Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einführung
1. Loevingers Modell der „Ich-Entwicklung“
1.1 Ich-Entwicklung als Transformation
1.2 Darstellung der Stufen
1.3 Die vier Bereiche der Ich-Entwicklung
2. Reflexion anhand des von Paulus benutzten Vergleichs der Metamorphose
2.1 Die Stellen an denen Paulus den Begriff der Metamorphose benutzt
2.2 Kurze Bewertung und Wertschätzung des Modells der „Ich-Entwicklung“ anhand der untersuchten paulinischen Aussagen
Fazit und Ausblick
Bibliographie
Einführung
„Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, ...?“ 1 Diese Frage stellt der Psalm Dichter David und formuliert damit eine der grundlegendsten und spannendsten Fragen überhaupt. Wer nach dem Wesen des Menschen fragt, stellt fest, dass es ein sehr umfangreiches Thema ist, welches auch nach einiger zeitlicher Investition immer nur noch größer wird. Allein die Begriffe in der deutschen Sprache können verwirren. Geht es um das Wesen des Menschen, seine Identität, Persönlichkeit, sein Selbst oder sein Ich? Manche Unterscheiden sogar das „Mich“ vom „Ich“.2 Mein persönliches Interesse an dieser Fragestellung findet seinen Grund in der Arbeit am Menschen. Sei es in der Seelsorge, im Begleiten und Fördern von Führungskräften oder auch in der Erziehung und Begleitung meiner eigenen Kinder. Wie kann gesunde Entwicklung gefördert werden? Wie können Krisen zu Chancen werden? Wie kann man helfen, dass Menschen ihr Potential entdecken und auch entfalten können? Diesen und anderen Fragen will ich in dieser Kursabschlussarbeit nachgehen und zu tieferen Erkenntnissen gelangen. Für die Beschreibung der Persönlichkeit eines Menschen ist es hilfreich die Ergebnisse von Persönlichkeitsstrukturmodellen3 einfließen zu lassen. Sie helfen uns, Typen voneinander zu unterscheiden und dadurch z. B. für die Teamarbeit wichtige Hilfen zu bekommen. Diese mehr statische Sichtweise auf den Menschen wird dynamischer, mit der Verknüpfung einer zusätzlichen Perspektive: die Stufe der persönlichen Entwicklung. Für eine angemessene und fruchtbare Begleitung von Menschen ist es unerlässlich, den jeweiligen Entwicklungsstand zu erkennen und in die Beratung einzubeziehen. Die Beschreibung von Entwicklungsstufen findet sich auch innerbiblisch: Der Apostel Johannes beschreibt drei Stufen mit ihren Merkmalen: die Kinder, die jungen Männer und die Väter.4 Biographische Stufenmodelle finden sich beispielsweise auch in Romano Guardinis Klassiker „Die Lebensalter“5, in Robert Kegans Werk „Die Entwicklungsstufen des Selbst“6, bei James W. Fowler: „Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn“7 und bei Dr. Robert Clinton „Der Werdegang eines Leiters“.8 Letztgenannter setzt den Fokus allerdings allein auf die Entwicklungsstufen als Führungskraft.
In dieser Arbeit werde ich das Stufenmodell von Jane Loevinger darstellen, um es dann anhand der Metapher der Metamorphose, so wie Paulus sie in seinen Briefen verwendet, zu reflektieren.
1. Loevingers Modell der „Ich-Entwicklung“
Jane Loevinger wurde 1918 als Tochter deutsch-jüdischer Immigranten in der Stadt St. Pauls im Bundestaat Minnesota in den USA geboren.9 Im Jahr 1943 heiratete sie den Chemie-Professor Sam Isaac Weissman. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder: Judith und Michael. Im Jahr 2008 verstarb sie im Alter von 89 Jahren.
