Das Werk bietet, aus einer empirischen Sichtweise heraus einen Einblick in die Selbsterfahrungen zweier körperbehinderter Menschen in jeweils zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen. Dem der ehemaligen DDR und dem des heutigen wiedervereinten Deutschland. Es wird deutlich, wie beide ihre Behinderung in unterschiedlichen sozialen Kontexten erlebt haben. Die methodische Grundlage dieser Arbeit liegt in der `Analyse biografischer Prozessstrukturen` unter der Einbeziehung grundlegender Aussagen des symbolischen Interaktionismus und des Materialismus.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1.Einleitung
Kapitel I: Theoretischer Teil
2.Klärung von Begrifflichkeiten
2.1.Der Begriff der Behinderung
2.2.Der Begriff der Körperbehinderung
2.3.Der Begriff der Biografie
3.Zur theoretischen Sichtweise
3.1.Der Materialismus
3.2.Der symbolische Interaktionismus
4.Zum Erhebungsverfahren
4.1.Das narrative Interview
4.1.1.Die Analyse der Interviews
4.1.2.Zur Transkription des Erzähltextes
Kapitel II: Empirischer Teil
5.Erfahrungen bei der Erhebung der Interviews
6.Inhaltliche Zusammenfassung beider Biografien
6.1.Einblick in die Biografie von Frau A
6.2.Einblick in die Biografie von Frau B
7.Kontrastive Analyse der Interviews
7.1.Biografische Handlungspläne
7.1.1. Frau A:„Ich hab mich also wirklich nur über Leistung definiert.“
7.1.2. Frau B: „Und mein Ziel war, selbständig zu leben und ne Familie zu haben.“
7.2. Verlaufskurven des Erleidens
7.2.1. Frau A: „Und dann bin ick zusammenjeklappt. Dann ging da halt nix mehr.“
7.2.2. Frau B:„Der schwerste Umbruch war für mich äh den Beruf
uffzugeben.“
7.3.Institutionelle Erwartungshaltungen
7.3.1. Frau A:„Und ich hätte gerne was mit Kindern gemacht. Gut, das hatte sich dann äh aufgrund meiner Behinderung erledigt."
7.3.2. Frau B:„Äh und der hat zu meiner Mutter jesagt, dieser Krüppel lernt nie schwimmen.“
7.4. Biografische Wandlungsprozesse
7.4.1. Frau A:„Dann ham se mir auch n Weg äh gewiesen, wie ich denn aus diesen Tief wieder herauskommen kann, ne.“
7.4.2. Frau B:„Und ich bin ebend, nachdem es nach einem Jahr machbar war, äh in den Behindertenbeirat einjetreten.“
8. Abschlussdiskussion
Literaturverzeichnis
Anhang
Transkriptionsdesign
Selbständigkeitserklärung
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Einleitung
Kapitel I: Theoretischer Teil
2. Klärung von Begrifflichkeiten
2.1. Der Begriff der Behinderung
2.2. Der Begriff der Körperbehinderung
2.3. Der Begriff der Biografie
3. Zur theoretischen Sichtweise
3.1. Der Materialismus
3.2. Der symbolische Interaktionismus
4. Zum Erhebungsverfahren
4.1. Das narrative Interview
4.1.1. Die Analyse der Interviews
4.1.2. Zur Transkription des Erzähltextes
Kapitel II: Empirischer Teil
5. Erfahrungen bei der Erhebung der Interviews
6. Inhaltliche Zusammenfassung beider Biografien
6.1. Einblick in die Biografie von Frau A
6.2. Einblick in die Biografie von Frau B
7. Kontrastive Analyse der Interviews
7.1. Biografische Handlungspläne
7.1.1. Frau A: „Ich hab mich also wirklich nur über Leistung definiert.“
7.1.2. Frau B: „Und mein Ziel war, selbständig zu leben und ne Familie
zu haben.“
7.2. Verlaufskurven des Erleidens
7.2.1. Frau A: Und dann bin ick zusammenjeklappt. Dann ging da halt
nix mehr.“
7.2.2. Frau B: „Der schwerste Umbruch war für mich äh den Beruf
uffzugeben.“
7.3. Institutionelle Erwartungshaltungen
7.3.1. Frau A: „Und ich hätte gerne was mit Kindern gemacht. Gut, das hatte
sich dann äh aufgrund meiner Behinderung erledigt.“
7.3.2. Frau B: „Äh und der hat zu meiner Mutter jesagt, dieser Krüppel lernt
nie schwimmen.“
7.4. Biografische Wandlungsprozesse
7.4.1. Frau A: „Dann ham se mir auch n Weg äh gewiesen, wie ich denn
aus diesen Tief wieder herauskommen kann, ne.“
7.4.2. Frau B: „Und ich bin ebend, nachdem es nach einem Jahr machbar war,
äh in den Behindertenbeirat einjetreten.“
8. Abschlussdiskussion
Literaturverzeichnis
Anhang
Transkriptionsdesign
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Übersicht des Forschungsdesigns
Abbildung 2: Erkenntnistheoretische Aussagen des Materialismus
Abbildung 3: Erkenntnistheoretische Aussagen des Idealismus
Abbildung 4: Erkenntnistheoretische Aussagen des symbolischen Interaktionismus
Abbildung 5: Strukturelle Darstellung des narrativen Interviews
Abbildung 6: Darstellung der biografischen Prozessstrukturen
Abbildung 7: Darstellung des interaktiven Bezuges zwischen Individuum und Gesellschaft
Vorwort
Zunächst einmal bin ich froh darüber innerhalb von kürzester Zeit zwei Personen gefunden zu haben, die sich bereit erklärten mir im Rahmen dieser Arbeit ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Es ist sicherlich nicht selbstverständlich, dass Menschen sich einer für sie fremden Person insoweit öffnen, dass sie Einblick in ihr privates Leben ermöglichen und dabei auch noch über ihre eigenen Befindlichkeiten sprechen. Daher gilt mein Dank an dieser Stelle den beiden Frauen, die mir diesen Einblick in ihr persönliches Leben gestattet haben und dadurch überhaupt erst die Anfertigung dieser Arbeit ermöglicht haben. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Winfried Baudisch und Prof. Dr. Fritz Schütze, die diese Arbeit mit wichtigen Hinweisen und Literaturvorschlägen begleitet haben. Ebenso möchte ich Katja und Etienne danken, die mich ebenfalls mit konstruktiven und kritischen Anmerkungen unterstützt hat.
