McTaggarts Theorem der "Unwirklichkeit der Zeit". Rekonstruiert und kritisch reflektiert


Essay, 2022

10 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Themenkontextualisierung und -einfuhrung

2 McTaggarts Theorem, rekonstruiert

3 Beweisfuhrung
3.1 PramissePTZeitsetztwirklicheVeranderungvoraus
3.2 Exkurs: A-Reihe, B-Reihe
3.3 Pramisse P2: Wirkliche Veranderung ist nur moglich in Verbindung mit der A-Reihe
3.4 Pramisse P3: Die A-Reihe ist widerspruchlich und deshalb nicht wirklich

4 Einwand gegen die Inkompatibilitatsthese und McTaggarts Entgegnung

5 Kritische Wurdigung — Analyse des Ereignisbegriffs

6 Ausblickendes Resumee

Titeratur

1 Themenkontextualisierung und -einfuhrung

Von der slowenischenjazzpianistin Kaja Draksler wird gesagt, sie tupfe einem „die Gegenwart ins Gehor“ (Stock 2022: 69). Die Gegenwart — jener vertraute Zeitmoment privilegierter Wahrnehmung (wie etwa das Horen eines Klavierakkordklangs) zwischen dem gerade Vergehenden und dem unmittelbar Entstehenden — ist ohne die Idee einer ubiquitaren Zeitstruktur kaum vorstellbar. Nichts weniger als dies jedoch — namlich die Unwirklichkeit der Zeit — behauptet der schottische Philosoph John M. E. McTaggart in seinem (den zeitphilosophischen Diskurs seither pragenden) Aufsatz The Unreality of Time (1908). Wenn ein so unleugbar wahrnehmbares, aller menschlichen Erfahrung zugrunde liegendes Phanomen wie die Zeit infrage gestellt wird, sollten angemessene Grunde dafur vorliegen, um die Infragestellung plausibel erscheinen zu lassen. Diese Grunde herauszuarbeiten und dabei deren Stringenz zu reflektieren, ist das Ziel der vorliegenden Abhandlung. Zu diesem Zweck soil nachfolgend McTaggarts Theorem der Irrealitat der Zeit rekonstruiert werden (Abschnitt 2). Die seiner Beweisfuhrung zugrunde liegenden Pramissen werden im Anschluss vor- gestellt (Abschnitt 3). Hierfur ist es erforderlich, die von ihm eingefuhrte begriffliche Distinktion bezuglich der Zeitordnung zu erschlieBen, die als Unterscheidungvon A-Reihe und B-Reihe zur Standardterminologie der gesamten zeitphilosophischen Disziplin geworden ist (Abschnitt 3.2). Von den gegen McTaggarts These sprechenden Einwanden soil jener beleuchtet werden, der sich auf die von ihm identifizierte Widerspruch- lichkeit bzw. Inkompatibilitat der A-Reihe bezieht (Abschnitt 4). Des Weiteren soil im Rahmen einer kriti- schen Wurdigung (Abschnitt 5) McTaggarts Veranderungsbegriff analysiert und dabei eine modifizierte, auf McTaggarts Ereignisbegriff rekurrierende Analyseperspektive — zumindest thesenhaft — vorgeschlagen wer- den. Abschnitt 6 schlieBt die Uberlegungen mit einem ausblickenden Resumee ab.

2 McTaggartsTheorem, rekonstruiert

McTaggart entwickelt seine Argumentation fur die Irrealitat von Zeit in zwei Schritten: Zunachst argumen- tiert er in einem ersten Schritt dafur, dass Zeit die sogenannte A-Reihe voraussetzt (Konklusion Cl) (vgl. McTaggart 1993: 69-75). Vor diesem Hintergrund argumentiert er dann in einem zweiten Schritt fur die Unwirklichkeit der A-Reihe, woraus notwendigdie Unwirklichkeit der Zeit folgt (Konklusion C2) (vgl. ebd.: 77-80). Die zweistufige Argumentationskette lasst sich folgendermaBen differenzieren:

Pl Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus.

P2 Wirkliche Veranderung ist nur moglich in Verbindung mit der A-Reihe.

Cl Zeit setzt die A-Reihe voraus.

P3 Die A-Reihe ist widerspruchlich und deshalb nicht wirklich.

C2 Zeit ist nicht wirklich.

McTaggarts Argument fur die Unwirklichkeit der Zeit ist deduktiv gultig: Aus den Pramissen Pl sowie P2 folgt notwendig Konklusion Cl (Schritt 1); aus Cl zusammen mit P3 folgt notwendig Konklusion C2 (Schritt 2). Die diese zweiteilige Argumentationsfigur stutzenden Pramissen (Pl, P2, P3) werden im nach- folgenden Abschnitt konkretisiert. Dabei werden die von McTaggart eingefuhrten Notationen zur Analyse des Zeitphanomens, die A-Reihe und die B-Reihe, naher bestimmt.

