Der Wahnsinn in Georg Büchners "Woyzeck" und den Gutachten zum tatsächlichen Fall. Ein Vergleich


Hausarbeit, 2005

17 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

2. Der „Mordfall Woyzeck“
2.1 Historischer Hintergrund
2.2 Die Situation der forensischen Psychiatrie zur damaligen Zeit

3. Wahnsinnsmerkmale des Woyzecks
3.1 In den Gutachten des Hofrats Clarus
3.2 In Georg Büchners ‚Woyzeck’

4. Gegenüberstellung der Wahnsinnsmerkmale

5. Exkurs zu Georg Büchners ‚Lenz’

6. Fazit

7. Literatur

1. Einführung

Georg Büchners ‚Woyzeck’ stellt die Tragödie eines einfachen und verwirrten Mannes dar, der unter dem Druck sozialer Ungerechtigkeiten zum Mörder seiner Geliebten wird. Büchner nimmt hier erstmals einen Charakter der unteren sozialen Schichten in das Zentrum seiner Dichtung, nachdem zuvor Charaktere aus besser gestellten sozialen Schichten, wie der Revolutionär Danton, der Dichter Lenz und der Prinz Leonce als Hauptfiguren seiner Werke auftraten[1]. Die Gestalt des Woyzeck kann darüber hinaus tatsächlich als die erste, ernst gemeinte Gestalt aus den unteren, nichtbürgerlichen sozialen Schichten angesehen werden.

Die höheren Menschen des Dramas (Hauptmann und Doktor) werden karikiert und die gequälte Kreatur Woyzeck wird „in ihrer hässlichen Schönheit ohne Schonung entblößt“ und zum Helden des Stückes[2] gemacht.

Die folgende Arbeit wird sich weniger mit einer Deutung des Werkes, sondern vielmehr mit den unterschiedlichen Konzeptionen und Formen des Auftretens des Wahnsinns, zum einen in Büchners ‚Woyzeck’ selbst und zum anderen in den Gutachten des Hofrats Clarus beschäftigen. Dazu soll zunächst der historische Hintergrund, also einerseits die tatsächliche Mordtat des Johann Christian Woyzeck und andererseits die damalige Situation der forensischen Psychiatrie kurz dargestellt werden. In einem weiteren Schritt soll dann versucht werden, die Merkmale und Konzeptionen des Wahnsinns in Büchners

‚Woyzeck’ und in den Gutachten zum Mordfall, aufzuzeigen und zu vergleichen. Wie definiert zum Beispiel Clarus den Wahnsinn und woran macht er fest, dass Woyzeck nicht wahnsinnig ist. Wie stellt Büchner Woyzeck in seinem Werk dar? Als Wahnsinnigen oder nur, als durch die Umstände zerrütteten Menschen?

2. Der „Mordfall Woyzeck“

Sowohl Georg Büchners ‚Woyzeck’ als auch den beiden Gutachten des Hofrats Clarus liegt ein Kriminalfall zugrunde, der zur damaligen Zeit für einiges Aufsehen sorgte.

Im Sommer des Jahres 1821 erstach der damals arbeits- und obdachlose Johann Christoph Woyzeck seine Geliebte, die Witwe Johanna Christiane Woost. Aufgrund von kursierenden Gerüchten, dass Woyzeck möglicherweise wahnsinnig gewesen sei[3], veranlasste die Verteidigung Woyzecks, dass Gutachten zur Klärung eben dieser Tatsache, und damit auch zur Klärung seiner Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt, angefertigt wurden. Mit der Anfertigung eben dieser Gutachten wurde der „Leipziger Stadtphysikus, Hofrat Prof. Dr. Johann Christian August Clarus“[4] beauftragt. Clarus fertigte insgesamt zwei Gutachten an, die beide zu dem Ergebnis kamen, dass Woyzeck nicht wahnsinnig und somit also auch schuldfähig war.

Die Gutachten des Hofrats Clarus wurden 1824 in der Erlanger ‚Zeitschrift für Staatsarzneikunde’ veröffentlicht – zuerst das zweite und anschließend das erste Gutachten[5]. Diese beiden Texte wurden vermutlich auch zur Hauptquelle des Dramenkonzepts von Büchner bei der Entstehung des ‚Woyzeck’.

„Büchner, der die Berichte des Hofrats Clarus und anderer [...] vermutlich aus der väterlichen Bibliothek [...] kannte, hat diesen Stoff [dann] samt weiterem Material zur Parabel des zerstörten Individuums gestaltet.“[6]

2.1 Historischer Hintergrund

Zum besseren Verständnis der Umstände, welche zur Tat führten und somit auch einer Beschreibung des Wahnsinns des historischen Woyzecks, werde ich im Folgenden kurz das Leben des Johann Christoph Woyzeck darstellen.