1. Einleitung
„Menschliche Natur gibt es nur in Form anthropologischer Konstanten – zum Beispiel Weltoffenheit und Bildbarkeit des Instinktapparates. Die anthropologischen Konstanten machen die sozio – kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich und beschränken sie zugleich“ (Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas; 1980: S. 51). Meiner Ansicht nach, ist dieses Zitat von Berger und Luckmann ein gutes Beispiel zur Verdeutlichung und Einleitung in das Thema dieser Magisterarbeit. Aus Zitat geht hervor, dass der Mensch bestimmte Voraussetzungen in die Gesellschaft mit einbringt, welche hierbei als `anthropologische Konstanten` bezeichnet werden und welche seine menschliche Natur darstellen. Berger und Luckmann versuchen mit ihrer Beschreibung eine menschliche Natur abzubilden, welche die Grundlage für eine menschliche Gesellschaft und somit auch für die Sozialisation in die Gesellschaft bilden soll. Sie betonen zurecht, dass die `anthropologischen Konstanten` zugleich die sozio – kulturellen Schöpfungen des Menschen möglich machen als auch beschränken. Es kommt dabei nicht nur darauf an, welche Voraussetzungen der Mensch mitbringt, also welche `anthropologischen Konstanten` ihm zugrunde liegen, sondern ebenso wichtig ist dabei die Beschaffenheit seines sozialen Umfeldes. Die menschliche Natur kann sich demnach also nur unter entsprechenden Voraussetzungen entwickeln. Bestimmte Anlagen, die der Mensch in den Sozialisationsprozess einbringt, können sich jedoch auch zurückentwickeln, wenn die entsprechenden Voraussetzungen in seinem sozialen Umfeld nicht gegeben sind. Beides hängt davon ab, was das soziale Umfeld dem einzelnen Menschen zu bieten hat. Wenn ein Mensch eine musikalische Veranlagung besitzt, jedoch nie die Gelegenheit ergreifen kann, ein Instrument spielen zu lernen, so wird sich diese Veranlagung bei ihm nicht weiterentwickeln. Es findet somit ein ständiger Interaktionsprozess zwischen Mensch und Umwelt statt und in diesem Interaktionsprozess liegt das Entwicklungspotential der menschlichen Natur. Die menschliche Natur ist demnach die Grundlage für eine sozio – kulturelle Entwicklung des Menschen, wobei aus dem bisher Gesagten hervorgeht, dass diese Entwicklung bei jedem Menschen anders verläuft. „So kann man zwar sagen: der Mensch hat seine Natur. Treffender wäre jedoch: der Mensch macht seine eigene Natur – oder, noch einfacher: der Mensch produziert sich selbst“ (Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas; 1980: S. 51-52). Ich werde mich, wie mit den eben gemachten Erläuterungen bereits angedeutet wurde, in dieser Arbeit insbesondere auf den symbolischen Interaktionismus beziehen, in dessen Denktradition auch Berger und Luckmann stehen. Im Hinblick auf die Lebensgeschichte des einzelnen soll diese hier demnach unter Berücksichtigung der Annahmen des symbolischen Interaktionismus betrachtet und re – konstruiert werden. Dabei tritt sich der Erzählende selbst gegenüber und wird aufgefordert seine eigene Lebensgeschichte zu reflektieren. Ebenso im Blickfeld der Arbeit müssen diejenigen Faktoren stehen, welche für die Entwicklung des Individuums mitbestimmend sind. Das ist zum Einen das Individuum selbst und zum Anderen sind es die Institutionen, welche das Leben des Individuums begleiten und prägen. Welchen Einfluss unter anderem also die gesellschaftlichen Institutionen haben, soll aus der Sichtweise des Individuums erschlossen werden. Nach Fritz Schütze ist die Handlungs – und Planungsautonomie des Individuums biografischen Prozessstrukturen unterworfen, die es selbst nur begrenzt beeinflussen kann. „The most important odering principles of life history are biographical process structures“ (Schütze, Fritz; 2007: S.11). Solche begrenzt beeinflussbaren biografischen Prozesstrukturen umfassen unter anderem institutionelle Erwartungshaltungen, wie die der Familie oder der Schule. Die eigene Individualität ist somit nichts anderes als eine Lebenskonstruktion, welche sich auf die vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen zurückführen lässt. Wie ich mit dem obigen Zitat von Berger und Luckmann deutlich machen wollte, spielen dabei ebenso die Fähigkeiten und Fertigkeiten, welche ein Individuum in diesen Prozess einbringt, eine Rolle. Dabei kommt es jedoch, wie bereits gesagt wurde, ebenfalls darauf an, welches soziale Umfeld der einzelne vorfindet und was dieses Umfeld an Entwicklungspotential anzubieten hat.
„Biographie wird als sozialer Prozeß untersucht, der als Ergebnis von Interaktionen innerhalb gesellschaftlicher und institutioneller Rahmenbedingungen abläuft. Mit der Analyse individueller Biographien werden damit auch soziale Rahmen und kollektiv – historische Abläufe in ihren Auswirkungen auf die Lebensführung und die Lebensgeschichte sichtbar“ (Jakob, Gisela; 1997 In: Friebertshäuser, Barbara; Prengel, Annedore: S.447).