Schritt 1

Schritt 2

3 Beweisfuhrung

3.1 Pramisse Pl: Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus

Wahrend McTaggart detaillierte Begrundungen der Pramissen P2 und P3 liefert — und dabei mogliche Ent- gegnungen hierauf antizipiert und zu entkraften versucht — scheint Pl (Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus) fur ihn unstrittig zu sein. McTaggarts Feststellung, dass „|j eder [...] zugestehen [wurde], dab die Zeit Veranderungen einschlieBt“ (McTaggart 1993: 69, Erg. FW), deutet darauf hin, dass er seiner Argu­mentation ein allgemein akzeptierbares — da alltaglich erfahrbares und deshalb als unhintergehbar zu be- trachtendes — Verstandnis von Zeitwahrnehmung zugrunde legt. McTaggart vertritt diese (vortheoretische) Auffassung von Zeit bereits in seinenStudies in the Hegelian Dialectic. 1 Hierin postuliert er u. a.: „Time only exists when change exists. The changeless would be the timeless" (McTaggart 1964: 162). Dass Zeit wirkli­che Veranderung voraussetzt, istdie vielleicht zentrale Pramisse in McTaggarts Beweisfuhrung und eine, die nicht so unbestreitbar zu sein scheint, wie McTaggart es behauptet. Sein Veranderungsbegriff wird deshalb noch kritisch zu reflektieren und zugleich ein Vorschlag fur die Analyse von McTaggarts Begriff des Ereig- nisses zu entwerfen sein (Abschnitt 5).

3.2 Exkurs: A-Reihe, B-Reihe

Ungleich erklarungsbedurftiger als Pl erweist sich fur McTaggart die zweite Pramisse (P2): Wirkliche Ver­anderung ist nur moglich in Verbindung mit der A-Reihe. Ihr widmet McTaggart eine ausfuhrliche Begrun- dung, in deren Zuge er zwei fur den zeitphilosophischen Diskurs seither maBgebende Notationen einfuhrt, um unterschiedliche Konzeptionen der Zeit systematisch erfassen zu konnen: die A-Reihe und die B-Reihe. Um nun McTaggarts Beweisfuhrung fur die Gultigkeit von P2 nachvollziehen zu konnen (Abschnitt 3.3), bedarf es zuvor eines begrifflichen Exkurses, in dessen Verlauf deutlich werden wird, was McTaggart meint, wenn er von Zeit als einer A-Reihe oder von Zeit als einer B-Reihe spricht. Diese beiden Beschreibungs- weisen der Zeit unterscheiden sich — grob gesagt — hinsichtlich des Status der Gegenwart.

Die A-Reihe lasst sich folgendermaBen prazisieren: Die Positionen in der Zeit2 lassen sich mit den Modi3 „vergangen, gegenwartig oder zukunftig" (McTaggart 1993: 67) beschreiben. Diese Begriffe sind re- lativ zur Perspektive eines Sprechers. „Mein Zug fahrt in 45 Minuten im Gare d'Austerlitz ein“ ist ein Bei- spiel fur eine solche sprecherrelative A-Aussage. A-Aussagen sind also indexikalisch, d. h., sie andern ihren Wahrheitswert mit der (zeitlichen und personalen) Perspektive. Die Reihe der Zeitpunkte verlauft in einer A-Reihe linear von „der weit entfernten Vergangenheit uber die nahe Vergangenheit bis zur Gegenwart und von der Gegenwart uber die nahe Zukunft bis zur weit entfernten Zukunft" (ebd.: 68). In einer A-Reihe existiert die Gegenwartals Gegenwart, und zwar alshewegliche, fnfliefiende Gegenwart, als in der Wirklichkeit genuin existierendes „irgendwie ,bewegtes‘ Jetzt“ (Friebe 2012: 43). Die Gegenwart lasst sich als phano- menologisch-privilegierte „direkte Wahrnehmung" (McTaggart 1993: 82) (beispielsweise eines Klangs) un­terscheiden von Erinnerungen (z. B. an einen vorausgehenden Klang), die auf das „Vergangensein“ (ebd.: 82) verweisen, sowie von Antizipationen (nachfolgender Klang), die auf die „Zukunftigkeit“ (ebd.) hinwei- sen. Man kann bei der A-Theorie der Zeit von einer tempushaften Zeittheorie sprechen, die die dynamische Seite der Zeit (d. h. die Prozesshaftigkeit von Ereignissen) und ihre transitorischen Aspekte (d. h. das Ent- stehen und Vergehen von Ereignissen) sowie ihre Gerichtetheit akzentuiert — so wie es sich beispielsweise beim (qualitativen) Horen eines ineinander verschmolzen erscheinenden Klangflusses, etwa einer Melodie, leicht vorstellen lasst.

