] des Ziels" (Gilbert 2009b: 164, Herv. i. Org., Erg. FW). Das Pluralsubjekt des Ziels - beispielweise des gemeinsamen Spazierengehens - wird dadurch gebildet, dass die jeweils beteiligten Spaziergänger Sorge dafür trägt, dass „das fragliche Ziel von [...] [ihnen] selbst und de[n] anderen vereint akzeptiert wird" (ebd., Herv. i. Org., Erg. FW). Gilbert spricht im Zusammenhang mit dieser vereinten Akzeptanz des Ziels davon, dass die spazieren­gehenden Parteien sich ihre Bereitschaft, die „Kräfte mit denen des anderen zu vereinen" (ebd., Herv. i. Org.), klar machen. In Abschnitt 4 werde ich darauf zu sprechen kommen, was genau Gilbert unter dem Begriff des Pluralsubjekts versteht und wie dieses sich zu ge­meinschaftlichen Handlungen und den hieraus entstehenden Pflichten und Rechten verhält.

Zweitens: Eine beidseitig bekundete und wissentliche Kommunikation der Bereitschaft, das Pluralsubjekt zu bilden (vgl. ebd.). Die Grundlage dafür, dass jede der spazieren­gehenden Parteien in „ihrer Eigenschaft als Konstituente eines Pluralsubjekts" (ebd.) das Ziel des gemeinsamen Spazierengehens verfolgt, wird dadurch gelegt, dass jede Partei ihre Bereitschaft, das Pluralsubjekt des gemeinsamen Spazierengehens zu bilden, „unter der Bedingung gemeinsamen Wissens einmal beidseitig ausgedrückt" (ebd.) hat.

Gilbert geht davon aus, dass diese beiden Bedingungen jene notwendigen und zu­sammen hinreichenden Bedingungen bereitstellen, die, aufgenommen als Prämissen in eine Theorie gemeinsamen Spazierengehens, sicherstellen, dass sich mit dieser Theorie ein Fall gemeinsamen Spazierengehens adäquat analysieren lässt. Und zwar deshalb, weil diese Bedingungen, sobald sie vorliegen, jene typischen beidseitig verbindlichen und deshalb vollzugsfähigen Pflichten und Rechte „als eine direkte Funktion der Tatsache gemeinsamen Spazierengehens" (ebd.: 163) hervorbringen.

4 Pluralsubjekt, Willenspool, soziale Gruppe

Im Vorhergehenden wurden die aus Gilberts Sicht entscheidenden Bedingungen für eine adäquate Beschreibung eines Falls gemeinsamen Spazierengehens formuliert: Erstens: Ausdruck der Bereitschaft zum Bilden eines Pluralsubjekts des Ziels und zweitens: beidseitig bekundete und wissentliche Kommunikation dieser Bereitschaft, das Pluralsubjekt zu bilden. Nachfolgend wird exploriert, weshalb Gilbert die Formierung eines Pluralsubjekts - einen Begriff, den sie als Synonym für soziale Gruppen3 verwendet (vgl. Gilbert 2009b: 168) - als zentral für das Konstituieren beidseitig verbindlicher Verpflichtungen und Berech­tigungen betrachtet und dabei plausibilisiert, wie sie dieses Pluralsubjekt konstruiert und welche Rolle hierbei die simultane Ausbildung eines Willenspools spielt.

Wenn ein Ziel ein Pluralsubjekt (engl. plural subject) hat, dann setzt dies Gilbert zufolge voraus, dass jede am Pluralsubjekt (des gemeinsamen Spazierengehens) beteiligte Partei (d. h. die betreffenden Spaziergänger) „ihren Willen als Teil in einen Willenspool gegeben" (Gilbert 2009b: 165) hat, „der sich, als einer, diesem Ziel verschreibt" (ebd., Herv. FW). Anders ausgedrückt: Menschen (zwei oder mehr) bilden das Pluralsubjekt eines Ziels, wenn sie „vereint darauf festgelegt sind, als ein Körper zu beabsichtigen" (Gilbert 2009a: 356, Herv. FW), das jeweils infrage kommende Ziel zu verfolgen. Was heißt es nun, sich eines Ziels als einer zu verschreiben, als ein Körper, ein Ziel zu verfolgen? Oder, um Gilberts Analogie eines biologischen Körpers aufzugreifen: Was bedeutet es, wenn einzelne Akteure „wie Glieder eines einzigen Körpers" (Gilbert 2009b: 166) handeln? Konkret: Welcher Art muss eine Transaktion zwischen sozialen Akteuren sein, damit aus (zwei oder mehr) „Individualwillen" (ebd.: 165) - die Körperglieder - ein einziger „Pluralwille[...j" (ebd.) - der Körper - entsteht, der ein bestimmtes Ziel verfolgt?