Aufgabe soll es sein, mit Hilfe der Methode des narrativen Interviews zu zeigen, wie Behinderung, in diesem Fall speziell die Körperbehinderung, unter dem Einfluss sozialer Interaktionen stattfindet und unter welchen sozialen Bedingungen sie ablaufen kann oder sogar bedeutungslos werden kann. Hierbei sollen die beiden Interviews miteinander kontrastiert werden, um die Gemeinsamkeiten oder aber auch Unterschiede der einzelnen Erlebnisse differenziert darstellen zu können. Um die Verschiedenheit von Behinderung in gesellschaftlichen Kontexten hervorzuheben, habe ich mich entschieden, Interviews mit körperbehinderten Personen durchzuführen, welche im Hinblick auf ihre Behinderung, Erfahrungen in zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen gesammelt haben. Es handelt sich dabei um zwei Frauen, die sowohl in der ehemaligen DDR als auch im wiedervereinigten Deutschland Lebenserfahrungen gesammelt haben. Der Begriff der Behinderung soll dabei auf der Grundlage der Arbeiten von Wolfgang Jantzen herausgearbeitet werden. Jantzen ist Vertreter der kritischen Behindertenpädagogik und hat in seinen Arbeiten unter anderem die gesellschaftliche Dimension der Behinderung in den Vordergrund gestellt. Da Jantzen sich diesem Begriff aus einer materialistischen Sichtweise genähert hat, habe ich mich dazu entschlossen diese Theorie in die Arbeit mit einzubauen. Dabei wird jedoch schwerpunktmäßig die gesellschaftstheoretische Relevanz in bezug auf den Begriff der Behinderung eine Rolle spielen. Mit dem Bezug auf Jantzen wird deutlich, dass in dieser Arbeit zwei unterschiedliche Gesellschaftstheorien diskutiert werden. Zum einen die des symbolischen Interaktionismus und zum anderen die des Materialismus. So unterschiedlich diese beiden Theorien auch sein mögen, wird sich im Laufe der Arbeit zeigen, dass zwischen ihnen auch durchaus Gemeinsamkeiten zu finden sind, die mir bezüglich dieses Themas doch sehr hilfreich erscheinen. Sowohl die Inhalte der einzelnen Methoden, welche hier aufgelistet wurden, als auch die Frage, warum diese Methoden mir mit Blick auf dieses Thema als geeignet erscheinen, will ich nun in den folgenden Abschnitten der Arbeit näher betrachten. Zunächst soll das folgende Schaubild jedoch dazu dienen, dem Leser noch einmal einen Überblick über das eben von mir erläuterte Forschungsdesign zu ermöglichen.
Abbildung 1: Übersicht des Forschungsdesigns
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kapitel I: Theoretischer Teil
2. Klärung von Begrifflichkeiten
In diesem Abschnitt will ich zunächst die wesentlichen Begrifflichkeiten erörtern und ihre Bedeutung im Hinblick auf diese Arbeit diskutieren. Es geht vor allem darum, deutlich zu machen, welche Sichtweise den verwendeten Begriffen in dieser Arbeit zugrunde liegt, denn es gibt zum Beispiel bezüglich des Begriffes Behinderung ganz unterschiedliche Definitionen. Selbstverständlich kann ich dem Umfang der verschiedenen Sichtweisen auf den Begriff der Behinderung hier nicht gerecht werden, daher sollen die Begriffe hier vor allem unter Berücksichtigung des theoretischen Rahmens erörtert werden. Dabei geht es besonders darum Klarheit hinsichtlich der Verwendung der Begriffe zu schaffen und nicht allgemeine Definitionen für sie zu entwickeln. Besonders aus der Sicht des symbolischen Interaktionismus wird im Laufe der Arbeit deutlich werden, dass Begriffe keine starren Gebilde, sondern von kontextuellen Bedeutungszuschreibungen abhängig sind. Sie dienen dazu uns Orientierung in unserem sozialen Umfeld zu geben. Daher soll ihre Bedeutung sowohl als konstruiert aber auch kontruierend und nicht als dogmatisch gesehen werden. Anselm Strauss macht diesen Tatbestand anhand der Bewertung von Objekten deutlich. Strauss sagt hierzu, dass der Mensch dabei nicht unbedingt eine direkte neue Erfahrung machen muss, sondern aus den Beziehungen zwischen den Objekten ebenso zu neuen Erkenntnissen über jene Objekte gelangen kann. „Auch ohne direkte neue Erfahrung läßt sich etwas Neues über ein Objekt lernen – so wie man im Gefängnis etwas Neues über das Leben lernen kann, oder wie ein Student, der geologische Schichten und Regenfälle untersucht, dabei zu anderen Beziehungen zu Felsen, Regen und Wasser kommt“ (Strauss, Anselm; 1974: S.23). Somit wird deutlich, dass sich aus dem Vergleich beider Interviews und der Anwendung der theoretischen Ausgangspunkte ebenso neue Erkenntnisse gewinnen lassen, wie aus der direkten Analyse der Interviews.
2.1. Der Begriff der Behinderung
Ich möchte nun auf den Begriff der Behinderung näher eingehen, wobei ich mich auf Vertreter des symbolischen Interaktionismus sowie auf Wolfgang Jantzen beziehen werde, der, wie ich bereits gesagt habe, den Begriff Behinderung im Hinblick auf den gesellschaftlichen Kontext aus einer materialistischen Perspektive diskutiert hat. Wie aus der Einleitung bereits hervorgeht, will diese Arbeit nicht ausschließlich die medizinischen Dimensionen einer Behinderung, in dieser Arbeit speziell die Körperbehinderung, in den Vordergrund stellen, sondern bestimmte mit ihr verbundene soziale Konsequenzen erörtern. Dabei ist jedoch zu beachten, dass beide Dimensionen in Wechselwirkung miteinander verstanden werden sollen. Aus diesem Verständnis heraus ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und somit die Überwindung von Barrieren in erster Linie in den Defiziten des sozialen Umfeldes zu suchen und nicht als Defizit der betroffenen Person zu verstehen. So sieht auch Winfried Baudisch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch soziale Defizite erschwert und wirbt mit seiner Sichtweise auf den Begriff Behinderung für ein besseres Verständnis der Ursachen von Behinderung. „Wenn ein solches Grundverständnis ausgebildet ist, dann wird die defizitäre Sicht auf die Person ersetzt durch die kritische Prüfung der komplexen bio-psycho-sozialen Bedingungen, unter denen sich menschliche Entwicklung vollzieht und menschenwürdiges Leben selbstbestimmt gestaltet werden kann“ (Baudisch, Winfried; 2004 In: Baudisch, Winfried; Schulze, Marion; Wüllenweber, Ernst: S.21). Aus diesem Zitat lässt sich herauslesen, dass es hierbei auch um das Verstehen einer möglichen Konstruktion von Behinderung in Verbindung mit gesellschaftlichen Kontexten geht. „Behinderung ist nicht durch die bloße Funktionsbeeinträchtigung bereits eine Behinderung, sondern erst durch die Erschwerung der gesellschaftlichen Partizipation, die diese mit sich bringt (Hensle, Ulrich; Vernooij, Monika A.; 2002: S.11). Da gesellschaftliche Kontexte jedoch ganz unterschiedlich sein