Die B-Reihe lasst sich wie folgt spezifizieren: Jeder Zeitpunkt ist sowohl fruher als auch spater als andere Zeitpunkte. Dementsprechend operiert die B-Reihe mit lagezeitlichen4 Begriffen wie ,„fruher‘ und ,spater‘“ (ebd.: 68) — durchaus in konzeptioneller Analogie zu raumlichen Bestimmungen, z. B. mithilfe von Begriffspaaren wie „vor“ und „nach“ oder „hinten“ und „vorne“. Eine solche Bestimmung von Zeit bedarf keines spezifischen Gegenwartsbezugs und ist unabhangig von einer Sprecherperspektive. „Der Zug fahrt (am 1. August 2022) um 22.30 h im Gare d'Austerlitz ein“ ist ein Beispiel fur eine lagezeitliche B-Aussage, fur deren Wahrheitswert es unerheblich ist, zu welchem Zeitpunkt und von welchem Sprecher sie geauBert wird. AHe Zeitpunkte (und ihre Inhalte, die Ereignisse) bestehen immer, gleichsam in einem permanenten raumzeitlichen Ausgebreitetsein, und stehen in diesem dauerhaften Raumzeitgebilde in geordneten Bezie- hungen zueinander. Die B-Theorie von Zeit ist eine tempuslose Zeittheorie, die den Aspekt der Dauerhaf- tigkeit und des Statischen betont. Die ITlange einer Melodie beispielsweise lassen sich zueinander in lokali- sationistischen Vorher-nachher-Relationen beschreiben, die permanent bestehen, und zwar unabhangig von einem konkreten Gegenwartsbezug oder einem spezifischen Horer.

3.3 Pramisse P2: Wirkliche Veranderung ist nur moglich in Verbindung mit der A-Reihe

Soweit der Exkurs zu McTaggarts stipulativen Definitionen der A-Reihe und der B-Reihe als analytische Ressource zur Beschreibung des Zeitphanomens.5 Hiermit steht McTaggart das begriffliche Instrumenta- rium zur Verfugung, um die Zeit sondieren zu konnen im Hinblick darauf, welche der beiden Reihen fur die Realitat von Zeit de facto konstitutiv ist: ,,Die erste Frage, die wir bedenken mussen, ist die, ob es fur die Realitat der Zeit wesentlich ist, daB deren Ereignisse sowohl eine A-Reihe als auch eine B-Reihe bilden“ (McTaggart 1993: 68). Analytischer Fluchtpunkt der Beantwortung dieser Frage bleibt die mit Pramisse 1 eingefuhrte Bedingung, dass Zeit, wenn sie real sein soil, reale Veranderung voraussetzt. Welche der beiden Reihen ist es nun, lieBe sich fragen, durch die der Zeit ein Veranderungscharakter zukommt? Wenn bei­spielsweise eine B-Reihe ohne eine A-Reihe Zeit konstituieren kann, dann muss Veranderung sich allein durch eine B-Reihe und ohne eine A-Reihe erklaren lassen (vgl. ebd.: 69). Umgekehrt gilt: Wenn eine A- Reihe ohne eine B-Reihe Zeit konstituieren kann, dann kommt Veranderung allein durch eine A-Reihe und ohne eine B-Reihe zustande. McTaggarts Analyse des Zeitbegriffs bestatigt die letztere der beiden Positio- nen: Wirkliche Veranderung — und damit Zeit — kommt allein durch die A-Reihe zustande. In McTaggarts Worten: „Wir scheinen also zu dem Schluss gezwungen zu sein, daB alle Veranderung nur eine Veranderung der Charakteristika ist, die den Ereignissen aufgrund ihres Vorhandenseins in der A-Reihe zuteil werden“ (ebd.: 71). Und: „Ohne die A-Reihe gabe es [...] keine Veranderung" (ebd.).