Sie war „eine Entwicklungspsychologin mit Professur an der Washington University. Sie beschäftigte sich zunächst mit familiären Interaktionsmustern und entdeckte in weiterer Folge strukturelle Persönlichkeitsmerkmale ...“10 Im Rahmen ihrer Forschungen „...entwickelte sie den Washington University Sentence Completion Test (WUSCT), einen Satzergänzungstest, der den strukturellen Reifegrad einer Person misst. Sie verwendete hierfür den Begriff der Ich-Entwicklung, um die qualitativen Merkmale persönlicher Weiterentwicklung in einem Stufenmodell potentiellen Persönlichkeitswachstums zu integrieren.“11
1.1 Ich-Entwicklung als Transformation
Loevingers Modell der Ich-Entwicklung beschreibt die ontogenetische Entwicklung im Sinne der Reifung durch Transformation und nicht Entwicklung aufgrund der zunehmenden Ansammlung von Wissen. Letzteres nennt sie Information. Das Spannende an Loevingers Modell ist die Analyse der zunehmenden Reife. Den Unterschied zwischen Information und Transformation beschreibt Susann Cook-Greuter, eine Kollegin Loevingers12, mit den Begriffen vertikal und horizontal. „Um den Unterschied zwischen einer qualitativen und stufenförmigen Entwicklung zu einem „mehr desselben“, zu verdeutlichen, unterscheidet Cook-Greuter (2004) zwei verschiedene Arten von Entwicklung: horizontale und vertikale...“13
Die horizontale Entwicklung geschieht durch Aneignung von Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen. Das Loevingersche Modell der Ich-Entwicklung hingegen meint die „grundsätzliche Art und Weise, wie sich ein Mensch mit sich und der Welt auseinandersetzt.“14 „Jede Stufe ist dabei differenzierter und integrierter als die vorherige und gestattet dem Menschen größere Freiheitsgrade im Umgang mit Anderen, sich selbst und seiner Umwelt.“15
1.2 Darstellung der Stufen
Loevingers Ich-Entwicklungsstufen sind in der nachstehenden Tabelle16 aufgelistet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Stufe mit der Nummer 1 fehlt, weil sie, nach Binder „nicht im Geltungsbereich ihres Ich-Entwicklumgsmodells liegt.“17 Loevinger bezeichnete diesen Zustand als Prä-sozial-symbiotisch. „... the Presocial and Symbiotic stages do not appear to be accessible by means of language in later life...“18 Anders ausgedrückt: Ein Säugling lernt erst später sich selbst als getrennt von der Umwelt wahrzunehmen, somit hat er im eigentlichen Sinne noch kein eigenes Ich.
Die 2. Stufe (E2) nennt Loevinger „Impulsive Stage“19. Thomas Binder überträgt den Begriff ins deutsche zu „Impulsgesteuerte Stufe“. Auf dieser Stufe kommt es zu ersten kleinen Ansätzen von Selbstwahrnehmung. Das Kind entwickelt erste Schritte hin zu einer eigenen Persönlichkeit: „... in der sich das Kind von der zentralen Bezugsperson immer mehr abgrenzt und seinen eigenen Willen ausübt.“20 Die impulsiv ausgeführten Willensbekundungen liegen schwerpunktmäßig im Bereich körperlicher Bedürfnisse. Loevinger betont hierbei die Bereiche der Sexualität und Aggression. „The Child is preoccupied with bodily impulses, particulary (age-appropriate) sexual and aggressive ones.“ 21 Dabei werden Regeln noch nicht verstanden22. Als schlecht wird alles definiert, „was bestraft wird.“23 Natürlicherweise ist das Kind auf dieser Stufe noch sehr abhängig und bedürftig, verbunden mit einer stark fordernden Haltung gegenüber anderen.24 Falls es Störungen in der Übergangsphase zu Stufe 3 gibt, kann es diese Folgen haben: Der Ort wird als Grund für die Schwierigkeit gesehen, was dazu führt, dass das Kind Weglaufen als Lösung sieht. Situationen oder gar die eigene Person werden hierbei noch nicht als Ursachen für Probleme in Betracht gezogen.25 Abschließend zu dieser Stufe sei noch erwähnt, dass abergläubische Gedankengänge verbreitet sind und die „Zeitorientierung ... noch ausschließlich auf das Hier und Jetzt bezogen“26 ist.