können, äußern sich gesellschaftliche Partizipationen im Kontext von Funktionsbeeinträchtigungen ebenso ganz unterschiedlich. Hierzu findet sich in der IFC, der internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit folgende Darstellung: „Behinderung ist gekennzeichnet als das Ergebnis oder die Folge einer komplexen Beziehung zwischen dem Gesundheitsproblem eines Menschen und seinen personenbezogenen Faktoren einerseits und den externen Faktoren, welche die Umstände repräsentieren, unter denen das Individuum lebt, andererseits“ (IFC; 2005: S.20). Dabei meint personenbezogene Faktoren alle jene Faktoren, die der Lebensführung der Person zugrunde liegen. Solche Faktoren können unter anderem Bildung, Herkunft, Gesundheitszustand, Beruf, Erfahrungen und vieles andere sein. In einem Gebäude als externer Faktor, dass über keine Rollstuhlauffahrt verfügt, wird die Funktionsbeeinträchtigung `Gehen` als personenbezogener Faktor für einen gehbehinderten Menschen durchaus zum Problem, während diese Funktionsbeeinträchtigung in einem Gebäude mit Rollstuhlauffahrt in dieser Hinsicht keine Rolle spielt. Der betroffene Mensch kann sein Ziel, welches darin besteht, das Gebäude ohne fremde Hilfe betreten zu können, selbständig und unabhängig erreichen. Was die Gesellschaft erschafft, was sie hervorbringt, wird konstruiert und beeinflusst in entscheidender Weise unser Leben. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um Naturgesetze handelt, sondern um gesellschaftliche Zustände, die in ihrem Dasein ständigen Veränderungsprozessen. Das bedeutet, was sozial hervorgebracht wird, ist auch veränderbar. Sei es nun ein Gebäude, das geforderte Maß an Bildung oder das nötige Wissen um einen beruflichen Werdegang beschreiten zu können oder sei es eine beliebige Art sich fortbewegen zu können, auf welche Weise auch immer, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Und wenn es darum geht ein bestimmtes von der Gesellschaft gesetztes Ziel zu erreichen, muss bedacht werden, dass hierzu eben auch unterschiedliche Wege eingeschlagen werden können und der uns vertraute und bekannte Weg nicht zwingend der einzige sein muss.[1] Die Einschränkungen, welche unter anderem Menschen mit einer Körperbehinderung in einer Gesellschaft erfahren, von der ausgegangen werden soll, dass sie sozial konstruiert ist, können demnach ebenfalls als logische Konsequenz nur sozial konstruiert sein. Dieser sozialen Konstruktion obliegt die Bedeutung, welche wir den Dingen in unserer Umwelt zuschreiben. Ethnologische Studien zeigen jedoch auch, dass diese Bedeutungen keine konstanten Größen sind, sondern sie sind kulturell verschieden und in ihrer Zeitlichkeit nicht beständig[2]. Die Bedeutung, welche wir den Dingen in unserer Umwelt beimessen, hat zur Folge, dass wir bestimmte Erwartungshaltungen entwickeln. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, kommen wir zu dem Schluss, dass die in unserer Vorstellung manifestierten Bedeutungen nicht eingehalten werden. Übertragen werden solche Erwartungshaltungen und Bedeutungszuschreibungen durch Interaktionen. Somit ist eine Behinderung aus interaktionistischer Sichtweise eine Folge von nicht erfüllten Erwartungshaltungen, welche wir an unsere Umwelt und somit auch an die uns umgebenden Menschen stellen.[3] Die Diskussion zum Begriff der Behinderung bezieht sich desweiteren auf die Möglichkeit der Selbstbestimmung und somit insbesondere auf die Fähigkeit der Selbstversorgung. Aus Sicht einer materialistischen Denkweise bezüglich der Selbstversorgung behinderter Menschen in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung beschreibt Jantzen den Begriff der Behinderung wie folgt: „Es resultiert für große Teile der Bevölkerung damit der Tatbestand, nur noch über ` Arbeitskraft minderer Güte` zu verfügen. In besonderer Weise sind von diesem Zusammenhang jene Menschen betroffen, die deutlich sichtbare körperliche, psychische und geistige Einschränkungen aufweisen, so in der Terminologie des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), also behindert sind“ (Jantzen, Wolfgang; 1987: S.30).
Jantzen strebt jedoch hierzu keine verallgemeinernde Aussage an, sondern sieht diesen Umstand eingebettet in die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen der Einzelne lebt. Er bezieht sich dabei mitunter auf die Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels. Dabei sieht Jantzen, ebenso wie Marx und Engels, die Produktion der Lebensverhältnisse eingebettet in historisch vorgegebene Bedingungen. Er diskutiert den Begriff der Behinderung mitunter als Frage nach einer gerechteren Verteilung von Produktionsverhältnissen und somit die Möglichkeit sich Güter anzueignen, so wie auch Marx damals die Verelendung des Proletariats als Ausdruck einer ungerechten Verteilung gesellschaftlicher Güter betrachtete.[4]
Jantzens These, Behinderung sei aus Sicht der kapitalistischen Produktion Arbeitskraft minderer Güte, führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass daraus eine eingeschränkte Konsumfähigkeit für Menschen mit Behinderung die Folge ist. Aufgrund einer Behinderung ist der Mensch in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung, nicht in der Lage seine Arbeitskraft und er wird daraus folgernd sowohl vom gesellschaftlichen Tauschhandel gänzlich oder teilweise ausgeschlossen als auch unter Umständen in Abhängigkeit staatlicher Institutionen gebracht. Das ökonomische Kapital, welches durch die eigene Arbeitskraft erworben wird, bietet demnach in einer kapitalistischen Gesellschaft eine wesentliche Grundlage zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. „Die soziale Stellung eines Akteurs ist folglich zu definieren anhand seiner Stellung innerhalb der einzelnen Felder, daß heißt innerhalb der Verteilungsstruktur der in ihnen wirksamen Machtmittel: primär ökonomisches Kapital (in seinen diversen Arten), dann kulturelles und soziales Kapital, schließlich noch symbolisches Kapital als wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee usw. bezeichnet)“ (Bourdieu, Pierre: 1991, S.10-11). Bezogen auf Menschen mit Behinderungen, zeigt das Zitat von Bourdieu, dass der Verlust oder der Mangel an ökonomischen Kapital Auswirkungen auf weitere Lebenslagen hat, wie zum Beispiel dem sozialen Kapital, welches in sozialen Beziehungen Ausdruck findet. Wenn Jantzen demnach Behinderung als Arbeitskraft minderer Güte bezeichnet und hieraus eine fehlende Teilhabe hinsichtlich der Konsumfähigkeit sieht, dann kann dies ebenso der Verlust oder das Fehlen von sozialen Bindungen zur Folge haben.