Die Uberlegungen, die ihn zu diesem Schluss fuhren, lassen sich folgendermaBen kontextualisieren: Unter der Hypothese, dass die B-Reihe die Zeit konstituiert, ist ein Ereignis M immer exakt dieses Ereignis M an exakt seiner relational definierten, permanenten lagezeitlichen Position innerhalb des persistenten B- Raumzeitgefuges. Und muss es bleiben, denn: Das Ereignis M istals^Ereignis M, „als es selbst“ (ebd.: 70), dauerhaft in diesem B-Zeitgefuge fixiert, es „kann nicht anfangen oder aufhoren“ (ebd.: 69) und „nie aus irgendeiner [B-] Zeitreihe herauskommen“ (ebd., Erg. FW). In anderen Worten: Die B-I<onstituierung von Zeit lasst an M keine Veranderung zu. M kann auch nicht „in ein anderes Ereignis N ubergeh[en]“ (ebd.) und dadurch Veranderung erfahren. Ware dem so, dann hatte „M zu diesem Zeitpunkt aufgehort, M zu sein“ (ebd.). Innerhalb einer B-Zeit ist dies aus den vorgenannten Grunden — namlich, kurz: Ereignisse sind innerhalb eines permanenten B-zeitlichen Strukturgefugesals sie selbst statisch und relativ zueinander fixiert — unmoglich. Ergo: Eine B-Zeit lasst keine Veranderung zu und ist, unter Berucksichtigung von Pl, deshalb fur die Konstitution von Zeit ungeeignet. In McTaggarts Worten: „Folglich reicht die B-Reihe allein nicht fur die Zeit aus, da Zeit Veranderung einschlieBt“ (ebd.: 71).

Welche Charakteristika eines Ereignisses konnten es sein, „die sich verandern konnen und dennoch das Ereignis dasselbe Ereignis sein lassen“ (ebd.: 70), fragt nun McTaggart konsequenterweise und prazisiert seinen Gedankengang am Beispiel des Ereignisses des Todes von Konigin Anne. Dieses Ereignis, wahrend es doch bis ans „Ende der Zeit“ (ebd.)es selbst bleibt, verandere sich in einer Hinsicht sehr wohl: Es begann als zukunftiges Ereignis, war schlieBlich gegenwartig und wurde dann zu einem vergangenen Ereignis (vgl. ebd.: 70-71).Vergangen, gegenwartig^ gukunftig, also die Modi der A-Reihe — in dieser Hinsicht komme dem Tod von Konigin Anne tatsachliche Veranderung zu. Verallgemeinernd formuliert McTaggart: ,,[D]ie ein- zige Veranderung, die wir bekommen konnen, ist die von ,zukunftig‘ zu ,gegenwartig‘ und die von ,gegen- wartig‘ zu ,vergangen‘“ (ebd.: 79). Das heiBt: Es sind die A-Modi, durch die Ereignissen tatsachliche Veran­derung zukommt, ohne dass sie selbst eine Veranderung erfahren (mussten). Daraus folgt: Wirkliche Ver­anderung ist nur moglich in Verbindung mit der A-Reihe (wie von P2 gefordert). In Verbindung mit Pl (Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus) schlieBt McTaggart: Zeit setzt die A-Reihe voraus (Cl) — womit der erste Schritt seiner Argumentation vollzogen ist.

3.4 Pramisse P3: Die A-Reihe ist widerspruchlich und deshalb nicht wirklich

Um den zweiten Argumentationsschritt (hin zu C2: Zeit ist nicht wirklich) vergegenwartigen zu konnen, soil nachfolgend zunachst McTaggarts dritte Pramisse (P3) plausibilisiert werden, die besagt, dass die A- Reihe widerspruchlich und deshalb nicht wirklich ist. Die dieser Pramisse zugrunde liegende Denkfigur, die auf einen Widerspruch hinauslauft, lasst sich folgendermaBen verstehen: Die A-Modivergangen, gegenwartig undgukunftig sind McTaggart zufolge insofern inkompatibel, als dass es widerspruchlich ware, wenn sie alle gemeinsam aufein Ereignis M zutreffen wurden: „Jedes Ereignis muB entweder das eine oder das andere sein, aber kein Ereignis kann mehr als eines sein“ (McTaggart 1993: 78). Anders gesagt: Die veranderungs- produzierenden A-Modi konnen nicht gemeinsam real sein. Wurden diese A-Modi — bei denen es sich, wie oben (in 3.3) dargelegt, um das einzige Kriterium handelt, durch das Ereignissen wirkliche Veranderung zukommt — gemeinsam auf ein Ereignis M zutreffen, hatte dies zur Folge, dass das Ereignis keiner Veran­derung unterlage, da es dann keine zeitlich nacheinander inkompatiblen Eigenschaften mehr besaBe6. Taut McTaggart ist gerade dies aber der Fall:Vile drei A-Modi treffen gemeinsam aufein Ereignis zu, sind gemein- sam fur jedes Ereignis pradizierbar, denn „wenn M vergangen ist, ist es gegenwartig und zukunftig gewesen. Wenn es zukunftig ist, wird es gegenwartig und vergangen sein. Wenn es gegenwartig ist, ist es zukunftig gewesen und wird vergangen sein“ (ebd.: 79). Demnach wurden Ereignisse sich trotz oder gerade aufgrund der Zuschreibung der tatsachlich veranderungserzeugenden Modi der A-Reihe nicht verandern (konnen). Zusammenfassend lautet der Widerspruch: Alle dreiveranderungserzeugenden Modi der A-Reihe (vergangen, gegenwartig, zukunftig) sind inkompatibel und treffen doch gemeinsam auf jedes Ereignis zu, weshalb ihnen geradekeine wirkliche Veranderung zukommt.