Kommen wir nun zur knappen Skizzierung der Hauptmerkmale der dritten Stufe. Thomas Binder nennt sie die „Selbstorientierte Stufe“27, das Loevinger’sche Original hingegen „Conformist Stage“28. Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Bezeichnungen? Binder nennt sie „Selbstorientiert“, weil sie „eine erste Form von Selbstkontrolle beinhaltet.“29 Das „Ich“ schält sich nun mehr und mehr heraus und die Verschmelzung mit anderen nimmt ab. Identität formt sich, auch dadurch, dass eigene Vorteile klarer empfunden und angestrebt werden. Die Abhängigkeit von anderen nimmt ab, Beziehungen werden unter dem Aspekt der eigenen „Nutzenmaximierung“30 gelebt. Wie auch in der vorherigen Stufe fehlt ein „längerer Zeithorizont“31 und der „Wunsch nach unmittelbarer Bedürfniserfüllung bleibt vorhanden, im Zweifelsfall auf Kosten anderer.“32 Obwohl die Abhängigkeit abnimmt, ist es dem Menschen auf dieser Stufe noch nicht möglich aufgrund einer ausdifferenzierten Wahrnehmung, auch des eigenen Selbst, selbstloser zu agieren. Für die kurzfristige Befriedigung der empfundenen Bedürfnisse sind zumeist andere Menschen nötig, was das überwiegend konformistische und opportunistische Verhalten auf dieser Stufe erklärt. Für Loevinger ist diese so markant, dass sie dieser Stufe auch diesen Namen gab. Thomas Binder wählte die andere Bezeichnung, weil er sie als zu negativ empfand, um damit zu arbeiten: „Manche Stufenbezeichnungen werden von Menschen auf dieser Entwicklungsstufe möglicherweise schwer als Beschreibung akzeptiert.“33
Die Transformation von Stufe E3 zu E4 kann laut Loevinger am leichtesten studiert werden, weil es, wie sie schreibt „probably the modal level for adults in our society“ ist .34 Die ausgeprägtesten Unterschiede von der Stufe der „Selbstorientiert“/“Conformist“ zur Stufe „Gemeinschaftsorientiert“/“Conscientious“ liegen im deutlichen Zuwachs von Selbstwahrnehmung und der Wertschätzung vielfältiger Möglichkeiten in verschiedenen Situationen.35 Die stärker gewordene Selbstwahrnehmung ist eine essentielle Voraussetzung, um zu einer unabhängigeren Bewertung von Gruppenstandards und Werten hin zu eigenen Meinungen und Werten zu gelangen. Frühestens im Alter von 13 oder 14 Jahren kann, laut Loevinger36, diese Stufe erreicht werden. Auf dieser Stufe sind die Hauptelemente eines erwachsenen Gewissens bzw. Bewusstseins herangebildet. Dazu gehören langfristige und selbstbestimmte Ziele und Ideale, die Fähigkeit zur differenzierten Selbstkritik, das Empfinden für Eigenverantwortung und die Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen.37
Der 5. Stufe (E5) gab Loevinger den Namen „Autonomous Stage.“38 Thomas Binder hingegen wählte die Bezeichnung „Rationalistische Stufe“.39 Die kognitiven Fähigkeiten steigen weiter signifikant an, was auch zu höheren kritischen Reflexionen führt. Der Wunsch, sich stärker von anderen zu unterscheiden, wird zu einem bestimmenden Element.40 Markant für diese Stufe ist die Entwicklung der Fähigkeit, in verschiedenen Rollen zu agieren. Loevinger schreibt: „... recognizing that they function differently in different roles or that different offices have different requirements.“ 41 Des Weiteren entfaltet sich das Gefühlsleben, inklusive der Empfindungen von Freude, Trauer und tiefsinnigem Humor.42
Die sechste Stufe (E6) ist von einschneidender Bedeutung. Binder, der sie „Eigenbestimmte Stufe“ nennt43, schreibt: „Mit dieser ist erstmals ein Ich entstanden, das unabhängig von anderen „konstruiert“ ist.“44 Als konkret-historisches Beispiel zitiert er Martin Luther, wie er 1521 vor dem Wormser Reichstag standhaft ausrief: „ ... ich kann und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun.“ 45 Er führt weiter aus: „Ein Mensch auf dieser Stufe erkennt immer mehr Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten ...Es werden Motive und andere Aspekte bei der Betrachtung von Personen in Rechnung gestellt ... Eine Person auf dieser Stufe ist daher reflektierend und zur Selbstkritik fähig.“46
[...]