2.2. Der Begriff der Körperbehinderung
Nachdem ich nun auf den Begriff Behinderung näher eingegangen bin, möchte ich ausgehend von diesem, den Begriff der Körperbehinderung diskutieren. Hierzu sollen jedoch lediglich noch einige Ergänzungen stattfinden, da vieles bereits im vorherigen Abschnitt gesagt wurde. Bei Ingeborg Hedderich findet sich zum Begriff Körperbehinderung folgende Beschreibung: „Als körperbehindert wird ein Mensch bezeichnet, wenn er infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungsapparates oder einer anderen organischen Schädigung in seiner Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt ist“ (Hedderich, Ingeborg; 1999: S. 16). Hedderich geht in ihrer Beschreibung zunächst von einem gemeinsamen Merkmal, nämlich dem der Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit aus. Ebenso sieht sie kontextuelle Gegebenheiten als ursächlich für das In – Erscheinung – Treten einer Behinderung. „Nicht jede körperliche Schädigung ist zwangsläufig mit einer Behinderung gleichzusetzen. Ein Rollstuhlfahrer wird sich möglicherweise in einer Gesprächssituation nicht als behindert erleben. Die Behinderung tritt erst bei einem anschließenden Spaziergang in Erscheinung“ (Hedderich, Ingeborg; 1999: S. 16). Hedderich unterscheidet hierbei zwischen Schädigung und Behinderung. Wie im weiteren Verlauf noch bei Cloerkes zu sehen sein wird, sind bei einer Behinderung nicht vordergründig die Schädigungen ausschlaggebend, sondern die sozialen Folgen, die eine Behinderung mit sich bringt. Dies trifft demnach ebenso auf die Körperbehinderung zu. Eine interessante Behandlung des Themas Körperbehinderung findet sich bei Marianne Pieper in ihrer Arbeit `»Seit Geburt körperbehindert...«`. Dabei diskutiert sie unter anderem auch die Rolle des Leibes als Medium zur Außenwelt. Pieper geht hierbei von einer dualistischen Sichtweise aus und sieht den Menschen als Person sowohl in Auseinandersetzung mit seinem eigenen Körper als auch die Bezugsetzung seines Körpers zur Umwelt. Dabei betont Pieper vor allem die zumeist unbewusste Beziehung zum eigenen Körper. Zu einer häufiger bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper kommt es besonders dann, wenn Störungen im Verhältnis zwischen Umwelt und Körper auftreten. Diese Störungen beziehen sich dann folglich ebenso auf das Verhältnis Person und eigener Körper. „Andererseits bleibt der Leib im Alltagshandeln `verborgen`, gerät zumeist nicht zum Wahrnehmungskern. In seiner Rolle als `Mittler zur Welt` wird er zumeist mit Schweigen `übergangen`. Eine Suspendierung von seiner stummen Rolle findet vielfach erst dort statt, wo der Leib zum Problem gerät. Hier treten Leib und Ich in einer Dissoziation auseinander. In diesem Kontext wird der Leib `zur Sprache gebracht`.“ (Pieper, Marianne; 1993: S.11) Ein sehr wichtiger Punkt hierbei ist wiederum die Feststellung, dass die Einschätzung einer eigenen Andersartigkeit, also den standardisierten Normen seiner Umwelt nicht in vollem Maße gerecht werden zu können, nicht aus der Person selbst heraus erfolgt, sondern erst durch das soziale Umfeld vermittelt wird. Wie ich später noch im Abschnitt zum symbolischen Interaktionismus diskutieren werde, spielen dabei interaktive Prozesse eine wichtige Rolle. Somit ist das Selbstbild Ausdruck einer kausalen Kette, deren Ursache in der Umwelt zu finden ist. Denn wie Vertreter des symbolische Interaktionismus annehmen, existiert Gesellschaft vor jedem Menschen und nicht der Mensch vor der Gesellschaft[5].
2.3. Der Begriff der Biografie
Ich hatte ja bereits mehrfach betont, dass eine Behinderung durch den sozialen Kontext bestimmt wird. Dabei geht es also vor allem um individuelle Fähigkeiten und ihre Einbettung in das gesellschaftliche Umfeld. Eine solche Sichtweise kann auch dem Begriff der Biografie zugedacht werden. Hier geht es sowohl um individuelle als auch um kollektive Erfahrungen. Dabei ist es besonders wichtig die Wechselwirkung beider Erfahrungstypen hervorzuheben. Der Begriff Biografie meint die Beschreibung des Lebens durch einen anderen Menschen. „In der Autobiographie (früher auch häufiger Selbstbiographie) stellt ein Mensch sein eigenes Leben dar, während in der Biographie im engeren Sinne des Wortes ein anderer das Leben eines Menschen beschreibt“ (Seung-Nam, Son; 1997: S.18). Beides ist in dieser Arbeit der Fall. Zum einen ist die Autobiografie im Sinne von Selbstbeschreibung Gegenstand der Transkription und zum anderen ist die Biografie im Sinne von Fremdbeschreibung Gegenstand der Analyse. Desweiteren sieht Fritz Schütze die Biografie des Menschen aus Prozessstrukturen bestehend, auf die im folgenden Verlauf der Arbeit noch eingegangen werden soll und deren Herausarbeitung der grundlegende Bestandteil der späteren Analyse ist. „Die Lebensgeschichte ist eine sequentiell geordnete Aufschichtung größerer und kleinerer in sich sequentiell geordneter Prozeßstrukturen“ (Schütze, Fritz; 1983 In: Neue Praxis: S.292). Hieraus wird deutlich, dass der Mensch als Träger von Biografie nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen existiert, sondern immer in diese eingebettet ist. Wie im späteren Verlauf der Arbeit noch deutlich werden wird, sind diese Strukturen oftmals nicht steuerbar und können sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf die individuelle Entwicklung des Menschen haben.