Es ist nun diese Widerspruchlichkeit der A-Reihe bei ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit — die be- kanntermaben widerspruchsfrei zu sein hat —, woraus McTaggart schlussfolgert, dass die A-Reihe nicht wirklich ist. Vor diesem Hintergrund lasst sich nun in einem zweiten Schritt McTaggarts Unwirklichkeits- theorem abschliebend formulieren: Die Konjunktion von Cl (Zeit setzt die A-Reihe voraus) und P3 (die A- Reihe ist widerspruchlich und deshalb nicht wirklich) fuhrt notwendig zu dem Schluss, dass Zeit nicht wirk­lich ist (C2).

4 Einwand gegen die Inkompatibilitatsthese und McTaggarts Entgegnung

McTaggarts Theorem ist kritisch diskutiert worden. Einen offensichtlichen Einwand gegen die von ihm vorgebrachte Widerspruchlichkeit bzw. Inkompatibilitat der A-Reihe antizipiert er selbst: ,,Es ist nie wahr, so wird der Einwand lauten, dab M gegenwartig, vergangen und zukunftigist. Esist gegenwartig,wird ver­gangen sein und zVzukunftig^wW' (McTaggart 1993: 79, Herv. i. Org.). Gegner:innen der Inkompatibli- tatsthese behaupten also, in anderen Worten: Nur unter der Annahme, dass alle drei Charakteristika^TAWgeitig auf eine Ereignis zutreffen, ist es berechtigt, von einem Widerspruch zu sprechen. Kommen sie dem Ereignis hingegensukgessive zu — so wie es aus Sicht der Gegner:innen der Fall ist —, kommt es nicht zu der von McTaggart postulierten Inkompatibilitat und damit Widerspruchlichkeit der A-Reihe.

McTaggart entgegnet auf diese Gegenposition, indem er nun seinerseits die dieser Position zugrunde liegende Beweisfuhrung als widerspruchlich zu entlarven versucht: Sie enthalte namlich einenCirculus vitiosus. Der Zirkelschluss besteht McTaggart zufolge darin, dass Gegner:innen die Existenz der Zeit voraussetzen, um zu erklaren, wie Zeitpunkte vergangen, gegenwartig und zukunftig sind. Dass sie die Existenz der Zeit voraussetzten, komme dadurch zum Ausdruck, dass sie mit tempushaften Aussagen bzw. tempushaften Verbformen operieren wie „ist gewesen“ und „wird sein“, um (durch Ersteres) Vergangenes und (durch Tetzteres) Zukunftiges zu bezeichnen. Anders gesagt: Gegner:innen erklaren die veranderungserzeugenden A-Modi (vergangen, gegenwartig, zukunftig) mit dem Existieren der Zeit (namlich indem sie mit der Ver- gangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsform des Verbs operieren). Tatsachlich aber, so mochte McTaggart zeigen, bedarf esgunachst der A-Modi (vergangen, gegenwartig, zukunftig), umhieraus die Zeit (und Veran­derung alsdas Proprium der Zeit) zu erklaren. McTaggarts Vorwurf, prazisiert, lautet also: Gegner:innen erklaren die A-Reihe mit der Existenz der Zeit, die die A-Reihe voraussetzt. D. h., sie erklaren die A-Reihe mit der A-Reihe. „Und dies ist offenkundig ein Circulus vitiosus“ (ebd.: 79).

5 Kritische Wurdigung—Analyse des Ereignisbegriffs

Wie der seither anhaltende zeitphilosophische Diskurs belegt, hat McTaggart mit seinem Unwirklichkeits- theorem ohne Zweifel Mabgebliches zur modernen Zeitphilosophie beigetragen — nicht zuletzt durch die von ihm eingefuhrten Notationen der A-Reihe und der B-Reihe. Die z. T. kontroverse Rezeption seiner Thesen sei nachstehend um einen Entwurf fur die Analyse von McTaggarts Begriff des Ereignisses, ausge- hend von der Frage „Welcher Art sind die Entitaten, an denen Veranderung sich vollzieht?“, erganzt.

