mHealth Intervention Design. Entwicklung einer mHealth Intervention für die peripartale Depression


Masterarbeit, 2018

120 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

INHALTSVERZEICHNIS

Danksagung

Zusammenfassung

Abstract

Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1.Einleitung

2.Theoretischer Hintergrund
2.1 Psychische Störungen in der Peripartalzeit
2.2 Prävalenz der Peripartaldepression
2.3 Symptome der Peripartaldepression
2.4 Ätiologie und Risikofaktoren der Peripartaldepression
2.5 Verlauf und Folgen der Peripartaldepression
2.6 Klassifikation und diagnostische Kriterien der Peripartaldepression
2.7 Diagnostische Messinstrumente der Peripartaldepression
2.8 Darstellung des peripartalen Versorgungskontextes
2.9 Behandlung der Peripartaldepression
2.10 Peripartale Depression - was tun? Das Manual „Thinking Healthy“
2.11 Zusammenfassung

3. Entwicklungsstand der mHealth Interventionen
3.1 Nutzung von mHealth Interventionen bei emotionalen Störungen
3.2 mHealth Interventionsmöglichkeiten für das psychische Wohlbefinden
3.3 Bedeutung einer mHealth Intervention für psychische Störungen in der Peripartalzeit
3.4 Evidenz der Wirksamkeit von mHealth Interventionen
3.5 Barrieren von mHealth Interventionen
3.6 Zusammenfassung

4. Systematischer Entstehungsprozess einer mHealth Intervention
4.1 mHealth Intervention Design
4.2 Durchführung qualitativer Interviews und Entwicklung einer Intervention am Beispiel des Manual Design, Implementierung, Monitoring und Evaluation
4.3 Überprüfung der Usability der App

5. Empirischer Teil
5.1 Forschungsinteresse
5.2 Fragestellungen

6. Entwicklung eines Prototyps einer mHealth Intervention für die Peripartaldepression
6.1. Durchführung der Untersuchung
6.2 Rekrutierung der Teilnehmenden
6.3 Beschreibung der Erhebungsinstrumente
6.4 Datenerhebung
6.5 Stichprobenbeschreibung
6.6 Datenanalyse

7. Ergebnisse und Entwicklung einer Umsetzung in Form der App
7.1 Identifizierung der technischen Dimension und Auswirkung auf die Entwicklung einer Umsetzung in Form der App
7.1.1 Ergebnisse der Befragung: Technische Geräte und Betriebssysteme
7.1.2 Ergebnisse der Befragung: Apps und Webseiten
7.1.3 Umsetzung
7.2 Bedarfsanalyse und Identifizierung der Informationsquellen und des Wissensstandes über die Peripartaldepression und den Einfluss auf die Entwicklung der App
7.2.1 Ergebnisse der Befragung: Informationsquellen
7.2.2 Ergebnisse der Befragung: Wissensstand
7.2.3 Umsetzung
7.3 Identifizierung von Informationen über strukturelle und gestalterische Faktoren und Umsetzung in Form der App
7.3.1 Ergebnisse und Umsetzung: Sprache
7.3.2 Ergebnisse: Struktur und Gestaltung
7.3.3 Umsetzung
7.4 Identifizierung von Informationen über inhaltliche Faktoren und Entwicklung einer Umsetzung in Form der App
7.4.1 Ergebnisse
7.4.2 Umsetzung
7.5 Psychoedukation und Umsetzung in Form der App
7.5.1 Ergebnisse der Befragung: Schutz-/Hilfsfaktoren und Psychoedukation
7.5.2 Ergebnisse der Befragung: Symptome der PPD
7.5.3 Umsetzung
7.6 Identifizierung von Informationen über Risikofaktoren und Ursachenmodelle und Umsetzung in Form der App
7.6.1 Ergebnisse
7.6.2 Umsetzung
7.7 Screening der Peripartaldepression und Umsetzung in Form der App
7.7.1 Ergebnisse
7.7.2 Umsetzung
7.8 Identifizierung von Bewältigungsstrategien und Behandlungsmöglichkeiten der Peripartaldepression und Umsetzung in Form der App
7.8.1 Ergebnisse
7.8.2 Umsetzung
7.9 Identifizierung von Interventionsmöglichkeiten und Umsetzung in Form der App
7.9.1 Ergebnisse
7.9.2 Umsetzung
7.10 Identifizierung von Informationen über die Berücksichtigung des sozialen Umfeldes einer mHealth Intervention und Umsetzung in Form der App
7.10.1 Ergebnisse
7.10.2 Umsetzung
7.11 Identifizierung von Informationen der Vernetzung und Umsetzung in Form der App
7.11.1 Ergebnisse
7.11.2 Umsetzung
7.12 Identifizierung von Informationen über die Motivation, eine mHealth Intervention seitens der Frauen als auch der Fachleute zu nutzen
7.12.1 Ergebnisse: Motivation (Frauen)
7.12.2 Ergebnisse: Motivation (Fachpersonen)
7.13 Identifizierung kritischer Aspekte und Umsetzung in Form der App
7.13.1 Ergebnisse
7.13.2 Umsetzung

8. Fazit und Ausblick
8.1 Fazit
8.2 Limitationen
8.3 Ausblick

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang

DANKSAGUNG

Mein größter Dank gilt meiner Familie, insbesondere meinem Partner und unseren drei Kindern, meiner Mutter, ihrem Ehepartner und meiner Schwiegermutter. Ich danke Euch, dass Ihr mich in den unterschiedlichen Phasen des Studiums und der Masterarbeit sehr liebe­voll und großzügig, jede und jeder auf Eure spezielle Weise, unterstützt und mich darin ermu­tigt habt, meinen Weg zu gehen. Ohne Eure Hilfe wäre ich nicht an dem Punkt, an dem ich heute hier diese Zeilen schreibe.

Mein besonderer Dank gilt auch all meinen Freundinnen und Freunden, die mich während der Masterarbeit und auch während des Studiums unterschiedlich begleitet haben. Danke für Eure Zeit, Eure Anregungen, Eure Ermutigungen und die interessanten Gespräche und Aufheite­rungen und Euren Humor.

Ich bedanke mich herzlich bei Dipl. Psych. Sebastian Burchert, der offen und neugierig war, diese Masterarbeit zu betreuen und von dem ich wertvolle inhaltliche und strukturelle Unter­stützung und Anregung erhalten habe.

Nicht zuletzt möchte ich mich bei den Menschen herzlichst bedanken, die ich für meine Mas­terarbeit interviewen konnte und die sich mir anvertraut haben und mich auch sehr bestärkt haben, dass Thema der PPD zu bearbeiten.

Ich widme diese Arbeit vor allem den Frauen mit ihren Familien, denen es in der Peripartal- zeit nicht gut geht, und wünsche, dass sich der Umgang mit psychischen Störungen in dieser besonderen Lebensphase verändert.

ZUSAMMENFASSUNG

Die Peripartaldepression (PPD) ist eine häufige und ernstzunehmende psychische Störung mit potenziell schweren seelischen und körperlichen Folgen für die Mutter, das Kind und das soziale Umfeld (Hübner-Liebermann, Hausner & Wittmann, 2012; Riecher-Rössler, 2006). Ziel der vorliegenden Masterarbeit ist es, im Rahmen einer Nutzerinnen- und Nutzer-, Fach­personen- und IT-orientierten qualitativen Forschung, einen Prototyp einer mobilen Health (mHealth) Intervention für die PPD zu entwickeln. Für den systematischen Entwicklungspro­zess diente das mHealth Intervention Design mit seinen Teilschritten Konzeptualisierung und formative research (Smith, de Salas, Schüz, Ferguson & Lewis, 2016) als Forschungsgrund­lage. Zur Informationsgewinnung wurden 13 (werdende) Mütter und 16 Fachleute in qualita­tiven Interviews befragt. Aus den theoretischen und empirischen Ergebnissen konnte ein Be­darf an einer mHealth Intervention ermittelt und in Form eines Prototyps umgesetzt werden. Die Autorin trägt hiermit zu einer sachlichen Auseinandersetzung hinsichtlich der PPD bei und erhofft sich, durch eine niedrigschwellige Maßnahme das durch die PPD verursachte Leid zu verringern. Weitere Forschung sollte den Nutzen und die Wirksamkeit der mHealth Inter­vention für die PPD hinsichtlich Aufklärung, Prävention und Behandlung mit den weiteren Teilschritten des mHealth Intervention Designs wissenschaftlich überprüfen.

ABSTRACT

Peripartal depression (PPD) is a common and serious mental disorder with potentially se­vere psychological and physical consequences for the mother, the child and the social envi­ronment (Hübner-Liebermann, Hausner & Wittmann, 2012; Riecher-Rössler, 2006). The aim of this master's thesis is to develop a prototype of a mobile health (mHealth) intervention for PPD within the framework of qualitative user and IT-oriented research. The systematic devel­opment process used the mHealth intervention design with its step-by-step conceptualisation and formative research (Smith, de Salas, Schüz, Ferguson & Lewis, 2016) as its foundation. To gather information, qualitative interviews were undertaken with 13 (expectant) mothers and 16 experts. From the theoretical and empirical results, a need for an mHealth intervention could be determined and implemented in the form of a prototype. In this way the author is contributing to an objective debate on PPD with the hope that a low-threshold measure will reduce the suffering caused by PPD. Further research should scientifically verify the benefit and effectiveness of mHealth intervention for PPD with regard to education, prevention and treatment with the further sub-steps of mHealth intervention design.