3. Zur theoretischen Sichtweise
In diesem Abschnitt geht es um die Erläuterung der gesellschaftstheoretischen Sichtweise in dieser Arbeit. Der folgende Abschnitt wird daher Antworten auf die Frage geben, durch welche Forschungsbrille die zu analysierenden empirischen Daten betrachtet werden sollen. Aus der Sichtweise des symbolischen Interaktionismus konstituiert sich die Wirklichkeit der Gesellschaft durch die Interpretationen ihrer Akteure. Für die Rekonstruktion der eigenen Lebensgeschichte bedeutet dies, der Befragte interpretiert seine eigene Lebensgeschichte und nimmt Bezug zu ihr. Der Zugang zur Lebensgeschichte des Erzählenden kann demnach nur über die Interpretation des Erzählenden selbst erfolgen. Ein wichtiger Punkt, der bei der Analyse berücksichtigt werden muss, ist, wie sich die eigenen Lebensentwürfe oder Handlungspläne im Hinblick auf institutionelle Rahmenbedingungen und Vorgaben verwirklichen lassen. Das bedeutet, dass das Individuum in seinen Handlungen niemals vollkommen frei ist, sondern in seinen Handlungen durch die vorhandenen sozialen Institutionen mitbestimmt wird. Ausgehend von der Annahme der sozialen Konstruktion von Behinderung in der Gesellschaft, will ich versuchen aufzuzeigen, welche Konsequenzen vorhandene soziale Strukturen und Institutionen für das Handeln des Erzählenden haben. Hierzu will ich mich im folgenden näher auf den Materialismus und auf den symbolischen Interaktionismus beziehen. Der Grund, warum ich den Materialismus in seinen Grundzügen skizzieren möchte, ist der, dass ich mich bereits auf die materialistische Sichtweise Wolfgang Jantzens bezüglich des Begriffes Behinderung bezogen habe. Um ein näheres Verständnis darüber zu erlangen, finde ich es wichtig, wesentliche Annahmen dieser Theorie noch einmal in Erinnerung zu rufen. Im Hinblick auf die kontextuelle Bedeutung von Behinderung sind beide Theorien aussagekräftig, auch wenn ihnen ganz unterschiedliche Annahmen zugrunde liegen. Bezüglich der wissenschaftlichen Erklärung von Phänomenen, in diesem Fall der sozialen Konstruktion von Behinderung, ist die Vorgehensweise eine deduktive. Es geht darum eine allgemeine Aussage anhand von Einzelfällen zu prüfen. Behinderung als soziale Konstruktion stellt sich hierbei als allgemeine Aussage dar, wobei die Überprüfung dieser allgemeinen Aussage ihre Grundlage im kontrastiven Vergleich findet. Es geht mir also nicht darum aus den einzelnen Aussagen und Inhalten der Interviews Theorien zu generieren und mit Hilfe der induktiven Methode Wahrscheinlichkeitstheorien aufzustellen. Bei der Deduktion wird immer von allgemeinen Sätzen auf besondere Sätze geschlossen. Dabei ist zu beachten, dass der Schluss von einem allgemeinen Satz auf einen besonderen Satz solange gültig ist, bis eine Situation eintritt, in der die Aussage des allgemeinen Satzes nicht zutrifft. Die allgemeine Aussage, dass alle Vogelarten die durch von Hohlräumen durchsetzte Knochen besitzen, wäre demnach solange gültig, bis eine Vogelart gefunden wird, der diese Eigenschaft nicht zugrunde liegt. „Ein Argument entspricht den Bedingungen für eine korrekte Deduktion entweder völlig oder gar nicht; es gibt keine Grade deduktiver Gültigkeit. Die Prämissen haben die Konklusion entweder notwendigerweise zur Folge oder überhaupt nicht“ (Salmon, Wesley C.; 1983: S.35)[6]. Im Sinne von Karl Popper geht es mir demnach um die Falsifikation. Popper, welcher ein entschiedener Gegner der induktiven Vorgehensweise war, wollte mit der Methode der Falsifikation Schwachpunkte einzelner Theorien aufdecken und diese einer kritischen Überprüfung unterziehen. „Wir schließen niemals von Tatsachen auf Theorien, es sei denn, auf ihre Widerlegung oder »Falsifikation«“ (Popper, Karl; 2004: S.119) Wenn ich also in dieser Arbeit die These vertrete, dass eine Behinderung grundsätzlich auch einer sozialen Konstruktion zugrunde liegt und sich irgendwann herausstellen sollte, dass der Mensch vollständig durch neurobiologische Prozesse determiniert ist, somit also diese von mir angenommenen Konstruktionen ebenfalls determiniert sind, dann wäre der Schluss meines allgemeinen Satzes auf den besonderen Fall nicht mehr gültig und seine Annahme somit widerlegt. Das würde bedeuten, die Gesellschaft wird nicht durch freies Handeln des Menschen gesteuert und somit wäre alles Handeln bereits vorbestimmt und nicht durch den Menschen steuerbar. Gegen solch eine Form der Determination menschlicher Handlungen argumentiert der symbolische Interaktionismus und aus dieser Argumentation heraus wird im folgenden deutlich, dass Behinderung, insbesondere Körperbehinderung, keine feste menschliche Konstante ist, sondern in Abhängigkeit zur Beschaffenheit des sozialen Umfeldes steht.