Johann Christoph Woyzeck wurde am 3. Januar 1780 als Sohn eines Perückenmachers in Leipzig geboren. Nachdem Woyzeck das Handwerk des Perückenmachers erlernt hatte, hatte er es schwer, eine Arbeit zu finden und verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten. Er ließ sich von holländischen, schwedischen und später dann von mecklenburgischen Truppen anwerben. Im Dezember des Jahres 1881 kehrte Woyzeck, verarmt und mittellos, nach Leipzig zurück, wo er dann auch seine damalige Geliebte und das spätere Mordopfer, die Witwe Woost, kennen lernte.

Da Woyzeck nur sehr wenig Geld besaß, konnte er sich auch nur sehr bescheidene Unterkünfte leisten, „sank sozial ab[,] fand nicht einmal mehr Hilfsarbeiten und übernachtete im Freien [...]“ und lebte von teilweise auch vom Betteln.[7]

Schließlich erstach, wie oben bereits erwähnt, eben dieser Johann Christoph Woyzeck am 2. Juni 1821 seine damalige Geliebte Johanna Christiana Woost, aus Eifersucht, mit einer abgebrochene Degenklinge, da sie ihn mehrfach mit anderen Männern betrogen hatte.

Die damaligen Mitbewohner Woyzecks hatten wohl durchaus bemerkt, dass Woyzeck ein kranker Mensch war, und er hatte ihnen mit seinen Halluzinationen Angst eingejagt. Da sie aber später, beim Prozess, meinten, sie könnten dem Verurteilten mit dem Aussprechen dieser Tatsache schaden, verheimlichten sie alle Krankheitssymptome. Dass sie damit genau das Gegenteil von dem erreichten, was sie eigentlich wollten, war ihnen zu diesem Zeitpunkt aber nicht bewusst.

Zur Mordtat selbst kam es schließlich durch diese unglückliche Konstellation von Arbeitslosigkeit, Hunger, Erniedrigungen aller Art, Hass, Eifersucht und den Wahnvorstellungen Woyzecks.[8]

Woyzeck wurde kurz nach der Tat verhaftet und zum Tode durch das Schwert verurteilt. Da aber immer wieder Zweifel an der Schuldfähigkeit bzw. an seiner Zurechnungsfähigkeit aufkamen, zog sich der Prozess durch die Erstellung mehrer Gutachten und Gegengutachten über drei Jahre in die Länge.

Schließlich wurde Johann Christoph Woyzeck am 27. August 1824 in Leipzig hingerichtet.

2.2 Die Situation der forensischen Psychiatrie zur damaligen Zeit

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etablierte sich die Psychiatrie als eine autonome Disziplin, in deren Mittelpunkt die Entwicklungen und möglichen Ursachen von seelischen Krankheiten stand. Dabei stellten sich die romantischen Psychiater der Grundfrage nach dem Wesen der Seele und hier insbesondere dem Verhältnis der Seele zum Körper. War es überhaupt möglich, dass die Seele erkranken könne? Der Wahnsinn wurde dabei, den Lehren Kants und Hegels folgend, als eine Form von selbstverschuldeter Unvernunft angesehen. Er galt als eine Strafe Gottes, die dem sündigen, willentlichen Handeln des prinzipiell freien Subjekts und dessen unmoralischer Lebensführung sowie dem Abfall, des Individuums vom Glauben, zuzuschreiben war. Die Ursachen des Wahnsinns wurden so in das Innere des Individuums verlagert, das durch sein unsittliches Leben Schuld auf sich geladen hatte.[9]

Eine weitere Strömung der damaligen Zeit innerhalb der Psychiatrie war die der Somatiker, welche, im Gegensatz zu den oben beschriebenen Ansichten der Psychiker, die Seele als etwas Physiologisches ansahen. Beim Wahnsinn waren, nach der Auffassung der Somatiker, Denken und Willen durch den Körper nicht aber durch die Seele des Individuums bestimmt.

Fortschrittlichen Ansichten, dass ein Individuum von einer Stillen Wut, der ‚amentia occulta’, getrieben werden konnte, wurden von den Psychiatern der Zeit Büchners entschieden abgelehnt.

Ein weiter Begriff, den ich hier nur kurz ansprechen möchte, der aber stets eng mit dem Wahnsinnsbegriff verbunden ist, ist der Begriff der Melancholie. Im damaligen Verständnis war die Melancholie ein krankhafter Zustand seelischen Leidens, dessen Symptome sich in Niedergeschlagenheit, Trauer, Verzweiflung, Weinen und Wehklagen[10], äußerten. Als Gründe ihrer Entstehung wurden unter anderem eine schwindende Lebenslust und ein immer stärker aufkommender Geschlechtstrieb angesehen.

Orientiert an den Lehren Heinroths wird die Melancholie immer wieder als eine Gemütskrankheit bei der das Fühlen und das ‚Herz’ betroffen sind, angesehen. Die Melancholie war in der Lage, sich negativ auf die Entfaltung der Persönlichkeit auszuwirken und konnte sich sogar bis hin zum Wahnsinn steigern.

Die Mordtat des Johann Christoph Woyzeck[11] und der, sich daraus entwickelnde Fall vor Gericht, mit seinen Gutachten und Gegengutachten, führte innerhalb der Gerichtsmedizin dazu, dass Fragen über die „Bestimmung einer adäquaten Stellung der gerichtlichen Medizin gegenüber dem Angeklagten und gegenüber der Justiz“[12], aufkamen.

Es entwickelte sich ein restaurativer Diskurs innerhalb der Gerichtsmedizin, der davon ausging, dass die Ursachen für solche Taten nicht ausschließlich in irgendwelchen pathologischen Gründen zu suchen wären, sondern, dass sie vielmehr auch in den Angeklagten selbst zu finden seien. Grundlage für diesen, durchaus idealistischen Indetrminismus ist die Ansicht, dass die Fähigkeit eines Individuums seinen freien Willen zu bestimmen, als ein zentrales, den Menschen definierendes Merkmal, anzusehen sei.[13] Eine mögliche Aufhebung eben dieser Willensfreiheit wurde auch nur in sehr engen Grenzen zugelassen.

Ein weiteres Merkmal des damaligen restaurativen Diskurses war die, „über die moralisch-psychologische Differenzierung hinausgehende Durchdringung von Justiz, Psychiatrie und Gerichtsmedizin mit moralischen und christlich-religiösen Auffassungen“.[14] So wurde unter anderem von Hofrat Clarus kritisiert, dass der überhand nehmenden Bereitschaft Verbrechern bei dem geringsten Verdacht zu attestieren, sie haben nicht frei handeln können und standen unter einem vermeintlich pathologischem dunklen Trieb (der ‚amentia occulta’), Einhalt zu gebieten sei.[15] Diese angesprochene Durchdringung mit moralischen und christlich-religiösen Auffassungen zeigte sich einerseits innerhalb der Justiz, durch die Bestrebungen zur Aufhebung der Trennung von Rechtsprechung und moralischen Dingen und andererseits innerhalb der Psychiatrie.

Dort sollten psychische Krankheiten nicht mehr lediglich unverschuldet-unwillkürliche, durch einen pathologischen Prozess gesteuerte Phänomene sein, sondern vielmehr durch die schuldhafte Hinwendung zum Bösen und die aktive Loslösung von der Vernunft des jeweiligen Individuums, entstehen.[16]

[...]


[1] vgl. Hauschild 2000, 111

[2] van Dam 1973, 318

[3] Reuchlein 1985, 45

[4] Hauschild 2000, 114

[5] vgl. ebd. , 116

[6] Münchner Ausgabe 2002, 587

[7] Münchner Ausgabe 2002, 586

[8] vgl. Münchner Ausgabe 2002, 586

[9] Kitzbichler 1993, 103

[10] Schmidt-Degenhard 1990, 170

[11] und auch weitere, ähnlich gelagerte Fälle

[12] Reuchlein 1985, 45

[13] ebd. , 55

[14] Reuchlein 1985, 56

[15] ebd. , 56

[16] ebd. , 56

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Wahnsinn in Georg Büchners "Woyzeck" und den Gutachten zum tatsächlichen Fall. Ein Vergleich
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Germanistik II)
Veranstaltung
Neue Deutsche Literatur – II Seminar – Fallgeschichten: Medizin und Literatur
Autor
Jahr
2005
Seiten
17
Katalognummer
V126169
ISBN (eBook)
9783640315215
Dateigröße
448 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahnsinn, Georg, Büchners, Woyzeck, Gutachten, Fall, Vergleich
Arbeit zitieren
Sören Meyer (Autor:in), 2005, Der Wahnsinn in Georg Büchners "Woyzeck" und den Gutachten zum tatsächlichen Fall. Ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126169

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