Dass Zeit wirkliche Veranderung voraussetzt (Pramisse Pl), ist — wie aus der vorstehenden Untersu- chung hervorgegangen sein durfte — eine, wenn nicht vielleicht die zentrale Pramisse in McTaggarts Beweis­fuhrung. Und eine, von der McTaggart behauptet, jeder wurde ihr zustimmen konnen (vgl. McTaggart 1993: 69). Sydney Shoemaker allerdings legt in seinem AufsatzTime 'Without Change (1969) eine Position dar, wo- nach Zeit durchaus ohne die McTaggart’sche Interpretation von Veranderung konzipiert werden kann. Vor dem Hintergrund dieser ITritik an McTaggarts Konzeptionierung von Zeit als abhangig von Veranderung lieBe sich legitimerweise fragen, mit welchem Verstandnis von Veranderung McTaggart bei seinen Untersu- chungen operiert. Jedoch: TieBe sich nicht vielleicht sogar ein grundsatzlicherer — und deshalb fur eine Reflexion seiner zentralen Annahme (Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus) aufschlussreicherer — Prob- lemzuschnitt vorstellen? Tatsachlich viabier, weil elementarer durfte folgende (zunachst trivial erscheinende) Fragestellung sein: Welcher Art sind die Entitaten, an denen wirkliche Veranderung sich vollzieht?

Es scheint berechtigt, davon auszugehen, dass es sich bei den Entitaten, die McTaggart seiner Zeitana- lyse zugrunde legt, um Ereignisse{events) handelt. Jedenfalls definiert er die Inhalte von Zeitpunkten{mo­ments) auf diese Weise: ,,Die Inhalte einer Position in der Zeit [Zeitpunkt] werden ,Ereignisse‘ genannt“ (McTaggart 1993: 68, Erg. FW). McTaggarts zentrale Pramisse (Pl):Zeit setyt wirkliche 'Veranderung voraus lasst sich deshalb wie folgt reformulieren (Pl.l):Zeit setgt wirkliche 'Veranderung von Treignissen (events') voraus. Unter Zuhilfenahme einer klassischen Definition des Begriffsevent verstanden als: „anything that [...] happens" (Harper Collins 1998: 535), lasst Pl sich ein zweites Mai reformulieren (Pl.2):Zeitsetgtwirkliche 'Veranderung von allem, wasgeschieht, voraus. Diese Formulierung wirft unweigerlich die folgende Frage auf: Kann etwas, das geschieht, anders vorgestellt werden als sich verandernd? Impliziert nicht gerade die Idee eines Geschehnis- ses Veranderung? Tetztere Frage, wenn affirmiert, fuhrt unweigerlich zu einer dritten Reformulierung (Pl.3):Zeit setyt wirkliche 'Veranderung von allem, was sich verandert, voraus. Zusammenfassend lasst sich also — ausgehend von der transformativen Frage nach den Entitaten der Veranderung — folgende Argumentationsskizze her- auspraparieren:

Pl Zeit setzt wirkliche Veranderung voraus.

Pl.l Zeit setzt wirkliche Veranderung von Ereignissen{events) voraus. Pl.2 Zeit setzt wirkliche Veranderung von allem, was geschieht, voraus.7

Pl.3 Zeit setzt wirkliche Veranderung von allem, was sich verandert, voraus.

In gewisser Weise erinnert Pl.3 strukturell an Donald Williams (polemische) Kritik am Konzept des Ver­gehens(passage), wonach an Geschehnissen{happening) ein Geschehen{happening) noch einmal geschieht{happen)? Was nun ist die Quintessenz der bisherigen, zugegebenermaBen thesenhaften Analyse? Ihr kriti- sches Moment lasst sich prima facie in zumindest drei mogliche Deutungsweisen auflosen: Wenn Veranderung sich (trivialerweise) aufgrund ihrer ureigensten Natur — eben der Veranderung — verandert, weshalb, so lieBe sich berechtigterweiseerstens nachfragen, einem Ereignis (alles, was sich verandert) eineveranderungsergeugende A-Reihe aufokulieren? Hat dies nicht unweigerlich eine Uberbestimmtheit des Phano- mens der Veranderung zur Folge? Wenn diese zusatzliche Annahme veranderungserzeugender A-Modi uberflussig ist, weshalb sie nicht schlichtweg beiseitelassen? Oder, so lieBe sich McTaggartgweitens entgeg- nen: Wenn der Veranderungscharakter von Ereignissen in dem Begriff von Ereignissen bereits wesensmaBig enthalten ist — formelhaft ausgedruckt: wenn Ereignissen eine A-Strukturiertheit inharent ist —, kann seine Analyse der Zeit dann, ceteris paribus, jemals zu einem anderen als zu dem Ergebnis fuhren, dass die Zeit irreal ist? Es lieBe sich deshalb aus gutem Grund kritisch anmerken: 1st der Begriff des Ereignisses geeignet, ist er als Indikator ausreichend tragfahig fur eine angemessene Uberprufung der Wirklichkeit bzw. Unwirk­lichkeit eines so unleugbar wahrnehmbaren Phanomens wie der Zeit? Sowiedrittens, hieraus abgeleitet, lieBe sich diagnostizieren: Moglicherweise ist es nicht ausreichend, sich McTaggarts Ereignisbegriff nur aus seinen Ausfuhrungen hierzu inThe Unreality o/Time zu erschlieBen, sondern ist hierzu perspektiverweiternd sein gesamtes philosophisches ffiuvre zu analysieren.8

6 Ausblickendes Resumee

Mit den vorstehenden Ausfuhrungen wurde intendiert, McTaggarts Theorem der Irrealitat der Zeit zu re- konstruieren sowie die dieses Theorem rahmende Heuristik und die ihr zugrunde liegenden Annahmen zu prazisieren. Zu diesem Zweck wurde auch das von ihm eingefuhrte begriffliche Repertoire der tempushaf- ten, modalzeitlichen A-Reihe und der tempuslosen, lagezeitlichen B-Reihe erortert. Daruber hinaus wurde einer der Einwande gegen McTaggarts Irrealitatsthese sowie seine Entgegnung hierauf skizziert. Abschlie- Bend wurde sein Veranderungsbegriff kritisch hinterfragt und dabei ein Entwurf fur die Analyse seines Er- eignisbegriffs schabloniert, der zum einen zeigt, dass Ereignissen Veranderung als Eigenschaft inharent ist und zum zweiten nahelegt, dass der von McTaggart inIrrealitat der Zeit verwendete Ereignisbegriff um- fassender zu perspektivieren ist.

Bis heute sind McTaggarts Theorieangebote fur den modernen zeitphilosophischen Diskurs ideenge- bend. In mehreren Hinsichten sind seine Ausfuhrungen sowohl systematisch als auch ideengeschichtlich anschlussfahig. Beispielsweise durfte folgende Anschlussforschunglohnend sein: Eine Analyse des von ihm verwendeten Begriffs der Gegenwart (insbesondere dahingehend, ob und wie Gegenwart als ausgedehnt zu denken ist); eine sprachphilosophische Dekonstruktion beispielsweise seiner Inkompatibilitatsthese; ein Theoretisieren der Implikationen der Nichtexistenz von Zeit sowohl aus sozialontologischer (z. B. plu- ralsubjekttheoretischer) als auch aus individualpsychologischer Perspektive (spezifisch: Zeit in der Bedeu- tung von Tebenszeit und in diesem Sinne als identitatskonstituierend und sinnstiftend); und nicht zuletzt eine wissenstheoretische und geschichtsphilosophische Aufarbeitung der Signatur, die McTaggarts Uberle­gungen seither in der weitverzweigten zeitphilosophischen Debatte hinterlassen haben.

Der Jazzimprovisation und ihrer akustischen Eindringlichkeit und kreativen Spontaneitat allerdings durfte dies einerlei sein, war es wohl immer einerlei gewesen und wird es wohl immer einerlei bleiben.

Literatur

Dupre, John A./Nicholson, Daniel (2018): A Manifesto for a Processual Philosophy of Biology. In: Dies. (Hrsg.):'Everything Elows. Towards a ProcessualPhilosophy ofBiology. Oxford: Oxford University Press: S. 3­46.

Friebe, Cord (2012):Zeit— Wirklichkeit — Persistent EineprasentistischeDeutungderRaumgeit. Paderborn: Mentis.

McDaniel, Kris:John M. E. McTaggart. In: Zalta, Edward N. (Hrsg.): Standford Encyclopedia of Philoso­phy (Summer 2020 Edition). URL = https://plato.stanford.edu/archives/sum2020/entries/mctag- gart/. Abgerufen zuletzt am Ol.Juni 2022.

McTaggart,John M. E. (1964) [1896]:Studies in the Vegelian Dialectic. New York: Russell & Russell.

McTaggart,John M. E. (1993) [1908 im englischen OriginalThe Unreality ofTimep Die Irrealitat der Zeit. In: Zimmerli, Walther Ch./Sandbothe, Mike (Hrsg.):Elassiker der modemen Zeitphilosophie. Darmstadt: Wiss. Buchges., S. 67-86.

Pons Dictionary of the English Language (1998). 4. Aufl. Harper Collins. Aylesbury.

Sieroka, Norman (2018):Philosophic derZeit— Grundlagen und Perspektuen. Munchen: C.H. Beck.

Shoemaker, Sydney (1969): Time Without Change. In:The]ournalofPhilosophy, Vol. 66, No. 12. 19.Juni 1969. NewYork: S. 363-381.

Stock, Ulrich: Handgepresstesjetzt. In:Die Zeit, Nr. 20. 12. Mai 2022. Hamburg: Zeitverlag, S. 69.

Whitehead, Alfred N. (2018) [1929 im englischen OriginalProcess and Reality. An Essay in Cosmology\'. Proyefi undRealitat. EntwurpeinerEosmologie. 8. Aufl. Frankfurt: Suhrkamp.

Williams, Donald C. (1951): The Myth of Passage. In:Thejoumal opPhilosophy, Vol. 48, No. 15. 19.Juli 1951. New York: S. 457-472.

[...]


1 Kris McDaniel merkt dies in seinem Beitrag zujohn M. E. McTaggart in derStandford Encyclopedia ofPhilosophy an.

2 Positionen in der Zeit bezeichnet McTaggart als Zeitpunkte. Die Inhalte eines Zeitpunkts bezeichnet er als Ereigmsse (vgl. McTaggart 1993: 68).

3 Norman Sieroka spricht in diesem Zusammenhang von der A-Reihe alsmodalyeitlicher Ordnung von Ereigmssen, wonach Ereigmsse sich „hinsichtlich der Frage, ob [...] Ereigmsse gegenwartig, oder (mehr oder weniger) vergangen oder zukunftig sind“ (Sieroka 2018: 15) ordnen lassen. Bei der B-Reihe hingegen handelt es sich um einelageyeitliche Ordnung von Ereigmssen „gemah dessen, was allgemein fruher oder spater ist“ (ebd.: 16).

4 Siehe FuBnote 3.

5 McTaggart fuhrt zwar noch eine C-Reihe ein; fur die Belange der vorliegenden Arbeit ist diese jedoch nicht ausschlagge- bend.

6 Dieser Uberlegung liegt ein Verstandnis von Veranderung zugrunde, demgemah sich verandemde Ereignisse dadurch auszeichnen, dass sie zeitlich nacheinander inkompatible Merkmale haben.

7 InThe Myth ofPassage (1951) ubt Donald Williams grundsatzliche Kritik am Konzept vom Vergehen von Zeit{passage) und lehnt es als Mythos{myth') rundweg ab. Etwas polemisch formuliert er: „[I]t is not necessary or possible that happening should happen to [...] [happenings] all over again” (Williams 1951: 464, Erg. FW). Demnach ist es weder notwendig noch moglich, dass an Geschehnissen{happenings') ein Geschehenpappenin) noch einmal geschieht^happen). Auch McTaggarts A-Reihe unterliege dieser Fehlkonzeption: “[Passage] is the mainspring of McTaggart’s ,A-series‘ which puts movement in time“ (ebd.: 461, Erg. FW). Also: Vergehen ist die treibende Kraft in McTaggarts A-Reihe, die Bewegung in die Zeit hineinbringt.

8 Diese Definitionsrecherche konnte flankiert werden durch Ereigmsdefinitionen weiterer Denker, wie etwa durch Alfred North Whiteheads Prozesshaftigkeit von atomistischen Ereignissen (siehe hierzu insbesondereProyefi und Realitat S. 57-70, S. 111-122 und S. 149-156) oder durch John A. Dupres und Daniel J. Nicholsons organische Konzeption von Ereignissen als ein dynamisches Kontinuum(dynamic continuum') (siehe hierzu insbesondere das einleitende KapitelAM-anifestofor a Proces- sualPhilosophy ofBiology inPveythingPlows. 'Towards aProcessualPhilosophy ofBiology).

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Details

Titel
McTaggarts Theorem der "Unwirklichkeit der Zeit". Rekonstruiert und kritisch reflektiert
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Seminar zur Metaphysik der Zeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
10
Katalognummer
V1257851
ISBN (eBook)
9783346696946
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Metaphysik, Zeit, McTaggart, A-Reihe, B-Reihe, A-Theorie, B-Theorie, Gegenwart, modalzeitlich, lagezeitlich, Ereignis
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Dipl.-Ing. (FH); MBA Falk Wisinger (Autor:in), 2022, McTaggarts Theorem der "Unwirklichkeit der Zeit". Rekonstruiert und kritisch reflektiert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1257851

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Titel: McTaggarts Theorem der "Unwirklichkeit der Zeit". Rekonstruiert und kritisch reflektiert



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