Gilbert beschreibt diesen Vorgang als einen, bei dem die Individualwillen „gleichzeitig und interdependent gebunden" (ebd., Herv. i. Org.) werden, als spezielle Form einer „bedingten Festlegung" (ebd., Herv. i. Org.), geäußert von jeder einzelnen der betreffenden Parteien, laut der gilt: Nur dann, wenn jede der Parteien die bedingte Festlegung für alle Parteien erkennbar zum Ausdruck gebracht hat, gemäß der sie selbst sich sowie die anderen Parteien sich auf ein gemeinsames Ziel festlegen, hat jede der Parteien sich auf das gemeinsame Ziel festgelegt, und zwar in „ihrer Eigenschaft als Konstituente eines Plural­subjekts dieses Ziels" (ebd.: 164, Herv. i. Org.). Man kann dies wie folgt paraphrasieren: Aufgrund der kollektiven bedingten Festlegung, öffentlich formuliert von jeder einzelnen Partei bzw. jedem Individualwillen, besteht zwischen diesen ein sozialer Verflech­tungszusammenhang, der sich als Pluralwillen eines bestimmten Ziels manifestiert, auf das die betreffenden Individuen sich von nun an als das ihrige beziehen.

In dieser konditionalen, relationalen Transaktion kommen die beiden im voraus­gehenden Abschnitt angeführten formalen Bedingungen zum Ausdruck, um von gemein­samem Handeln in der Weise sprechen zu können, wie Gilbert es versteht. Es liegt nicht einfach ein „'Austausch von Versprechen' [...], bei dem jede Person sich einseitig an das fragliche Ziel bindet" (ebd.: 165) vor - wie das laut Gilbert bei starken geteilten persön­lichen Zielen der Fall ist. Vielmehr ist jede Partei „allen anderen gegenüber zur Leistung verpflichtet; jede [...] hat (deshalb) das Recht auf die vom Rest erbrachte Leistung" (ebd.: 165). D. h. keine der Parteien kann „sich selbst von der Festlegung entbinden" (ebd.). Hat die Transaktion auf diese Weise einmal stattgefunden, ist ein Pluralsubjekt zustande ge­kommen, d. h. eine soziale Gruppe mit dem Ziel des gemeinsamen Spazierengehens, und es bestehen deshalb die für gemeinsames Spazierengehen typischen beidseitig verbindlichen Pflichten und Rechte, und zwar als „eine direkte Funktion der Tatsache gemeinsamen Spazierengehens" (ebd.: 163). Von diesem Zeitpunkt an verstehen sich die einzelnen Individualwillen als dazu verpflichtet, so zu handeln, wie es dem Ziel des gebildeten Willenspools am besten dient und als dazu berechtigt, ein diesem Ziel abträgliches Handeln zu sanktionieren. Hierfür sei, so Gilbert, „kein Bezug auf [...] eigene[...] Ziele nötig" (ebd.: 167). Dass sich ein Pluralwillen eines bestimmten Ziels gebildet hat, ist u. a. daran er­kennbar, dass die ihn konstituierenden Beteiligten sich für gewöhnlich auf diesen Pluralwillen als „wir" bzw. „uns" beziehen. Eine solche Wir-Mentalität ist beispielsweise erkennbar an Aussagen wie: „Wollen wir noch bis zur nächsten Espressobar laufen, dort könnten wir einen Espresso trinken und eine Brioche essen?" Oder: „Bei uns zu Hause in der Familie ist es so, dass wir uns gemeinsam darauf einigen, wohin wir in den Urlaub fahren."