3.1. Der Materialismus
Mit Blick auf den Materialismus genügt es nicht, sich nur mit Karl Marx und Friedrich Engels auseinanderzusetzen. Ein Blick in die Literatur weist uns hierzu den Weg bis zurück zu den Griechen der Antike. Das umfassende Werk `Geschichte der Philosophie` von Johannes Hirschberger, auf das ich mich in diesem Abschnitt unter anderem beziehen werde, bietet hierzu einen guten Einblick in die Entstehungszeit materialistischer Theorie. Anfänge der materialistischen Theorie finden sich hierzu insbesondere bereits bei Demokrit. Seine Atomtheorie betrachtet alle Bewegung und somit auch Gefühle und Denken als Atombewegung.[7] „Alle Gefühle sind ja, wie auch alles Denken, Atombewegung“ (Hirschberger, Johannes; 1.Teil: S.46)[8]. Die wesentliche Annahme des Materialismus, nämlich das alles Sein durch Materie bestimmt wird, lässt sich aus dieser Aussage herauslesen. Eine Weiterführung der Atomtheorie Demokrits findet sich bei den Epikureern. Auch hier ist alles Sein Materie in einem leeren Raum ohne Grenzen. Dabei wird das Werden des Seins als immer wieder aufeinander folgende Umgruppierung der Atome verstanden. Der Ursprung materialistischer Theorie bezieht sich, wie gezeigt wurde, insbesondere auf die Entstehung und die Zusammensetzung von Materie. Sie allein bestimmt unser Handeln und unser Denken, welches der Erfahrung zugrunde liegt. Eine genau entgegengesetzte Sichtweise hinsichtlich dieser Theorie findet sich unter anderem bei Platon. Ich denke es kann manchmal hilfreich sein eine Sichtweise zu spezifizieren und zu verdeutlichen, wenn man auch einmal den Blick auf das Entgegengesetzte schweifen lässt, um die eigene Besonderheit stärker hervorzuheben. So argumentiert Platon folgendermaßen, indem er sagt, dass sich in unserem Denken bereits fertige Inhalte befinden. Für ihn ist alles Wissen um Wesenheiten a priori. Sie sind bereits in unserem Denken vorhanden, müssen also nicht mehr geordnet, sondern lediglich bewusst gemacht werden. Die Welt ist demnach nur ein Abbild[9]. So ist zum Beispiel die Form des Kreises bereits in unserem Denken gegeben, sie muss nur durch Erfahrung bewusst gemacht werden. Während bei Demokrit das Denken erst durch die Materie geschaffen und bestimmt wird, findet sich wiederum bei Platon das Denken unabhängig von der Materie. Begriffe und Vorstellungen, welche er als unabhängig von der materiellen Welt begreift, sind als Teil der Seele bereits vorhanden. Dennoch spielt auch bei Platon die Erfahrung eine wesentliche Rolle, denn erst durch sie, wird das Wissen bewusst gemacht. Da jedoch unsere Sinne und somit unser Körper unsere Wahrnehmungen verfälschen, ist wahre Erkenntnis erst dann möglich, wenn die Seele vom Körper getrennt wird. In Platons dialogischen Werk `Phaidon` wird deutlich, wann für den Idealisten wahre Erkenntnis möglich wird. In diesem Dialog spricht der zum Tode verurteilte Sokrates ein letztes Mal mit seinen Freunden im Gefängnis. Dabei geht es zunächst darum, dass er die Notwendigkeit erklärt, warum er den Giftbecher trinken muss und diesem nicht das Verlassen der Stadt vorzieht, wodurch er der Todesstrafe entgehen könnte. Bestürzt über diese Haltung versuchen die anderen ihn umzustimmen. Sokrates jedoch macht ihnen klar, dass der Tod für ihn eine ganz besondere Bedeutung hat, welche in der Trennung von Körper und Seele liegt und somit in der Erlangung wahrer Erkenntnis, da unsere körperlichen Sinne uns täuschen.
„Sokrates. Und woher haben wir diese Kenntnis geschöpft? Haben wir nicht aus dem Anblick
der eben genannten gleichen Hölzer oder Steine oder was es sonst war jene Vorstellung gewonnen, und zwar als eine von diesen Gegenständen verschiedene? Oder scheint sie dir nicht verschieden? Betrachte es auch noch von dieser Seite: Kommen nicht die gleichen Steine und die nämlichen Hölzer mitunter dem einen gleich vor, dem anderen wieder nicht?
Simmias. Allerdings.
Sokrates. Wie nun? Hast du jemals das Gleiche an sich für ungleich gehalten? Oder die
Gleichheit für Ungleichheit?
Simmias. Niemals, Sokrates.
Sokrates. Also ist die Gleichheit der sinnlichen Dinge nicht dasselbe wie die Gleichheit an
sich.
Simmias. Durchaus nicht, nach meiner Meinung, Sokrates.
Sokrates. Aber aus dem Gleichen der ersteren Art, das doch verschieden ist von dem
Gleichen der letzteren Art, hast du dir gleichwohl die Vorstellung des letzteren
gebildet und sie so gewonnen?
Simmias. Du hast durchaus recht“ (Platon; 1985: S.76).
Die Position Platons bildet die gegensätzliche Position zum Materialismus, nämlich die des Idealismus, wobei hierbei Platons Ideenlehre den Ausgangspunkt bildet. Im weiteren geschichtlichen Verlauf wird die Diskussion um die materialistische Vorstellung einer Welt immer wieder geprägt durch die Frage nach einem letzten Grund und letztendlich nach einem Gott. Ich möchte daher von den Ursprüngen materialistischer Theorie einen Schritt in die Philosophie der Neuzeit machen. Eine ähnliche Auffassung, nur wesentlich konsequenter, wie wir sie bereits bei Demokrit vorfanden, ist die des französischen Aufklärers Denis Diderot, welcher zugleich Führer der materialistischen Schule der französischen Aufklärung war. Auch hier findet sich die Annahme, dass alles Sein Materie ist. Diderot geht in seiner Auffassung noch über einige Überlegungen seiner Vorgänger hinaus und behauptete sogar, Körper und Geist seien ein und dasselbe und somit werde auch unser Geist durch Materie bestimmt. „Hiernach hätte er das Lebewesen allgemein definieren können als ein System von verschiedenen organischen Molekülen, die sich infolge des Impulses zu einer Empfindung – oder auf Grund eines stumpfen und dumpfen Gefühlssinnes, den ihnen derjenige verlieh, der die Materie überhaupt erschaffen hat – miteinander verbunden haben, bis jedes Molekül den seiner Gestalt und seiner Ruhe am besten entsprechenden Platz gefunden hat“ (Diderot, Denis; 1964: S.78)[10]. Dabei weist Diderot jedoch darauf hin, dass es einer genauen Überprüfung der Sinne und auch ihrer Hilfsmittel bedarf, da die Sinne uns täuschen können. Die beiden folgenden Abbildungen sollen die Auffassungen des Materialismus und des Idealismus noch einmal bildlich darstellen und möglicherweise zu einem besseren Verständnis des bisher Gesagten führen. In Abbildung 2 soll verdeutlicht werden, dass dem Prozess des Austausches zwischen Individuum und Umwelt, welcher Auswirkungen auf beide hat, keine zeitliche Begrenzung gesetzt werden kann. Solange sich das Individuum in der materiellen Welt befindet, vollziehen sich Veränderungen beim Individuum und dem Gegenstand, mit dem sich das Individuum auseinandersetzt. Die Handlungen, die auf einen bestimmten Gegenstand ausgerichtet sind, wirken also ständig in Form von Erfahrungen auf das Individuum zurück.
Abbildung 2: Erkenntnistheoretische Aussagen des Materialismus
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In Abbildung 3 soll die Verbindung von Körper und Seele deutlich gemacht werden, die für den Idealisten eine wesentliche Annahme seines Weltbildes darstellt. Dabei dient der Körper zur Wahrnehmung der Abbilder der Ideenwelt[11]. Die unterbrochene Pfeillinie zwischen der Seele und der Welt der Ideen soll verdeutlichen, dass die Seele erst dann zu wahrer Erkenntnis gelangen kann, wenn Körper und Seele den Trennungsakt vollzogen haben.
[...]
[1] Ich hatte dies ja bereits am Beispiel des gehbehinderten Menschen im Rollstuhl deutlich gemacht. Partizipation setzt Veränderungen der gesellschaftlichen Umwelt voraus. So sind eben die Braille – Schrift für sehbehinderte Menschen oder Computer mit Sprachausgabe für sprachbehinderte Menschen unter anderem auch neue Wege, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, in diesem Fall Kommunikationsteilhabe. So Die neue ICF - Fassung der WHO hebt genau diesen Aspekt stärker hervor. Partizipation bedeutet hierbei im Hinblick auf die Fähigkeitseinschränkung die Aktivierung vorhandener Fähigkeiten und nicht mehr den Blick überwiegend auf die Defizite des behinderten Menschen zu richten.
[2] Eine mögliche Studie, welche im späteren Verlauf noch zur Sprache kommen wird und mit der sich diese These untermauern lässt, wäre zum Beispiel die Studie von Dieter Neubert und Günther Cloerkes: „Behinderung und Behinderte in verschiedenen Kulturen“. Ein ausführlicher Literaturnachweis hierzu ist in der Literaturliste aufgeführt.
[3] Da ich im Abschnitt über den symbolischen Interaktionismus auf dieses Thema noch einmal zu sprechen komme, soll eine vertiefende Diskussion an dieser Stelle nicht stattfinden und mehrfache Wiederholungen somit vermieden werden.
[4] „Die gesellschaftlichen Verhältnisse, worin die Individuen produzieren, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ändern sich also, verwandeln sich mit der Veränderung und Entwicklung der materiellen Produktionsmittel, der Produktionskräfte. Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft auf bestimmter, geschichtlicher Entwicklungsstufe, eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterscheidendem Charakter“ (Marx, Karl; 1971 In: Marx, Karl; Engels, Friedrich; Band I: S. 81). Für Marx bildet dabei das Kapital solch ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis. Demnach beruht Partizipation am gesellschaftlichen Tauschhandel auf der Aneignung von Kapital durch Arbeit.
[5] Einen zusammenfassenden Einblick in die theoretischen Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus bietet hierzu insbesondere Arnold M. Rose in seinem Aufsatz `Systematische Zusammenfassung der Theorie der symbolischen Interaktion`. „Gesellschaft – d. h. ein Netzwerk von miteinander in Interaktion stehenden Individuen – und ihre Kultur – d. h. die aufeinander bezogenen Bedeutungen und Werte, mittels derer einzelne miteinander in Interaktion treten – besteht vor jedem einzelnen Menschen“ (Rose, Arnold M.; 1973 In: Hartmann, H.: S.274)
[6] Bei der Induktion ist es zwar wahrscheinlich das die Konklusion wahr ist, jedoch nicht zwingend. Eine genauere Erläuterung hierzu findet sich unter anderem bei Helmut Seiffert. „Unter Induktion verstehen wir den Schluss von einzelnen Fällen auf ein dahinterstehendes Gesetz, das dann auch auf andere, noch nicht bekannte Fälle anwendbar ist“ (Seiffert, Helmut; 1997: S. 92). Wie sich hier jedoch bereits abzeichnet, ist eine Verallgemeinerung der aus dieser Methode gewonnen Gesetze äußerst fraglich, da wir niemals der Gewissheit beiwohnen können, dass die von uns aufgestellte Theorie gültig ist. Dieser Erkenntnis zufolge ist die von Popper vorgeschlagene kritische Überprüfung von Theorien ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Forschung geworden. „Der Theoretiker wird also alles versuchen, unter den nicht widerlegten Theorien falsche herauszufinden, »dingfest zu machen«. Das heißt, er wird sich bei jeder nicht widerlegten Theorie fragen, in welchen Situationen sie scheitern würde, wenn sie falsch wäre. Er wird also versuchen, strenge Prüfungen sowie zwischen Theorien entscheidende Prüfungssituationen zu entwerfen“ (Popper, Karl; 1973: S.26).
[7] Für Demokrit sind Atome die kleinsten und unteilbaren Teile, aus denen sich die Welt zusammensetzt.
[8] Sowohl der erste als auch der zweite Teil sind in einem Buch zusammengefasst. Es handelt sich zum Einen um `Altertum und Mittelalter` und zum Anderen um `Neuzeit und Gegenwart`. Im ersten Teil handelt es sich um die 12. Auflage und im zweiten Teil um die 11. Auflage. Ein Ausgabedatum war dem Buch nicht zu entnehmen, jedoch beziehen sich die Vorwörter beider Teile jeweils auf den Dezember 1980.
[9] Das bedeutet, dass die Ideen unvergänglich sind und die Materie als Abbild nicht das vorrangig erstrebenswerte Erkenntnisideal ist, denn sie ist vergänglich. Eine schöne dichterische Umschreibung zwischen Ideal und Abbild findet sich hierzu in Platons dialogischem Werk `Das Gastmahl oder Von der Liebe`. Diese Umschreibung ist Teil der Rede des Pausanius, welcher in dieser über das Schöne und das Hässliche philosophiert. „Schlecht aber ist eben jener gewöhnliche Liebhaber, der den Leib mehr liebt als die Seele; seine Liebe ist ja auch nicht einmal beständig, da er ja nichts Beständiges liebt. Denn mit der entschwindenden Blüte des Leibes, den er liebte, verschwindet auch er und flattert davon, indem er viele Worte und Versprechungen zuschanden macht. Der Liebhaber eines Gemütes aber, das gut ist, hält zeitlebens aus, denn er ist mit dem Beständigen verschmolzen“ (Platon; 1970: S.23).
[10] Der Ausgabe war zwar kein Datum zu entnehmen, jedoch bezieht sich die Einführung Eckart Richter auf den November 1964. Daher habe ich dieses Datum als Ausgabedatum verwendet.
[11] Eine der bekanntesten Darstellungen der idealistischen Denkweise findet sich im bekannten `Höhlengleichnis` von Platon wieder.
- Arbeit zitieren
- Nico Thie (Autor:in), 2008, Behinderung als soziale Konstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125829
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