1 Schlachter Bibel, Ps 8,5.
2 Jane Loevinger. Ego Development, Conceptions and Theories. 4. Auflage, San Francisco: Jossey-Bass Inc. Publishers, 1982,4 . „... and Freud rarely if ever used the term ego. His term was das Ich, literally, the I. Terms such as the I, the me, self, and ego were in wide though inconsistent usage ...“
3 Wie beispielsweise die Modelle „Big Five“, „DISG“, oder auch das „Enneagramm“.
4 vgl. 1Joh 2,12-14.
5 Romano Guardini. Die Lebensalter: ihre ethische und pädagogische Bedeutung. 9. Auflage, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1992, 12. „In ihnen allen ist es immer ein und derselbe Mensch, der da lebt. Und nicht nur das gleiche biologische Individuum, ... sondern die ... Person, die um sich weiß und die betreffende Lebensphase verantwortet.“
6 Robert Kegan. Die Entwicklungsstufen des Selbst: Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. 3.Auflage, München: Peter Kindt Verlag, 1994.
7 James W. Fowler. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2000.
8 Clinton, Dr. J. Robert. Der Werdegang eines Leiters – Lektionen und Stufen in der Entwicklung zur Leiterschaft. 3. Auflage, Ruswil: profibooks, 2006.
9 „Born in 1918 in St. Paul, Minn., the daughter of a German Jewish immigrant enrolled at the University of Minnesota.“ https://source.wustl.edu/2008/02/obituary-loevinger-psychology-professor-emeritus-89“, zuletzt eingesehen am 5.5.2016.
10 Wikipedia: “https://de.wikipedia.org/wiki/Jane_Loevinger“, zuletzt eingesehen am 5.5.2016.
11 Wikipedia: “https://de.wikipedia.org/wiki/Jane_Loevinger“, zuletzt eingesehen am 5.5.2016.
12 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, 50: „Cook-Greuter war seit Ende der siebziger Jahre an vielen unterschiedlichen Studien als Scorerin für den WUSCT beteiligt.“
13 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 43.
14 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 43.
15 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 42f.
16 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 49. Eine verkürzte Version der Tabelle, die Thomas Binder abgebildet hat.
17 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 34.
18 Jane Loevinger. Ego-Development, 16.
19 Jane Loevinger. Ego-Development, 16.
20 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
21 Jane Loevinger. Ego-Development, 16.
22 siehe Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
23 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
24 siehe Jane Loevinger. Ego-Development, 16.
25 Jane Loevinger. Ego-Development, 16: „He himself is likely to see his troubles as located in a place rather than a situation, much less in himself; thus he will often run away or run home.“
26 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
27 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
28 Jane Loevinger. Ego-Development, 17.
29 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
30 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
31 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35.
32 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 35
33 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 34.
34 Jane Loevinger. Ego-Development, 19.
35 Jane Loevinger. Ego-Development, 19.
36 Jane Loevinger. Ego-Development, 20.
37 s. Jane Loevinger. Ego-Development, 20f.
38 Jane Loevinger. Ego-Development, 23.
39 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 36.
40 s. Thomas Binder, Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 36.
41 Jane Loevinger. Ego-Development, 23.
42 s. Jane Loevinger. Ego-Development, 26.
43 Jane Loevinger nennt sie „Integrated“. Jane Loevinger. Ego-Development, 26.
44 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 36.
45 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 36.
46 Thomas Binder. Ich-Entwicklung für effektives Beraten, 36f.