TABELLENVERZEICHNIS

Tabelle 1. Überblick des WHO-Manuals „Thinking Healthy“ für das psychosoziale Management der PPD

Tabelle 2. Bedarfsanalyse, Informationsquellen, Wissensstand über die PPD von Frauen in der Peripartalzeit

Tabelle 3. Ergebnisse der strukturellen und gestalterischen Faktoren

Tabelle 4. Ergebnisse der inhaltlichen Faktoren

Tabelle 5. Ergebnisse der Schutz-/Hilfsfaktoren und Psychoedukation

Tabelle 6. Ergebnisse der Risikofaktoren und Ursachenzuschreibung

Tabelle 7. Ergebnisse der Bewältigungsstrategien

Tabelle 8. Übersicht der theoretischen und empirischen Hauptaussagen und Umsetzung in Form des mHealth Prototyps

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

BMG Bundesministerium für Gesundheit

BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung

DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in seiner 5. Ausgabe

DASS-P Depression-Angst-Stress-Skala für die Peripartalzeit

DIME Manual Design, Implementierung, Monitoring und Evaluation

EPDS Edinburgh Postnatal Depression Scale

Health-ITUEM Health IT Usability Evaluation Model

HebG Hebammengesetz

ICBT Internetbasierte kognitiv-behaviorale Therapie

ICD-10 International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 10th Edition

ID Identifikationsnummer

IP Interpersonelle Psychotherapie

FL-Interview Free List-Interview

KI-Interview Key Information-Interview

KBT Kognitiv-behaviorale Therapie

mhGAP Mental Health Gap Action Program

PBQ Parental Bonding Questionnaire

PPD Peripartale Depression

PPP Peripartale Psychose

PDSS Postpartum Depression Screening Scale

SGB Sozialgesetzbuch

TP Psychodynamische Therapie

WHO World Health Organization

1. EINLEITUNG

Die psychischen Störungen in Form von Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen ge­hören zu den häufigsten peripartalen1 Komplikationen, wobei die peripartale Depression (PPD) am häufigsten vorkommt (Hübner-Liebermann et al., 2012; Riecher-Rössler, 2006). Einschlägige Studien kommen zu widersprüchlichen Aussagen über die PPD. Allgemeiner Konsens ist, dass die Prävalenz2 der PPD als hoch bewertet wird und je nach Untersuchung zwischen 10 bis 20% liegt (Gavin et al., 2005; Kemp, Bongartz & Rath, 2003; Lee & Chung, 2007; O'Hara & Swain, 1996). Bei der PPD handelt es sich um eine ernstzunehmende psychi­sche Erkrankung mit schwerwiegenden Auswirkungen. Sie wirkt sich auf die ganze familiäre Interaktion aus, beeinflusst die Lebensqualität der betroffenen Frauen und geht mit einer er­höhten Suizidalität einher (Boath, Pryce & Cox, 1998). Zudem hat sie aufgrund ihrer Kom­plexität und ihrer Auswirkungen eine klinische, gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Bedeutung. Der derzeitige Forschungsstand hinsichtlich der PPD befindet sich auf einem inkonsistenten Niveau, da keine festgelegten spezifischen Diagnose­kriterien existieren. Die PPD gilt als eine Störung ohne eigenständige Krankheitsentität, die den depressiven Störungen ohne Geburt zugeordnet wird, obwohl sie mit spezifischen Anfor­derungen und Besonderheiten an die Diagnose, die Behandlung und den Umgang mit ihren Auswirkungen verbunden ist (Riecher-Rössler, 2006).

Mit der Edinburgh Postnatal Depression Scale (EPDS) (Cox, Holden & Sagovsky, 1987) oder den zwei Fragen gemäß den S3-Leitlinien für Unipolare Depressionen (DGPPN et al., 2009) gibt es gute Instrumente für ein schnelles Screening. Trotzdem wird nur bei etwa 20% der Frauen die PPD rechtzeitig identifiziert und adäquat behandelt (Härter, Klesse, Bermejo, Schneider & Berger, 2010). Die Gründe dafür sind vielschichtig. Einerseits berichten Frauen aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen nicht von ihren emotionalen Leidenszuständen. Zum anderen fehlt es an professioneller und sozialer Beachtung. Das Thema PPD wird so­wohl vom medizinischen Fachpersonal als auch von Familienangehörigen verschwiegen bzw. kaum angesprochen. Es fehlt an einer Aufklärung und einer damit verbundenen gesellschaft­lichen Auseinandersetzung und einer Fokussierung auf das Thema im Rahmen der Primärver- sorgung (Dennis & Chung-Lee, 2006; Härtl, Müller & Friese, 2006; Pearlstein, Howard, Sa­lisbury & Zlotnick, 2009).

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) stellt mit dem nationalen Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt (2017)“ folgendes in den Mittelpunkt seiner Arbeit: „die Förderung der Bindung zu den Eltern, gesunde Lebensverhältnisse, soziale Sicherheit sowie die Vermeidung von Unfallgefahren und elterlichen Überforderungssituationen. Eltern, die besonders belastet sind - wie z.B. durch eine schwierige soziale oder wirtschaftliche Lage, eigene Erkrankungen oder seelische Belastungen - müssen so früh wie möglich passgenaue Hilfen erhalten“ (Bundesministerium für Gesundheit, 2017, S. 33 ).

Die Prognose der erfolgreichen Überwindung bzw. der Behandlung einer PPD ist besser, je eher sie diagnostiziert und behandelt wird. Somit stellen die Psychoedukation4, die Prophyla­xe, die Identifizierung und die Entstigmatisierung von Frauen mit einer PPD und deren frühe Behandlung wichtige Schritte dar, um mit dem Problem umzugehen und das Leiden und eine Chronifizierung zu verhindern (Beck, 1998; Dennis & Chung-Lee, 2006; Hübner-Liebermann et al., 2012; Martini, 2011).

Mobile digitale Technologien haben in den letzten Jahren Einzug in die Medizin und in das Gesundheitswesen gehalten. Es stellt sich daher die Frage, ob sie eine Chance bieten, um Fa­milien bezüglich PPD aufzuklären, Frauen mit PPD zu identifizieren, ihnen wichtige Adres­sen zu vermitteln und kleine Interventionen anzubieten. Die sogenannten mobilen Health Apps (mHealth App) werden in den unterschiedlichsten Kontexten genutzt (Mosa, Yoo & Sheets, 2012). Sie haben ein enormes Potenzial, die Lücke zwischen Aufklärung, Identifizie­rung und Notwendigkeit einer akuten Behandlung und langfristigen Terminen in den Praxen zu überwinden (Lal & Adair, 2014). Zudem sind sie kostengünstig, einfach in der Bedienung und können eine große Population erreichen (Barak & Grohol, 2011). Die Studie von Osma et al. (2016) verdeutlicht zudem, dass gerade für die spezifische Population von Frauen in der Peripartalzeit das Mobiltelefon das wichtigste technische Gerät für die Suche nach Gesund­heitsinformationen im Internet ist. Zudem gaben mehr als die Hälfte der befragten Frauen an, sich mHealth Apps heruntergeladen zu haben (Osma, Barrera & Ramphos, 2016). Allerdings gibt es bislang noch nicht genügend Belege über die Wirksamkeit von mHealth Interventio­nen (Becker et al., 2014). Ebenfalls fehlt es an einem evaluierten Vorgehen bei der Konzeptu- alisierung und Entwicklung von mHealth Interventionen (Smith et al., 2016).

Die vorliegende Masterarbeit widmet sich der Entwicklung eines Prototyps einer mHealth Intervention für die PPD, obwohl die Autorin weiß, dass damit nicht das ganze Spektrum psychischer Störungen in der Peripartalzeit abgebildet wird. Im ersten Teil der Arbeit werden die theoretischen Grundlagen zum Thema PPD und hinsichtlich mHealth Interventionen er­läutert. Der empirische Teil widmet sich der Identifizierung von Informationen über die PPD sowie mögliche Fragen über die Nutzung von Smartphones, über weitverbreitete Betriebssys­teme und der Frage, was eine mHealth Intervention beinhalten sollte. Das Ziel dieser Arbeit ist, in einem empirischen Vorgehen den Prototypen einer mHealth Intervention für die PPD zu entwickeln, der in einem fortlaufenden Prozess sowohl Nutzerinnen-5 und Nutzer-, Fach­personen- und IT-orientiert überprüft und angepasst wird. Mobile Smartphone-Apps könnten ein vielversprechender Ansatz sein, eine niedrigschwellige Intervention anzubieten, um vor­handene Barrieren des Gesundheitssystems zu überwinden, Menschen über die PPD aufzuklä­ren und einen besseren Zugang zu betroffenen Frauen zu bekommen. Zudem könnten sie einen selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Gesundheit unterstützen und die Resilienz6 in der Transition der Peripartalzeit stärken (Kwee & McBride, 2016).

2. THEORETISCHER HINTERGRUND

In diesem Kapitel wird der Untersuchungskontext der PPD dargestellt. Nach einer allge­meinen Einführung über psychische Störungen in der Peripartalzeit wird der Forschungsfokus auf die PPD gerichtet in Bezug auf die Prävalenz, die klinischen Symptome, die Ätiologie und die Risikofaktoren sowie den Verlauf und die Folgen. Danach werden die Klassifikation, die diagnostischen Kriterien, die Messinstrumente, der peripartale Versorgungskontext sowie mögliche Behandlungsstrategien und ein beispielhafter Interventionsansatz beschrieben. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der aus der wissenschaftlichen Literatur gewonne­nen Erkenntnisse.

2.1 Psychische Störungen in der Peripartalzeit

„Ich kam mir verlassen vor, glaubte es aber nicht anders zu verdienen: Ich war nicht in der Lage, meiner Tochter Ruhe zu schenken. Trotzdem machte ich mit zusammengebissenen Zäh­nen weiter, auch wenn ich immer verzagter wurde. Mein Körper verweigerte die Mutterrolle.“ (Elena Ferrante: „Die Geschichte der getrennten Wege“, S. 302)

Psychische Störungen werden nach Wittchen et al. (2011) als ein klinisch bedeutsames Mus­ter im Denken, Erleben, Äußern von Gefühlen, Urteilen oder Handeln einer Person definiert, welches mit Normabweichungen, funktionellen Beeinträchtigungen, Leid und einem Ände­rungsbedürfnis einhergeht (Wittchen et al., 2011). Sie gehören zu den häufigsten Komplikati­onen in der Peripartalzeit (Riecher-Rössler, 2006). Bei psychischen Störungen in der Peripartalzeit handelt es sich keinesfalls um neue Störungsbilder, sondern die Symptome wurden bereits in der Antike von Hippokrates (460 vor Christus) beschrieben (Hofecker Fal- lahpour et al., 2005; Junge-Hoffmeister, Bittner & Weidner, 2012; Salis, 2007). Im 19. Jahr­hundert finden sie durch den französischen Psychiater Louis Victor Marcé (1858) mit seinem Buch „Traité de la folie des femmes enceintes des nouvelles accouchées et des nourrices: et considérations médico-légales qui se rattachent a ce sujet“7 Einzug in die wissenschaftliche Literatur (Marcé, 1858).

Laut Vesga-Lopez et al. (2008) ist Schwangerschaft nicht mit einer erhöhten Inzidenz8 psy­chischer Störungen assoziiert, jedoch treten sie in der Postpartalzeit häufiger auf (Vesga- Lopez et al., 2008). Es gibt eine beachtliche Zahl an (werdenden) Müttern, die in ihrer Vor­geschichte psychische Probleme haben. Bei anderen entwickelt sich eine seelische Er­krankung während der Peripartalzeit das erste Mal (Hübner-Liebermann et al., 2012).

Die Erscheinungsbilder der psychischen Störungen in der Peripartalzeit sind nicht homogen. Sie können ein breites Spektrum aufzeigen von leichteren Formen, die oft übersehen werden, bis hin zu schweren depressiven oder psychotischen Verläufen. Sie lassen sich in vier Grup­pen einteilen, aber die Übergänge können fließend sein: 1) Psychosen, 2) Mutter-Kind­Beziehungsstörungen, 3) Angststörungen, Zwangsvorstellungen, Stressreaktionen, 4) Depres­sionen (Brockington, 2001).

Der Übergang zur Elternschaft, mit all seinen Anforderungen auf psychischer, physischer und sozialer Ebene kann für manche Frauen als sehr belastend erlebt werden, wenn ihre bisher genutzten Bewältigungsstrategien nicht mehr funktionieren und ihnen der Zugriff auf die ei­genen Ressourcen9 unmöglich ist (Viguera et al., 2011). Die Beziehung zur Partnerin und zum Partner verändert sich. Die Frau muss ihre neue Rolle als Mutter erlernen und ein eigenes Mutterkonzept entwickeln und integrieren. Die eigenen Bedürfnisse werden notwendiger­weise den Bedürfnissen des Kindes untergeordnet, was mit einem Verlust von Kontrolle, Au­tonomie und Selbstbestimmung einhergeht. Isolation durch fehlende Berufstätigkeit und die damit verbundene Anerkennung und auch finanzielle Abhängigkeit (z.B. von der Partnerin und dem Partner) sind bedeutsam. Zudem gibt es durch den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext klare Vorstellungen und Bewertungen, wie eine Mutter zu sein hat (Badinter, 2010). Den peripartalen psychischen Störungen wird trotz der schweren Auswirkungen auf die ein­zelne Frau, die Familie und letztendlich auf die ganze Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit gewidmet und sie werden tabuisiert. Folglich werden sie häufig nicht identifiziert, diagnosti­ziert oder adäquat behandelt. Es wird angenommen, dass mehr als die Hälfte der Erkrankun­gen unentdeckt bleiben (Andersson & Cuijpers, 2009; Beck & Gable, 2001). Die Gründe dafür sind vielschichtig. Im Allgemeinen unterliegen die psychischen Störungen einer Stig- matisierung10. Die Frauen stehen unter einem enormen gesellschaftlichen Druck, dem Bild einer perfekten, glücklichen Mutter mit einem zufriedenen Kind zu entsprechen, das durch die Medien wie Zeitschriften, Werbung, Filme etc. suggeriert wird. Die negative Außenbeurtei- lung über die Art und Weise der Babyversorgung und die Entwertung der Mütter bei Über­forderung, Anstrengung und hochirritablen Kindern, „den Schreikindern“, ist enorm (Riecher­Rössler, 2006). Der derzeitige Forschungsstand ist hinsichtlich innerer Selbstbilder, die einen negativen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der Frau in der Peripartalzeit haben könn­ten, nicht belastbar. Hieraus ergibt sich, dass betroffene Frauen häufig aus Scham- und Schuldgefühlen und der Angst, dass ihnen das Kind weggenommen wird, ihre Symptomatik bei Ärztin und Arzt oder Hebammen und Entbindungspflegern11 verschweigen. Studien konn­ten aufzeigen, dass in der Peripartalzeit die Inanspruchnahme von professioneller psychothe­rapeutischer Hilfen im Vergleich zu anderen Lebensphasen geringer ist (Le Strat, Dubertret & Le Foll, 2011; Vesga-Lopez et al., 2008). Betroffene Frauen versuchen, eine Fassade auf­rechtzuerhalten und sich hinter einem Lächeln zu verstecken. Aus diesem Grunde wird die PPD auch oft als „Smiling Depression“ bezeichnet. Nur etwa 20 bis 40% der betroffenen Frauen suchen professionelle Hilfe. Dieses Schweigen wird durch Familienangehörige oder auch durch das professionelle Personal verstärkt, die aufgrund der eigenen Angst und Betroffenheit nicht nach dem psychischen Wohlbefinden fragen. Zudem belegen Studien, dass Ärztinnen und Ärzte der Fachrichtung Gynäkologie und Pädiatrie in der Erkennung von peripartalen Störungen ungenügend ausgebildet sind. Es ist davon auszugehen, dass nur ein geringer An­teil der Frauen mit PPD in den Praxen identifiziert wird. Beispielsweise gaben nur 5% der Hebammen und der Entbindungspfleger in einer Befragung an, standardisierte Screening­Instrumente zur Identifizierung der peripartalen Störungen zu nutzen. Es fehlt zudem an einer zeitnahen und adäquaten medizinischen Behandlung (Dennis & Chung-Lee, 2006; Härtl et al., 2006; Pearlstein et al., 2009; Salis, 2007).

2.2 Prävalenz der Peripartaldepression

Bei der PPD handelt sich um alle schweren, lang andauernden und behandlungsbedürftigen depressiven Erkrankungen rund um die Geburt, die mit einem hohen Leidensdruck und großer Belastung für die Frauen und Familien einhergehen (Riecher-Rössler, 2006). In der Allge­meinbevölkerung treten depressive Störungen mit einer Inzidenz von 8 bis 20% (Laux, 2011) auf. Die peripartale Depressionsrate unterscheidet sich nicht von der Depressionsrate gleich­altriger Frauen ohne Geburt (Gavin et al., 2005; Riecher-Rössler, 1997).

Die Prävalenz einer Depression in der Schwangerschaft ist laut einer älteren Studie von Cox et al. (1987) von 6 auf 38% gestiegen (Cox et al., 1987). Andere Autorinnen und Autoren berichten, dass etwa 12,7% der schwangeren Frauen unter einer PPD leiden (Benute et al., 2010) und in einer Übersichtsarbeit im Deutschen Ärzteblatt wird sie mit 18,4% beziffert (Hübner-Liebermann et al., 2012).

Nach der Metaanalyse von Gavin et al. (2005) liegt die Häufigkeit des Auftretens einer De­pression nach einer Geburt zwischen 14 bis 23% (Gavin et al., 2005). Andere Studien geben an, dass die Prävalenz der PPD in Deutschland und Spanien zwischen 6 bis 8%, in Belgien, Polen und Italien bei 13 bis 18% liegt (Cox et al., 1987). In internationalen Studien finden sich Angaben zur Prävalenz zwischen 10 bis 20% (Kemp et al., 2003; Lee & Chung, 2007). Die Metaanalyse von O'Hara und Swain (1996) geht von einer mittleren Prävalenzrate von 13% aus (O'Hara & Swain, 1996).

Diese Inkonsistenz in den Angaben der Prävalenz beruht auf der Nutzung unterschiedlicher Diagnosekriterien und Messinstrumente. Auch gibt es hinsichtlich des postpartalen Zeitrau­mes keine übereinstimmende Definition. Laut Stowe et al. (2005) kann die PPD innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Geburt entstehen (Stowe, Hostetter & Newport, 2005). Andere Autorinnen und Autoren definieren den Zeitraum beginnend von vier bis sechs Wochen nach der Geburt mit einer Dauer von bis zu sechs Monaten (Beck & Gable, 2001). Riecher-Rössler wiederum spricht von einem Jahr nach der Geburt, in der eine PPD auftreten oder entstehen kann (Riecher-Rössler, 2006). Je länger der definierte postpartale Zeitraum ist, desto höher sind die Prävalenzangaben. Der Häufigkeitsgipfel liegt im dritten Monat nach der Geburt (O'Hara & Swain, 1996). Auch etwa 10% der Väter entwickeln nach der Geburt ihres Kindes Symptome einer PPD (O'Brien et al., 2016; Paulson & Bazemore, 2010).

2.3 Symptome der Peripartaldepression

„Nach dem Kaiserschnitt habe ich mich körperlich ziemlich schlecht gefühlt und habe eigent­lich mein Kind erst mal gar nicht gebrauchen können ... also das Kind war da, man hat sich auch irgendwie gefreut, aber eigentlich hat es gestört ...“ (aus einem der geführten Inter­views)

Nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand stellen die depressiven Störungen kein homogenes Krankheitsbild dar. Menschen mit depressiven Belastungen oder Erkrankun­gen leiden an Störungen des gesamten Organismus. Dieses kann sich auf emotionaler, kogni­tiver, physiologisch-vegetativer, motorischer, sozial-interaktiver oder verhaltensbezogener Ebene ausdrücken. Häufig kommt es zu einer schleichenden Entwicklung mit zunächst soma­tischer Symptombildung (Laux, 2011).

Die Symptomatik der depressiven Störungen in der Peripartalzeit ist vielfältig und unterschei­det sich nicht prinzipiell von Depressionen in anderen Lebensphasen (Bloemeke, 2007; Rie­cher-Rössler, 2006; Salis, 2007). So können die in der zehnten Ausgabe des WHO Manuals International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) beschriebenen Schlüsselsymptome der Depression wie depressive Verstimmung, Verminde­rung des Antriebs, Freud- und Interessenverlust das klinische Bild prägen. Zusatzsymptome können sich zeigen in Form von vermehrtem oder vermindertem Appetit, Schlafstörungen, Minderung der Konzentration und der Aufmerksamkeit, Verlust des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens, Schulderleben, Gefühlen von Wertlosigkeit, negativen Zukunftsper­spektiven, Denkblockierung und wiederkehrenden Gedanken an den Tod, Lebensmüdigkeit und Planung oder Ausführung eines Suizidversuches. Diagnostisch relevant ist das Bestehen der Symptomatik über mindestens 14 Tagen an fast allen Tagen und für die meiste Zeit des Tages. Um eine Diagnose zu stellen, müssen mindestens zwei der Hauptsymptome und drei weitere Nebensymptome vorhanden sein (Dilling, Mombour, Schmidt & Organization, 1991). In der Peripartalzeit zeigen sich häufig lavierte Depressionen, die sich beispielsweise anhand von unspezifischen Komplikationen wie Schmerzzuständen jeglicher Art, schlechte Ernäh­rung, Substanzmissbrauch, Frühgeburtlichkeit, intrauteriner Wachstumsverzögerung, einer veränderten fetalen Herzaktivität, Präeklampsie12 oder Stillproblemen erkennen lassen. Ob­gleich die PPD in ihren Symptombeschreibungen den depressiven Störungen ohne Geburt zugeordnet wird, sind mit ihr spezifische Symptomkonstellationen verbunden. Typisch ist, dass das depressive Grübeln, die Schuldgefühle und das Insuffizienzgefühl sich inhaltlich auf das Kind und die Mutterschaft beziehen. Zudem kann ein ständiges Bild von Beschwerden und Klagen über mangelnde Unterstützung entstehen. Bei etwa 20 bis 40% der Mütter kommt es zu Zwangsgedanken, dem Kind etwas anzutun. Sehr schwere Verläufe der PPD können mit psychotischen Symptomen einhergehen (Beesdo-Baum & Wittchen, 2011; Fowles, 1998; Gale & Harlow, 2003; Riecher-Rössler, 2006). Frauen, die unter einer PPD leiden, berichten oft über eine Gefühllosigkeit dem Kind gegenüber, was sie wiederum sehr erschreckt und beschämt und die depressiven Gefühlszustände verstärkt (Riecher-Rössler, 2006). Durch die affektiven Störungen der Mutter kann es zu Missdeutungen kindlicher Signale und fehlendem Feingefühl im Umgang mit dem Säugling kommen. Die Mütter sprechen weniger in der Am- mensprache13 mit ihrem Neugeborenen, vermeiden den direkten Blickkontakt und die direkte Ansprache oder zärtliche Berührungen (Salis, 2007). Differentialdiagnostisch ist die PPD mit ihrer Symptomatik von dem so genannten Babyblues und der Peripartalpsychose (PPP) abzu­grenzen (Riecher-Rössler, 2006).

Der Babyblues mit den Synonymen wie das postpartale Stimmungstief, die postpartale Dys­phorie, die Heultage, der Wochenbettblues, das Milchfieber, ist ein leichter Verstimmungszu­stand von vorübergehender Natur, der unter anderem mit einer ausgeprägten Stimmungslabilität, Traurigkeit, vermehrtem Weinen, leichter Appetitlosigkeit, Schlafprob­lemen, einer erhöhten Reizbarkeit und einer übermäßigen Sorge um das Kind einhergehen kann. Er tritt häufig zwischen dem 3. und 10. postpartalen Tag bei etwa 50 bis 70% aller Frauen auf und ist weder diagnose- noch behandlungsrelevant, sondern wird als eine gesunde Reaktion auf die vielschichtigen Lebensveränderungen nach einer Geburt beschrieben. In der Regel verschwindet er innerhalb der ersten zwei Wochen folgenlos. Es sollte allerdings im­mer beachtet werden, dass sich aus einem verlängerten Babyblues eine PPD entwickeln kann (Kemp et al., 2003; Salis, 2007).

Die schwerste Form psychischer peripartaler Erkrankungen ist die PPP, die auch Wochenbett­oder Puerperalpsychose genannt wird. Es lassen sich die manische, die depressive und die schizophrene Erscheinungsform voneinander unterscheiden. Das manische Bild zeigt sich in einer überzogenen Antriebssteigerung, Verwirrtheit, wahnhaften Überzeugungen, einem ge­ringen Schlafbedürfnis, einem Eindruck von Verwirrtheit und des „Sich-verloren-Fühlens". Frauen mit einer depressiven Form der PPP können sich teilnahmslos und antriebsarm zeigen. Sie wirken oft versteinert, zeigen Schuld- und Angstgefühle und leiden an Realitätsverlust. Die schizophrene Form der PPP kann sich in Halluzinationen und Wahnvorstellungen zeigen, die sich auch auf das Kind beziehen können. Die PPD mit psychotischen Symptomen wie auch die PPP geht mit hochgradigen Angst- und Suizidgedanken einher. In dieser Situation besteht eine große Gefährdung von Mutter und Kind und eine stationäre Aufnahme ist unbe­dingt erforderlich. Schwere Verläufe einer Depression oder einer Psychose sind rasch zu er- kennen, während über 50% der leichteren Formen übersehen werden (Hübner-Liebermann et al., 2012; Ramsay, 1993; Rohde, 2004; Salis, 2007; Sauer, 1997).

2.4 Ätiologie und Risikofaktoren der Peripartaldepression

Die PPD ist nach dem derzeitigen Forschungsstand ein Phänomen mit multifaktorieller und multikausaler Ätiopathogenese. Im Hinblick auf mögliche spezifische und unspezifische Ri­sikofaktoren lassen sich in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche und widersprüch­liche Aussagen finden.

Laut Riecher-Rössler (2006) unterscheiden sich Frauen mit einer PPD nicht hinsichtlich hor­moneller, geburtshilflicher oder vieler anderer psychosozialer Faktoren von den Frauen, die in der Peripartalzeit gesund bleiben. Einheitlich berichten jedoch betroffene Frauen von einer fehlenden sozialen Unterstützung und einer konfliktreichen Beziehung zur Partnerin und zum Partner (Riecher-Rössler, 2006). Im Gegensatz dazu gibt es Studien, die die Geburt eines Kindes als kritisches Lebensereignis beschreiben, das Frauen als sehr unterschiedlich erleben und bewerten. Bei einigen kann es während der Geburt durch die Konfrontation mit existenzi­ellen Ängsten und Schmerzerfahrungen dazu führen, dass Gefühle der Ohnmacht und der Hilfslosigkeit das Geburtserlebnis überschatten. Komplizierte oder traumatische Geburtser­eignisse, der Zustand nach drohendem Abort und die Kaiserschnittentbindung erhöhen die Entstehung einer PPD (Nielsen, Videbech, Hedegaard, Dalby & Secher, 2000; Pantlen & Rohde, 2001; Salis, 2007). Das Erleben von traumatischen Ereignissen in der Peripartalzeit wie beispielsweise der Tod eines Angehörigen, Frühgeburtlichkeit, negative Erlebnisse im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik, das Beenden des Stillens nach sechs Wochen, das abrupte medikamentöse Abstillen und die frühe Flaschenfütterung scheinen einen negativen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden von Frauen zu haben (Hannah, Adams, Lee, Glo­ver & Sandler, 1992; Salis, 2007). Als weitere unspezifische Risikofaktoren werden psychi­sche Vorerkrankungen, belastende Lebensereignisse, präpartale Ängstlichkeit, Geburtskomplikationen, das Temperament des Kindes, ein mangelndes Selbstwertgefühl, eine Belastung durch Säuglingspflege, eine ungewollte Schwangerschaft und Gewalterfahrungen als prädiktiv aufgeführt (Benute et al., 2010; Garda et al., 1999; Hübner-Liebermann et al., 2012; O'Hara & Swain, 1996; Viguera et al., 2011). In einer anderen Studie werden niedrige Bildung, soziale Isolation und ungenügende soziale Unterstützung in der Schwangerschaft als die wichtigsten Prädiktoren der PPD, sowie Multiparität14, kurze Zeitabstände zwischen den Schwangerschaften und psychosozialer Stress in der Spätschwangerschaft genannt (Gürel & Gürel, 2000; Nielsen et al., 2000).

Auf der Ebene der biologischen Risikofaktoren scheint die genetische Disposition eine bedeu­tende Rolle zu spielen. Frauen mit psychischen Vorerkrankungen weisen ein mögliches Wie­derholungsrisiko von 30 bis 60% auf (Hofecker Fallahpour et al., 2005; Riecher-Rössler, 1997). Andere Studien betonen die Bedeutung der hormonellen peripartalen Veränderungen. Die dopaminergen, hormonellen und endokrinen Regelkreise stehen in einem engen Zu­sammenhang zur emotionalen Stimmungslage. In der Peripartalzeit kann es zu Funktions­störungen dieser Regelkreise kommen, die einen negativen Einfluss auf das psychische Wohl­befinden der Frauen haben (Hendrick, Altshuler & Suri, 1998; Salis, 2007).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich in der sensiblen Phase der Peripartalzeit jegliche Komplikation oder Verunsicherung zu einer großen emotionalen Belastung und Überforderung der Frau auswirken kann. Es bleibt daher ungeklärt, welcher spezifische Aus­löser die Entstehung einer PPD begünstigt und ob bestimmte Risikofaktoren nicht schon die Folge einer depressiven Erkrankung darstellen (Salis, 2007).

2.5 Verlauf und Folgen der Peripartaldepression

„... ich habe immer wieder gelesen, dass es wichtig ist, bei einer Wochenbettdepression schnell zu reagieren und sie behandeln zu lassen, aber wie es dann wirklich in der Praxis aussieht und wer mir helfen kann, habe ich nicht erfahren und ich war sehr alleine ...“ (aus einem der geführten Interviews)

Obwohl der Verlauf im Vergleich mit depressiven Erkrankungen in anderen Lebens­abschnitten aufgrund kürzerer Krankheitsepisoden und eines geringeren Rückfallrisikos güns­tiger erscheint, besteht die Gefahr, dass es durch den depressiven Rückzug der Mutter und ihrer Unfähigkeit, sich dem Kind feinfühlig und sensibel zuzuwenden, zu einer Störung der frühen Mutter-Kind-Interaktion mit lang anhaltenden Folgen für das Kind kommen kann (Brisch, 2009; Lyons-Ruth & Melnick, 2002; Reck, 2012; Salis, 2007). Säuglinge depressiver Mütter können biochemische, physiologische Ungleichgewichte und verhaltensbedingte Dys­regulationen aufweisen, die auf biochemische Ungleichgewichte bereits in der Schwanger­schaft zurückzuführen sein können (Field, 1998; Weinberg & Tronick, 1998). Sanders (2005) geht davon aus, dass etwa 10% der Mutter-Kind-Beziehungen eine Störung aufweisen, die sich in einem Zusammenhang mit einer psychiatrischen Erkrankung der Mutter entwickelt (Sanders, 2005). Bei den Kindern können emotionale und Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Entwicklungsverzögerungen entstehen (Riecher-Rössler, 2006). Vor allem eine schwere und chronische depressive Störungsbelastung der Mutter geht mit einem erhöhten Erkrankungsri­siko für das Kind einher (Teti, Gelfand, Messinger & Isabella, 1995). Kinder depressiver Mütter weisen eine geringere soziale Kompetenz (Goodman, Brogan, Lynch & Fielding, 1993), eine niedrigere kognitive Leistungsfähigkeit (Sharp et al., 1995) auf und haben eine höhere Wahrscheinlichkeit selbst als Jugendliche und Jugendlicher an einer Depression zu erkranken (Pawlby, Hay, Sharp, Waters & O'Keane, 2009).

Die betroffenen Frauen verarbeiten ihre depressiven Gefühle häufig mit Schuldgefühlen dem Kind gegenüber, die sie aufgrund von Schamgefühlen noch zusätzlich verschweigen. Zudem trauen sie sich häufig nicht, offen über ihre ambivalenten Gefühle dem Kind gegenüber zu sprechen oder sich Hilfe zu suchen. Dies führt zu einer Verstärkung des depressiven Gefühls­zustandes. Ein Teufelskreis entsteht (Salis, 2007).

Aufgrund des Erlebens von Belastung und Überforderungen besteht die Gefahr der Kindes­misshandlung. Das schwere Leid der depressiven Mütter, die Verringerung ihrer Lebens­qualität, die Konflikte mit der Partnerin und dem Partner und im sozialen Umfeld erhöhen das Suizid- und Infantizidrisiko sowie das eines erweiterten Suizides (Boath et al., 1998; Carter, Garrity-Rokous, Chazan-Cohen, Little & Briggs-Gowan, 2001; Gale & Harlow, 2003; Oates, 2003; Riecher-Rössler, 1997; Stein et al., 1991). Das Suizidrisiko ist laut einer Studie von Appleby et al. (1998) von psychisch erkrankten Frauen in der Postpartalzeit um das 70-fache höher als bei der Vergleichsgruppe ohne Geburt (Appleby, Mortensen & Faragher, 1998).

2.6 Klassifikation und diagnostische Kriterien der Peripartaldepression

Im Hinblick auf die Klassifikation und die diagnostischen Kriterien der PPD fehlt es an konsistenten Konzepten in der Wissenschaft. Für die PPD existieren weder in dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders in seiner 5. Ausgabe DSM-5 (American Psychiat­ric Association, 2013) noch in der ICD-10 (Dilling et al., 1991) klare Einordnungen, was eine Diagnose erschwert. Eine der Einordnungen in der ICD-10 lehnt sich an die Unipolare De­pression (F32.-) an, die je nach Ausprägungsgrad und Häufigkeit der Symptome in leichte, mittlere und schwere depressive Episoden mit und ohne psychotische Symptomatik unterteilt wird. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die PPD unter den rezidivierenden depressiven Störungen und anhaltenden affektiven Störungen (F33.-) zu verorten (Dilling et al., 1991; Härter et al., 2010). Die PPD kann auch unter sonstige nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörungen im Wochenbett mit der Ziffer F53.0 eingeordnet werden. Der Zeit­punkt kann unter 099.3 spezifiziert werden (Riecher-Rössler & Rohde, 2005). Die Ein- ordnung der PPD unter Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörung (F43.-) konnte durch die Literaturrecherche nicht aufgezeigt werden.

2.7 Diagnostische Messinstrumente der Peripartaldepression

Die uneindeutige Klassifikation der PPD hat auch zur Folge, dass bislang kein Mess­instrument für die Diagnosestellung vorhanden ist. Es existieren unterschiedliche Screening­Instrumente, die für die Identifizierung einer möglichen PPD genutzt werden.

Das wichtigste Früherkennungsinstrument ist die EPDS, die bereits im Jahre 1987 von Cox et al. entwickelt worden ist. Sie ist ein leicht anwendbares, ökonomisches, effizientes und gut akzeptiertes Selbstbeurteilungs-Instrument, welches sowohl sensitiv als auch spezifisch für die PPD validiert wurde. Der Fragebogen besteht aus zehn Items, die das Wohlbefinden der zurückliegenden sieben Tage abfragen. Die Antworten werden auf einer Skala von null bis drei gewertet. Liegt der Gesamtwert über einem Cut-off-Wert von zehn Punkten, kann ein depressiver Leidenszustand vermutet werden (Cox et al., 1987). Obgleich es die EPDS in mehreren Sprachen gibt und sie crosskulturell evaluiert ist, sollte bei jeder Befragung und Auswertung der spezielle kulturelle Hintergrund berücksichtigt werden. Die EPDS kann auch während der Schwangerschaft oder bei Vätern eingesetzt werden (Salis, 2007).

Ein weiteres spezifisches, aber weniger verbreitetes Screening-Instrument ist der Selbst­auskunftsbogen Postpartum Depression Screening Scale (PDSS). Er besteht aus 35 Items. Es lassen sich keine Aussagen über die Spezifität, Sensitivität und Vorhersagbarkeit finden (Beck & Gable, 2000).

Zur Erfassung einer Mutter-Kind-Beziehungsstörung wird der Parental Bonding Question­naire (PBQ) empfohlen (Sanders, 2005). Mit diesem Fragebogen aus 25 Items kann eine Ab­schätzung über einen behandlungsbedürftigen Zustand der Mutter-Kind-Interaktion vorgenommen werden. Die Fragen bestehen aus den vier Skalen über die Gefahr von Miss­brauch des Kindes, eine verzögerte Bindung, das Angsterleben, die Ablehnung und Wut dem Kind gegenüber.

Ein weiteres Screening-Instrument ist die Depression-Angst-Stress-Skala für die Peripartal- zeit (DASS-P), die aus 15 Items besteht. Sie gilt als praktikabel, ökonomisch und sensitiv für Auffälligkeiten vier Wochen vor und nach der Geburt (Martini et al., 2009).

Die zwei Fragen der S3-Leitlinien für die Unipolare Depression können ebenfalls als Scree­ning-Instrument für die PPD genutzt werden: 1) „Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?“ und 2) „Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?“ Wenn beide Fragen mit Ja beantwortet werden, sollte eine weitere aktive Exploration gemäß der S3-Leitlinie durchgeführt werden (DGPPN et al., 2009).

2.8 Darstellung des peripartalen Versorgungskontextes

Die medizinische Versorgung der in Deutschland lebenden Frauen und ihrer Kinder in der Peripartalzeit ist mit den Mutterschaftsrichtlinien (Bundesausschuss der Ärzte, 1999), dem Hebammengesetz (HebG) und den Kindervorsorgeuntersuchungen im Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) im Paragraph 26 geregelt. Sie verfolgen das Ziel, durch regelmäßige Untersuchungen den Gesundheitszustand der Frau und des Kindes zu erfassen, Aufklärungs­arbeit zu leisten und Risiken möglichst frühzeitig zu erkennen und behandeln. Jedoch existiert im Versorgungskontext weder auf ärztlicher Seite noch auf der der Hebammen und Ent­bindungspfleger bislang eine routinemäßige Abfrage bezüglich des emotionalen Wohlbefin­dens. In Ländern wie Australien und den USA gehört die Abfrage zu einem qualitativen Stan­dard. In Großbritannien werden gemäß den S3-Leitlinien für Unipolare Depressionen die beiden Fragen hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens genutzt (Härter et al., 2010; Hüb­ner-Liebermann et al., 2012).

Demgegenüber zeichnet sich ein dramatischer Hebammenmangel in Deutschland ab. Laut des Deutschen Hebammenverbandes e.V. (Hebammenverband e.V., 2016) und medialer Informa­tionen (z.B. Berliner Zeitung vom 19.03.2018: „Katastrophale Lage - Hebammen-Mangel in Berlin führt zu dramatischen Szenen“) kann längst nicht mehr von einer flächendeckenden Versorgung von Hebammen und Entbindungspflegern in Deutschland ausgegangen werden. Somit werden viele Frauen und deren Familien in der Lebensumbruchsphase der Peripartal- zeit nicht ausreichend medizinisch und psychosozial versorgt. Laut Studienergebnissen führt die regelmäßige Betreuung durch Hebammen und Entbindungspfleger dazu, dass vor allem auch früh aus dem Krankenhaus entlassene Frauen zufriedener und sicherer im Umgang mit dem Baby und in der Mutterrolle sind. Dies wird mit einem niedrigen Aufkommen der PPD assoziiert (Boulvain et al., 2004; S. Brown, Small, Argus, Davis & Krastev, 2002). Die Grün­de für diese Unterversorgung sind vielschichtig. Zum einen verzeichnet Deutschland gemäß dem Statistischen Bundesamt einen Anstieg der Geburtenzahlen (Statistische Bundesamt, 2018). Zum anderen fehlt es aufgrund von gesundheitspolitischen Entscheidungen an qualifi­zierten Hebammen und Entbindungspfleger und ihrer angemessenen Vergütung für diese Tä­tigkeit.

2.9 Behandlung der Peripartaldepression

„... ich glaube diese Überschüttung von unbekannten oder zu heftigen Gefühlen drängt oft nach einer Medikamentenlösung ... die Frauen merken, da stimmt was nicht ... man will sich nicht outen, weil das Kind ja gesund ist, da müsste doch alles in Ordnung sein ... da kommt es zu inneren Konflikten, weil ich gar nicht weiß, was ich jetzt aussprechen kann ...“ (aus einem der geführten Interviews)

Die Behandlung der PPD ist abhängig vom Schweregrad der vorliegenden Erkrankung. Laut der World Health Organization (WHO) können Frauen durch angemessene Hilfe und Unterstützung ihre peripartalen Depressionszustände gut überwinden, wobei die tragenden Säulen im Umgang mit der PPD Strategien der Prophylaxe, Früherkennung, Aufklärung und Entlastung von Schuldgefühlen sind (WHO, 2015).

Obgleich die Behandlung der PPD sich nicht wesentlich von der Behandlung depressiver Stö­rungen in anderen Lebensphasen unterscheidet, sind die diagnostischen und therapeutischen Herausforderungen der PPD doch sehr spezifisch (Riecher-Rössler, 1997). Allgemein wird in der Literatur beschrieben, dass die meisten Frauen in der Peripartalzeit die Erfahrung und das Vertrauen brauchen, dass sie umsorgt werden, sich ausruhen dürfen und ihre Bedürfnisse res­pektiert werden. Der Schutz der Mutter durch Entlastung, Anerkennung, Ruhe und Förderung der Mutter-Kind-Bindung wirken sich positiv auf das psychische Wohlbefinden der Frauen aus (Brisch, 2009; Salis, 2007).

Für die supportive Behandlung einer milderen Form der PPD sowie bei guten sozialen und intrapsychischen Ressourcen der betroffenen Frau kann eine gezielte Beratung durch gut aus­gebildete Fachleute eine hinreichende Unterstützung sein. Frauen, deren PPD-Erkrankungs- risiko bereits in die Schwangerschaft erhöht ist (z.B. aufgrund einer vergangenen PPD, psychiatrischer Erkrankungen in der Anamnese, eines Traumas etc.), sollten engmaschig psy­chiatrisch und psychosomatisch begleitet und nach Abwägung sogar medikamentös einge­stellt werden. Die Wichtigkeit des Ruhebedürfnisses und des Nachtschlafes der Mutter sollte betont werden. Das Thema Stillen bzw. Abstillen sollte immer einer sachlichen Abwägung und keiner moralischen Wertung unterliegen (Riecher-Rössler, 1997).

Bei schweren Verläufen der PPD ist eine psychotherapeutische und meist auch medikamentö­se Behandlung notwendig. Bei den psychotherapeutischen Verfahren konnten für die kogni- tiv-behaviorale Therapie (KBT), die Interpersonelle Psychotherapie (IP) und die psychodynamische Therapie (TP) positive Effekte verzeichnet werden (Riecher-Rössler, 2006; Sockol, 2015). Die psychotherapeutische Arbeit sollte in einem geschützten Rahmen stattfinden und gegenwartsbezogen sein, sodass Betroffene ambivalente Gefühle auch dem Kind gegenüber ohne Schuldzuweisung aussprechen können. Bedeutend erscheint im thera­peutischen Kontext zudem, die Affektdifferenzen zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den eigenen unterscheiden zu lernen, die eigenen zu formulieren und daraus entlastend zu intervenieren (Fiegl, 2006).

Eine stationäre Aufnahme ist beim Vorliegen einer schweren PPD und einer PPP angezeigt. Hierbei beseht seitens der Fachleute eine Unsicherheit darüber die adäquate psychotherapeuti­sche bzw. psychopharmakologische Behandlung und über welches Setting, im Hinblick auf eine Mutter-Kind-Therapie oder Mitnahme des Säuglings in die Klinik, angebracht ist (Weid­ner et al., 2017a). Eine kurzfristige Mutter-Kind-Trennung ist insbesondere beim Vorliegen eines Suizidrisikos und bis zum Abklingen der akuten Symptome notwendig (Riecher­Rössler, 1997), langfristig jedoch erscheint es vorteilhaft, die Mutter mit ihrem Kind gemein­sam auf spezielle Stationen aufzunehmen (Halbreich, 2005; Martini, Weidner & Hoyer, 2008).

Eine medikamentöse Behandlung der Frauen mit Antidepressiva ist vor allem bei den schwe­ren depressiven Verläufen angezeigt. Hierbei bedarf es sorgfältiger Risikoabwägungen sowie individueller Überlegungen der Medikamentierung bei stillenden Müttern (Klier, Schäfer & Lanczik, 2006).

Die Prognose von der Schwere einer PPD ist besser, je eher sie identifiziert und behandelt wird (Martini, 2011). Jedoch zeigt sich, dass die medizinische und psychotherapeutische Ver­sorgung von Menschen mit einer psychischen Störung im Allgemeinen nur etwa 25% der Betroffenen erreicht und diese nur eine minimale Beratung bei der Hausärztin und dem Haus­arzt erhalten (Wittchen et al., 2011). Erschwerend kommt hinzu, dass Menschen, die eine psychotherapeutische Behandlung möchten, mit langen Wartezeiten rechnen müssen. So liegt laut einer Studie die durchschnittliche Wartezeit für ein psychotherapeutisches Erstgespräch bei bis zu 7,2 Wochen um einen Therapieplatz zu erhalten; muss ca. 15,5 Wochen gewartet werden (Nübling, 2014). Dies hat zur Folge, dass aufgrund der mangelnden psychotherapeuti­schen Versorgung und nach aktueller Studienlage auch schneller eine medikamentöse Behand­lung der PPD mit in Betracht gezogen wird (Dennis & Hodnett, 2007; Hübner-Liebermann et al., 2012; Martini, 2011). Für Betroffene ist eine stationäre Behandlung zumeist mit großen Ängsten und Sorgen verbunden, sodass es von großer Wichtigkeit und zugleich großer Heraus­forderung ist, ein gutes ambulantes interdisziplinäres Setting zu erschaffen, um damit die Not­wendigkeit der stationären Aufnahme zu verhindern (Halbreich, 2005; Martini et al., 2008). Es erscheint auf lange Sicht kostengünstiger zu sein, in die professionelle Ausbildung mit dem Schwerpunkt des psychischen Wohlbefindens, psychosozialen Managements und famili­ärer Unterstützung zu investieren (Gavin et al., 2005).

2.10 Peripartale Depression - was tun? Das Manual „Thinking Healthy“

Das Manual „Thinking Healthy“ ist eine spezifische Intervention für das psychosoziale Management der PPD, das im WHO-Kontext des sogenannten Mental Health Gap Action Programm Intervention Guide (mhGAP-IG) entwickelt wurde (WHO, 2015). Das Ziel dieser Programme ist, psychische Belastungen bzw. Störungen möglichst früh zu identifizieren und niedrigschwellige Interventionen anzubieten, um das psychische und physische Wohlbefinden von Menschen zu verbessern. Diese Programme bestehen aus Richtlinien und Trainingsmate­rialien für den Umgang mit den unterschiedlichsten psychischen Störungen, die auf evidenz­basierten Interventionstechniken beruhen. Sie sind für Fachleute der gesundheitlichen Erstversorgung entwickelt und beziehen sich nicht explizit auf psychiatrische oder psycholo­gische Behandlungen. Eines dieser Programme beinhaltet das Thema PPD.

Der zentrale Ansatz von „Thinking Healthy“ ist die zeitnahe Begleitung einer PPD durch ein psychosoziales Management im häuslichen Umfeld, welches das Ziel verfolgt, das Selbst­wirksamkeitserleben und Empowerment der Frauen zu stärken und das psychische und physi­sche Wohlbefinden der (werdenden) Mutter und ihres Säuglings zu verbessern. Die Interventionsmethoden sind in einer wertschätzenden, klaren und verständlichen Sprache so­wie mit Bildern beschrieben. Begriffe wie Stresserleben und Belastung werden dem der De­pression vorgezogen, um einer Stigmatisierung und Pathologisierung entgegenzuwirken. Der lösungs- und ressourcenorientierte Interventionsansatz beruht auf Elementen der KBT, der Psychoedukation und integriert sportliche Aktivitäten, Entspannungsübungen und Problem­lösungsstrategien, die im Alltag mit einfließen können. Die soziale Unterstützung wird als ein besonders bedeutender Schutzfaktor hervorgehoben. Welche der Strategien wirklich hilft, kann sich unterschiedlich bei den (werdenden) Müttern gestalten. Die eine erlebt die psycho­edukativen Anteile als hilfreicher, die andere die KBT-Methode.

„Thinking Healthy“ nutzt KBT-Strategien, um belastendende bzw. schädigende Gedanken oder Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. Die nachfolgende Tabelle (s. Tab. 1) gibt ei­nen strukturierten Überblick der methodischen Herangehensweise. Im ersten Schritt geht es darum, die belastenden Gedanken zu identifizieren, die dann im nächsten Schritt durch unter­stützende Gedanken ersetzt werden sollen. Hierbei erlernt die (werdende) Mutter, welche Ge­fühle und welches Verhalten hinter diesen Gedanken stehen. Im dritten Schritt geht es um die aktive Umsetzung der neu gewonnenen Erkenntnisse in den Alltag. Es werden kleine Haus- aufgaben aufgegeben, die bis zur nächsten Zusammenkunft geübt werden sollen. „Thinking Healthy“ kann bereits in der Schwangerschaft beginnen und sich über das erste postpartale Jahr erstrecken. Thematisch besteht es aus einer Anfangssitzung und fünf Modulen. In der Anfangssitzung werden die Intervention und Prinzipien der KBT erklärt. Das erste Modul liegt in der Schwangerschaft. Die weiteren vier Module finden im postpartalen Zeitraum, etwa im 1., 2. bis 4., 5. bis 7. und 8. bis 10. Monat, statt. Begleitend kann die betroffene Frau den Stimmungskalender nutzen, der fünf unterschiedliche Stimmungszustände mit Bildern zeigt. Dieser Kalender dient dem Stimmungsmonitoring. Thematisch beschäftigen sich die Sit­zungen mit der mütterlichen Gesundheit, der Mutter-Kind-Beziehung und mit den Beziehun­gen der Mutter im sozialen Umfeld. Zudem wird an die Schlüsselaussagen der vergangenen Sitzung erinnert, der Stimmungszustand erfasst und die drei Stufen der KBT erlernt. Ziel ist es zwischen den einzelnen Sitzungen das neu Erlernte zu üben und in den Alltag zu integrie­ren.

Tabelle 1. Überblick des WHO-Manuals „Thinking Healthy“ für das psychosoziale Management der PPD

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.11 Zusammenfassung

Die PPD ist eine ernstzunehmende und häufige Erkrankung mit einem breiten Spektrum von Symptomen. Die derzeitige Studienlage zeigt ein inkonsistentes Bild hinsichtlich Ätio­logie, Risikofaktoren, Behandlungskonzepten und Früherkennung. Gemessen an den schwer­wiegenden Belastungen und Gefahren für die Mutter, das Kind und das soziale Umfeld sowie den Konsequenzen auch auf gesundheitspolitischer und gesundheitsökonomischer Ebene wurde der PPD bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Praktische und validierte Screening­Instrumente existieren, sie finden seitens der Fachleute jedoch kaum Einsatz. Das Thema der depressiven Gefühlszustände in der Peripartalzeit wird sowohl gesellschaftlich und professio­nell tabuisiert. Die Gründe hierfür basieren vor allem auf Unwissenheit und Stigmatisierung. Übereinstimmend scheinen die genetische Prädisposition, die fehlende soziale Unterstützung und Konflikte mit der Partnerin und dem Partner Risikofaktoren für die Entstehung einer PPD zu sein. Die Geburt als solche kann als ein unspezifischer Faktor beschrieben werden, der sich auf die biologischen, psychologischen und sozialen Ebenen auswirken kann. Am wichtigsten im Umgang mit der PPD sind Aufklärungsarbeit, Früherkennung und Behandlung. Die Stan­dardeinführung der EPDS und spezifische Handlungsleitlinien für die medizinische peripartale Versorgung müssen entwickelt und erforscht werden. Es gilt, niedrigschwellige und zeitnahe Angebote für den Kontext der PPD zu entwickeln. Hierbei könnte das WHO-Manual „Think- ing Healthy“ als eine evaluierte Interventionsmethode genutzt werden. Die Psychoedukation, die Stressreduktion und die Identifizierung von Frauen mit emotionalen Störungen und deren frühe Behandlung in einer interdisziplinären Zusammenarbeit ist ein erster wichtiger Schritt, um mit dem Problem umzugehen (Beck, 1998; Kwee & McBride, 2016).

3. ENTWICKLUNGSSTAND DER mHEALTH INTERVENTIONEN

Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über den derzeitigen Entwicklungsstand der mHealth Interventionen. Dargelegt wird die Nutzung von mHealth Interventionen bei emotio­nalen Störungen und Interventionsmöglichkeiten. Anschließend folgt die Beschreibung der Bedeutung von mHealth Interventionen für psychische Störungen in der Peripartalzeit, ihre Wirksamkeit und ihre Grenzen.

3.1 Nutzung von mHealth Interventionen bei emotionalen Störungen

Die heutigen Smartphones sind nicht mehr nur ein Kommunikationsmittel, sondern werden von großen Teilen der Bevölkerung zusätzlich längst als Mittel zur Informationsbeschaffung, Eigenorganisation und sozialen Vernetzung eingesetzt. Innerhalb der Kommunikations- und Netzwerktechnologie gewinnen Gesundheits-Apps für das Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung. Smartphones scheinen sich zum Medium der Zukunft zu entwickeln und werden mittlerweile den per Computer aufrufbaren herkömmlichen Internetseiten vorgezogen (Bard­ram, Frost, Szanto & Marcu, 2012; Ly, Dahl, Carlbring & Andersson, 2012). Die sogenannte mobile Gesundheit, die mHealth, kann medizinische Verfahren und Maßnahmen innerhalb des gesamten Behandlungspfades und in den unterschiedlichsten Kontexten der körperlichen und seelischen Gesundheitsfürsorge unterstützen. Die mHealth-Apps besitzen das Potenzial, der Stigmatisierung bei psychischen Störungen durch Aufklärung entgegenzuwirken. Sie schei­nen mit einer höheren Diversität verbunden zu sein als Face-to-Face-Interventionen und können Informationen niedrigschwellig an eine große Population vermitteln. Sie sind kostengünstig und einfach in der Bedienung (Barak & Grohol, 2011). Die heutigen Smartphones sind nahe­zu ununterbrochen nutzbar, sind im Alltag verankert, für die meisten Menschen leicht zu be­schaffen und frei zugänglich. Nutzerinnen und Nutzer können sich unabhängig von Zeit und Ort eigenständig Informationen einholen, Familienmitglieder, andere Unterstützerinnen und Unterstützer einbeziehen oder eine angebotene Intervention nutzen. Diese Interventionen können im eigenen Tempo durchgeführt und je nach individuellem Bedarf wiederholt werden (Becker et al., 2014). Auch können Handlungsabläufe für Krisensituationen und ein Feedback in eine App implementiert werden. Durch Studienergebnisse ist belegt, dass mHealth Inter­ventionen ein enormes Potenzial haben, die Lücke zwischen Aufklärung und identifizierter Notwendigkeit von Behandlung sowie lange Wartezeiten zu überbrücken (Lal & Adair, 2014). Zudem können sie zur Stärkung der gesundheitlichen Selbstbestimmung und zu einer Verkürzung der Therapie beitragen. Vorteilhaft erscheinen zudem die Flexibilität, die Er­reichbarkeit, die Barrierefreiheit, die erhöhte Möglichkeit der Selbstöffnung und eine aktivere Einbindung. Folglich besteht die Hoffnung, einen besseren Zugang zu den betroffenen Perso­nen und ihren Bedürfnissen im Hinblick auf das psychische Wohlbefinden zu erlangen (Be­cker et al., 2014).

3.2 mHealth Interventionsmöglichkeiten für das psychische Wohlbefinden

„... hilfreich ist immer, wenn man was hat, wo man einfach ohne Angst auch sein Scheitern am Ehrgeiz als Mutter ausdrücken kann, dieses Gefühl alles perfekt machen zu müssen ... dass das Kind auch verträgt, wenn Dinge nicht perfekt sind ... ich würde mir etwas Entlasten­des für die Frauen wünschen ...“ (aus einem der geführten Interviews)

Mögliche Inhalte von mHealth Interventionen, die das psychische Wohlbefinden positiv beeinflussen sollen, sind bisher in zu geringem Umfang explorativ erforscht. Die Entwicklung einer mHealth Intervention für das psychische Wohlbefinden ist mit Herausforderungen hin­sichtlich Wissenschaftlichkeit und Sicherheit bei gleichzeitiger Beachtung der Bedürfnisse der spezifischen Zielpopulation verbunden. Bei der Entwicklung einer mHealth Intervention kann sich eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, die Wissenschaft, Klinik, Technologie und die potenziellen Nutzerinnen und Nutzer zu gleichen Teilen berücksichtigt, als vorteilhaft erweisen (Bardram et al., 2012; Ben-Zeev et al., 2012).

Die mHealth Interventionen können sich unterschiedlich gestalten, sie können personalisiert oder interaktiv stattfinden. Für die Interventionsentwicklung sind nach Becker et al. (2014) vier psychologische Hauptfaktoren bedeutend: die Sensibilisierung, das Verständnis für das Gesundheitsthema, die Schaffung der (technischen) Voraussetzungen und das psychologische Konzept der Verstärkung. Des Weiteren ist es wichtig, dass die Nutzerin und der Nutzer Ver­trauen zur Informationsquelle und deren Empfehlungen entwickeln (Becker et al., 2014). Schlüsselfaktoren heben die speziell auf die Nutzerin und den Nutzer zugeschnittene An­wendung hervor, sowie ein eingebautes Feedbacksystem und die Möglichkeit der klinischen wie auch technischen Unterstützung. Bedeutend sind laut Hind et al. (2015) zudem adaptive Lernsysteme, die die Handlungen der Nutzerinnen und der Nutzer analysieren, interpretieren und dynamisch anpassen (Hind & Sibbald, 2015).

Die Verbindung zwischen dem eigenen Verhalten und dem psychischen Wohlbefinden zu verstehen, ist eine zentrale Herausforderung. Diesbezüglich können mHealth Interventionen durch aktives Monitoring von Symptomen eine Chance für Menschen sein, die emotionale Selbstwahrnehmung zu erhöhen, das Verhalten und Fühlen zu verstehen und positiv zu be­einflussen. mHealth Interventionen werden sowohl von Patientinnen und Patienten als auch von ärztlicher und psychotherapeutischer Seite therapiebegleitend mit zunehmender Ver­breitung genutzt, was sich auch gerade bei der psychiatrischen ambulanten Versorgung zeigt (Torous et al., 2014). So können mHealth Interventionen im therapeutischen Kontext die Ein­stellung einer Person gegenüber dem Therapieprozess positiv beeinflussen, ihn begleitend unterstützen und nach der Beendung der Therapie von Nutzen sein (Ben-Zeev et al., 2012; Grünerbl et al., 2014; Hind & Sibbald, 2015; Price et al., 2014; Reid et al., 2011). Die Wahr­nehmung eigener Emotionen und die Fähigkeit der Selbstregulation sind wichtige Skills in der Behandlung von psychischen Störungen. Sie können mit Mitteln der Informations­technologie gefördert werden. Smartphones können auf einem einfachen und objektiven Weg die Verhaltensweisen in Bezug auf Störungsverhalten aufzeigen und grafisch sichtbar ma­chen. Dieses Monitoring kann genutzt werden, um Zustandsübergänge des psychischen Wohlbefindens, die im alltäglichen Leben verankert sind, zu identifizieren. Beispielsweise bewegen sich Menschen mit depressiven Verstimmungen häufig weniger, was sich durch physiologisches Bewegungsmonitoring innerhalb einer mHealth Intervention messen lassen könnte (Grünerbl et al., 2015; Grünerbl et al., 2012). Auch bei Menschen mit einer Bipolaren Störung könnte die jeweilige Nutzung des Smartphones Hinweise auf ein erhöhtes Erkran­kungsrisiko geben (Alvarez-Lozano et al., 2014). Innerhalb eines therapeutischen Behand­lungsprozesses können mHealth Interventionen auch hilfreich sein, um Stimmungszustände, Schlafstunden und subjektive Aktivitäten abzufragen und die gewonnenen Informationen dann anschließend visuell auszuwerten und gezielte Verhaltensvorschläge oder ein Coaching zur Verbesserung des psychischen Wohlbefindens zu implementieren. Somit könnte durch eine mHealth Intervention je nach individuellem Kontext und Störungsbild eine Verhaltens­veränderung, die Medikamenteneinnahme oder die therapeutische Begleitung unterstützt wer­den (Bardram et al., 2013; Bardram et al., 2012).

Das Monitoring von Symptomen und psychoedukative Anteile, die in einer App eingebettet sind, haben das Potenzial, die Nutzerin und den Nutzer darin zu bestärken, eigenständig mit der eigenen Krankheit umzugehen und Rückfälle sowie Hospitalisation zu verhindern (Kauer et al., 2012). Betroffene Menschen werden darin unterstützt, sich selbst zu helfen, sensibler wahrzunehmen und Kontrolle über die eigene Gesundheit zu erlangen. Die Selbsthilfe kann sich in Form der Suche nach eigenen Lösungswegen und Ressourcen, Veränderungen im All­tag oder mit dem bewussten Aufsuchen von sozialer oder professioneller Unterstützung in Form der Teilnahme an Selbsthilfegruppen zeigen (Topham, Caleb-Solly & Matthews, 2015). Somit können psychische Leidenssymptome mithilfe einer mHealth Intervention durch die Steigerung des Selbstmanagements positiv beeinflusst werden, was eine Verringerung von Hoffnungslosigkeit bewirkt (Kuhn et al., 2014).

Als eine weitere potente Komponente der mHealth Interventionen ist die technische Nutzung von Warnsignalen via SMS oder E-Mail zu nennen, die in einem positiven Zusammenhang mit einer Verbesserung des psychischen Wohlbefindens stehen (Whitton et al., 2015). Im the­rapeutischen Konzept können Erinnerungen an Schlüsselskills der Therapie, eine therapeuti­sche Überprüfung der Anwendung erlernter Skills, das Senden von Therapiematerial, der Kontakt mit der Patientin und dem Patienten in Echtzeit mittels Benachrichtigungen, das Ma­nagen von Belohnungen bzw. Verstärkungen und ein Kommunikationsprotokoll begleitend genutzt werden (Pramana, Parmanto, Kendall & Silk, 2014).

Es lassen sich zwei Anwendungskategorien der mHealth Interventionen aufzeigen. Bei erste­rer liegt der Fokus auf der Gesundheitsverhaltensänderung und bei der anderen geht es um die Durchführung der vorgeschriebenen Behandlungsstrategien. Für den Bereich von Depressio­nen und Angststörungen sollte inhaltlich der Schwerpunkt auf der Psychoedukation, einem Screening, dem Monitoring von Verhalten und einer effektiven und überzeugenden Strategie für eine aktuelle Verhaltensänderung mit einem Fokus auf sozialer Unterstützung liegen (Al- caniz, Botella, Banos, Zaragoza & Guixeres, 2009).

Die App „moodpath“15 ist ein Beispiel einer mHealth Intervention für die Erkennung depres­siver Störungen, die wissenschaftlich-, Nutzerinnen- und Nutzer-, sowie Design- und Pro­duktorientiert entwickelt worden ist und ständig validiert wird. Das Konzept der mHealth Intervention beruht auf der Verhaltenstherapie.

3.3 Bedeutung einer mHealth Intervention für psychische Störungen in der Peripartalzeit

Die Studie von Osma et al. (2016) verdeutlicht, dass gerade für die spezifische Population von Frauen in der Peripartalzeit das Smartphone das wichtigste technische Gerät ist, um nach Gesundheitsinformationen im Internet zu suchen. Zudem gab mehr als die Hälfte der befrag­ten Frauen an, sich mHealth Intervention heruntergeladen zu haben (Osma et al., 2016). Al­lerdings existieren bislang keine spezifischen Apps, die sich mit Entstehung, Entwicklung, Diagnose und Behandlung von psychischen Störungen in der Peripartalzeit beschäftigen. Es lassen sich Apps für die Schwangerschaft, das Leben mit einem Baby und andere für Depres­sions- und Angststörungen im Allgemeinen finden, jedoch keine, die beide Aspekte mitein­ander verbindet (Osma, Plaza, Crespo, Medrano & Serrano, 2014).

3.4 Evidenz der Wirksamkeit von mHealth Interventionen

Die wissenschaftliche Studienlage über die Wirksamkeit von mHealth Interventionen ist gering und es fehlt an fundierten wissenschaftlichen Überprüfungen. Auch bei der Konzep­tion und Entwicklung einer mHealth Intervention gibt es weder ein evaluiertes Vorgehen noch eine Überprüfungsinstanz. Folglich lassen sich auch für die Nutzerinnen und Nutzer kaum Hinweise über die Zuverlässigkeit und die Wirksamkeit der mHealth Intervention finden (Ahtinen et al., 2013; Becker et al., 2014; Ben-Zeev, Davis, Kaiser, Krzsos & Drake, 2013; Donker et al., 2013; Fiordelli, Diviani & Schulz, 2013; Smith et al., 2016). Bezüglich der Nutzungsdauer und Nachhaltigkeit von mHealth Interventionen lassen sich auch keine Aus­sagen finden (Hind & Sibbald, 2015).

Jedoch besteht die allgemeine Annahme, dass mHealth Interventionen das Potenzial haben, Symptome von Stresserleben, Bipolaren Störungen und Angst- oder Depressionsstörungen effektiv zu reduzieren. Zudem scheinen sie das Selbstwirksamkeitserleben und den therapeu­tischen Prozess positiv zu beeinflussen (Harrison et al., 2011). mHealth Interventionen er­setzen nicht den Face-to-Face-Kontakt einer therapeutischen Sitzung, können ihn jedoch un­terstützen (Barak & Grohol, 2011) und zu positiveren Wirksamkeitseffekten führen (Becker et al., 2014). Eine Metaanalyse beschreibt, dass mHealth Interventionen mit einem Therapeuten effektiver sind als reine Selbsthilfeprogramme (Andersson, Cuijpers, Carlbring, Riper & Hedman, 2014).

Hinsichtlich einiger therapeutischer Verfahrensweisen lassen sich mittlerweile Aussagen über deren Wirksamkeit finden. Die Metaanalyse von Hedman et al. (2012) konnte aufzeigen, dass die internetbasierte kognitiv-behaviorale Therapie (ICBT) eine vielversprechende, wirksame und kostengünstige Behandlung darstellt, die sich nicht hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf psychische Störungen wie beispielswiese Angststörungen, Panikstörungen, Depressionen und soziale Phobien von herkömmlichen kognitiven Verhaltenstherapien unterscheidet (Hedman, Ljotsson & Lindefors, 2012).

3.5 Barrieren von mHealth Interventionen

Die Entwicklung von mHealth Interventionen für das psychische Wohlbefinden ist mit un­terschiedlichen Barrieren und neuen Herausforderungen verbunden, die im weiteren Verlauf des Abschnittes erörtert werden. Eine optimale Versorgung hinsichtlich des psychischen Wohlbefindens bedarf im Allgemeinen eines sensiblen und rechtzeitigen Erkennens von mög­lichen psychischen Problemen und Krisen. Im Hinblick auf mHealth Interventionen, die das psychische Wohlbefinden positiv beeinflussen sollen, braucht es hierfür eine soziale, wissen- schaftliche und ethische Auseinandersetzung. Diese sollte die Auswirkungen auf die medika­mentöse als auch für die nichtmedikamentöse Behandlung des psychischen Wohlbefindens und Verhaltens thematisieren sowie deren Bemessung und Behandlung. Die entscheidende Herausforderung besteht darin, mit den eingeschränkten Hinweisreizen, der Synchronizität und Interaktivität, den diagnostischen Möglichkeiten, möglichen Kriseninterventionen, dem Datenschutz und einer Fernbehandlung adäquat umzugehen (Glenn & Monteith, 2014; Iste- panian, Pattichis & Laxminarayan, 2006; Mosa et al., 2012).

Weiterhin sollten die Qualität des Angebots und die damit verbundenen Entwicklungskosten und App-Preise mit Blick auf eine möglichst breite Nutzbarkeit miteinander in Einklang ge­bracht werden. Eine Schwierigkeit zeigt sich laut Becker et al. (2014) darin, dass die auf psy­chologischen Theorien und Modellen basierenden mHealth Interventionen qualitativ höher, doch zugleich teurer sind und dadurch ihre Nutzung durch finanziell schwächer gestellte Menschen seltener oder gar nicht stattfindet (Becker et al., 2014).

Eine weitere Herausforderung besteht darin, Menschen davon zu überzeugen, dass die Nut­zung einer mHealth Intervention Vorteile mit sich bringen kann. Dazu ist es nötig, Menschen in ihrer Selbstverantwortung und Motivation zu bestärken (Festersen & Corradini, 2014) und sprachlich überzeugende Metaphern für komplexe psychische Störungen zu finden, die so­wohl für die Betroffenen als auch für Fachleute verständlich sind (Marcu & Bardram, o.D.16 ). Es konnte aufgezeigt werden, dass eine Lücke besteht zwischen dem Wissen über die positiven Effekte von mHealth Intervention aus professioneller Sicht und der Integration dieser An­wendungsmethoden für die praktische Arbeit. Psychologinnen und Psychologen und Psychia­terinnen und Psychiater haben in der Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen eine ethische und professionelle Verantwortung, ihr Wissen über Behandlungsmöglichkeiten stetig zu erweitern und sich mit neuen Methoden auseinanderzusetzen. Es erscheint von großer Bedeutung, dass diese neue Entwicklung in die Lehre miteinbezogen wird, sodass der Benefit dieser neuen Technologien für Patientinnen und Patienten und auch für die Fachleute aus­geschöpft werden kann (East & Havard, 2015).

3.6 Zusammenfassung

Es konnte gezeigt werden, dass die Entwicklung von mHealth Interventionen auch für den Bereich des psychischen Wohlbefindens zunehmend Verbreitung findet und vorteilhaft ist. mHealth Interventionen haben das Potenzial, ein niedrigschwelliges, kostengünstiges, orts- und zeitunabhängiges Angebot in der Gesundheitsversorgung zu werden. Sie können unter anderem für Aufklärungsarbeit, Identifizierung von Symptomen, Vernetzung und Monitoring genutzt werden. Zudem können sie kleine Interventionen oder Feedbacksysteme beinhalten. Bisher lassen sich bereits mHealth Interventionen für Depressionen allgemein finden, jedoch nicht für die PPD. Smartphones spielen in der Population von Frauen in der Peripartalzeit bei der Beschaffung von Informationen eine bedeutende Rolle. Die schnelle Entwicklung von mHealth Interventionen geht allerdings mit einem Mangel an evaluierten Wirksamkeits­studien einher. Es lassen sich einige wenige Studien finden, die der Nutzung über eine positi­ve Wirkung auf das psychische Wohlbefinden zuschreiben. Effektiv scheinen im Zusammen­hang von mHealth Interventionen Inhalte wie Psychoedukation, Empowerment von Patientinnen und Patienten, Erreichen von Therapiezielen, Screening, Monitoring von Verhal­ten und Vernetzung zu sein. Zudem scheint es bei der Anwendung von ICBT keinen Unter­schied beim herkömmlichen Behandlungsergebnis zu geben. Es konnte aufgezeigt werden, dass die Entwicklung von mHealth Interventionen mit vielen unterschiedlichen Heraus­forderungen verbunden ist. „moodpath“ als eine wissenschaftlich fundierte mHealth Interven­tion wurde beispielhaft genannt. Ein systematisches wissenschaftliches Vorgehen bei der Entwicklung einer App wird im kommenden Abschnitt dargestellt.

[...]


1 Zeitraum der Schwangerschaft, der Geburt und des Wochenbettes (Psychrembel & Dornblüth, 1994).

2 Häufigkeit des Vorhandensein eines bestimmten Merkmals (z.B. eine psychische Störung) in einer definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über eine bestimmte Zeitspanne (Wittchen & Hoyer, 2011, S. 1135).

3 https://www.bundesregierung.de/Content/Infomaterial/BMG/_3005.html, abgerufen am 30.05.2018.

4 Systematische und strukturierte Vermittlung wissenschaftlich fundierter gesundheits- und/oder störungs­relevanter Informationen und Kompetenzen (Wittchen et al., 2011, S. 1135).

5 Die hier vorliegende Masterarbeit nutzt eine gendersensible Sprache mittels der geschlechtlichen Beidnennung.

6 Fähigkeit einer Person, auch in Gegenwart von extremen Belastungsfaktoren und ungünstigen Lebensein­flüssen adaptiv und proaktiv zu handeln (Wittchen et al., 2011, S.1136).

7 Deutsche Übersetzung: „Die Behandlung der Verrücktheit der Schwangeren, der frisch Entbundenen und der Stillenden und medizinrechtliche Überlegungen“.

8 Epidemiologischer Kennwert. Anzahl neuer Erkrankungs- bzw. Störungsfälle in einer bestimmten Zeiteinheit und in einer definierten Region (Wittchen et al., 2011, S. 1132).

9 Dieser Begriff umfasst sämtliche unterstützende Aspekte der Psyche als auch der gesamten Lebenssituation eines Menschen (Wittchen et al., 2011, S.1136).

10 Charakterisierung einer Person durch gesellschaftliche oder gruppenspezifisch negativ bewertete Merkmale (z.B. „psychisch gestört“). Die damit verbundene Abwertung und Diskriminierung psychisch Kranker bildet einen Stressfaktor, der den Verlauf psychischer Störungen negativ beeinflusst (Wittchen et al., 2011, S.1137).

11 Die Bezeichnung Entbindungspfleger ist die männliche Form von Hebamme.

12 Die Präeklampsie ist eine schwangerschaftsspezifische Erkrankung, die einhergeht mit einem erhöhten Blut­druck und einer Eiweißausscheidung im Urin. Im Verlauf einer schweren Präeklampsie kann es zu tonisch­klonischen Krämpfen mit und ohne Bewusstseinsverlust kommen (Psychrembel et al., 1994; Geist, Harder & Stiefel, 2007)

13 Erwachsene und ältere Kinder verwenden häufig eine spezifische Sprechweise, wenn sie sich mit Säuglingen unterhalten. Diese Ammensprache zeichnet sich durch kurze, einfache Äußerungen, Wiederholungen, einer höheren Stimmlage, größerer Variation in der Sprechgeschwindigkeit, dem Frequenzbereich und dem Tonum­fang aus. Weitere charakteristische Merkmale sind ein langsameres Sprechen, eine übertriebene Satzmelodie mit häufig ansteigender Intonation und Pausen zwischen den Phrasen (Petermann, Niebank & Scheithauer, 2004, S. 161).

14 Das Auftreten mehrerer Geburten im Leben einer Frau.

15 https://www.moodpath.de/de/wissenschaft/, abgerufen am 03.06.2018.

16 o. D. = ohne Datum

Ende der Leseprobe aus 120 Seiten

Details

Titel
mHealth Intervention Design. Entwicklung einer mHealth Intervention für die peripartale Depression
Hochschule
Freie Universität Berlin  (AB Klinische Psychologie und Psychotherapie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2018
Seiten
120
Katalognummer
V1263744
ISBN (Buch)
9783346701220
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Peripartale Depression, mHealth Intervention, Prävention
Arbeit zitieren
Natalie Samimi (Autor:in), 2018, mHealth Intervention Design. Entwicklung einer mHealth Intervention für die peripartale Depression, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1263744

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