5 Resümee

In der vorliegenden Abhandlung habe ich darzulegen intendiert, weshalb Gilbert die Analyse starker geteilter Ziele zur Beschreibung sozialer Handlungen als unzureichend ablehnt und weshalb demgegenüber der von ihr vorgeschlagene Pluralsubjektansatz prädestiniert ist, soziales Handeln im Hinblick auf seine notwendigen und hinreichenden Bedingungen sys­tematisch adäquat zu analysieren. Da Gilbert im vorliegenden Text Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon ihre Argumentation ausschließlich anhand des Beispiels des gemeinsamen Spazierengehens entwickelt - einem alltagsnahen sozialen Mikro­phänomen mit einer meist überschaubaren Anzahl an Beteiligten drängt sich die Frage nach der Reichweite ihres Theorieansatzes auf: Ist ihre Pluralsubjekttheorie auch dazu geeignet, spontane, informelle Großgruppenphänomene wie beispielsweise Flashmobs oder komplexe, ggf. auch formell institutionalisierte soziale Gruppen wie Ethik­kommissionen oder gar parlamentarische Zusammenkünfte adäquat zu beschreiben? Eine weitere - grundsätzlichere - Fragestellung betrifft den ontologischen Status von Plural­subjekten. Obgleich Gilbert sich in ihrem umfassenden Werk On Social Facts zur Debatte ontologischer Individualismus vs. ontologischer Holismus äußert (vgl. Gilbert 1989: 427­436), bleiben ihre Ausführungen zu einer ontologischen Taxonomie des Pluralsubjekts rudimentär.

Literatur

Gilbert, Margaret (1989): On Social Facts. New York: Princeton University Press.

Gilbert, Margaret (1990): Walking Together: A Paradigmatic Social Phenomenon. In: Midwest studies in Philosophy. Vol. 15, Issue 1. S. 1-14.

Gilbert, Margaret (2009a): Was bedeutet es, dass wir beabsichtigen. In: Schmid, Hans Bernhard / Schweikard, David P. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die GrundlagendesSozialen. Frankfurta. M.:Suhrkamp,S. 154-175.

Gilbert, Margaret (2009b): Zusammen spazieren gehen: Ein paradigmatisches soziales Phänomen. In: Schmid, Hans Bernhard / Schweikard, David P. (Hg.): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 356-386.

[...]


1 In On Social Facts beschäftigt Gilbert sich mit zentralen Fragen der Sozialontologie und geht Fragestellungen nach wie: „What precisely are social groups? Does group membership involve a deep transformation of the human individual?" (Gilbert 1989: 1). Sie untersucht dabei zentrale Phänomene menschlicher Interaktion, wobei sie die von den Soziologen Max Weber, Georg Simmel oder Émile Dürkheim vorgebrachten klassischen soziologischen Erklärungsansätze kritisch reflektiert und dabei eigene Interpretationsansätze zur Erklärung sozialer Sachverhalte entwickelt.

2 Common knowledge ist ein technischer Ausdruck von David Lewis (1969), den Gilbert für ihre Theoriekonzeption des Pluralsubjekts übernimmt.

3 Für die Konstituierung einer menschlichen sozialen Gruppe ist es Gilbert zufolge logisch notwendig und hinreichend, dass eine Menge von Menschen ein Pluralsubjekt bildet. Für seine Existenz benötige das Pluralsubjekt bzw. die soziale Gruppe allerdings nicht notwendigerweise ein evidentes Handlungsziel (z. B. jenes des gemeinsamen Spazierengehens). Vielmehr sei es bereits ausreichend, dass der sozialen Gruppe vereinte Überzeugungen oder kollektive Handlungsprinzipien zugrunde liegen. Tatsächlich sei es, um von einer sozialen Gruppe sprechen zu können, sogar ausreichend, dass die fraglichen Parteien sich nur zu einer gemeinsamen Sichtweise auf etwas festlegen, auf eine Sichtweise, auf die sie sich als „unsere" Sichtweise beziehen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist es sogar möglich, dass Parteien einfach dadurch zu Konstituenten eines Pluralsubjekts werden, wenn bestimmte „soziale Konventionen" (Gilbert 2009b: 169, Herv. Org.) vorliegen.

Ende der Leseprobe aus 9 Seiten

Details

Titel
Margaret Gilberts Pluralsubjekttheorie in "Zusammen spazieren gehen. Ein paradigmatisches soziales Phänomen"
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Seminar zur Sozialontologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2021
Seiten
9
Katalognummer
V1257844
ISBN (eBook)
9783346696915
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pluralsubjekt, Margaret Gilbert, Spazierengehen, Willenspool, soziale Gruppe
Arbeit zitieren
Falk Wisinger (Autor:in), 2021, Margaret Gilberts Pluralsubjekttheorie in "Zusammen spazieren gehen. Ein paradigmatisches soziales Phänomen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1257844

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Margaret Gilberts Pluralsubjekttheorie in "Zusammen spazieren gehen. Ein paradigmatisches soziales Phänomen"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden