Toleranz und Pluralismus: Zum Einfluss von Herbert Marcuses Freudrezeption auf dessen Toleranzkonzeption


Seminararbeit, 2004

21 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Marcuse und die kritische Theorie

2 Marcuses Toleranzkonzeption

3 Freunds Psychoanalyse
3.1 Marcuses Freudrezeption
3.2 Fromms alternative Freudrezeption

4 Zum Zusammenhang zwischen Marcuses Freud- rezeption und Toleranzkonzeption
4.1 Diskussion

5 Literatur

Einleitung

Ziel dieser Arbeit ist es, den Einfluss von Herbert Marcuses Freudrezeption auf seine Toleranzkonzeption herauszuarbeiten. In einem ersten Teil wird kurz die Geschichte und Zielsetzung der Frankfurter Schule erläutert und Marcuses Stellung darin beleuch-tet. Der zweite Teil beschäftigt sich mit Marcuses Toleranzkonzeption. Dabei steht Marcuses Aufsatz Repressive Toleranz im Zentrum. Anschliessend wird gezeigt, in wie fern Marcuses Vorstellung von Toleranz von dessen Freudrezeption abhängt. Schliess-lich soll gezeigt werden, ob und wie weit Marcuses Toleranzkonzeption durch eine von ihm abweichende Freudrezeption verändert werden kann. Hierzu wird die Freudrezepti-on Erich Fromms der von Marcuse gegenübergestellt.

1 Marcuse und die kritische Theorie

Die Bezeichnung „Kritische Theorie“ geht auf den Titel des von Max Horkheimer 1937 verfassten Aufsatzes „Traditionelle und kritische Theorie“ zurück. Max Horkheimer war seit 1923 Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt auf welche der Name „Frankfurter Schule“ zurückgeht. Mitarbeiter am Institut waren in den 30er Jahren Theodor Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Leo Löwenthal und Friedrich Pollock. 1933 musste das Institut unter dem Druck des Nationalsozialismus über Genf nach Paris und sodann in die Vereinigten Staaten an die Columbia University in New York emigrieren. 1938 verliess Erich Fromm das Institut aufgrund wachsender Differenzen mit Marcuse, Adorno und Horkheimer. Vor dem Hintergrund des National-sozialismus einerseits und des Scheiterns der Revolution der Arbeiterbewegung nach dem 1. Weltkrieg andererseits sah es das Institut als seine Aufgabe, die traditionelle marxistische Theorie kritisch zu prüfen und deren Tragfähigkeit und Reichweite zu un-tersuchen. Die Mitglieder des Instituts waren bemüht, auf der Basis marxistischen Ge-dankengutes, die sozialen Verhältnisse, welche zum Phänomen Nationalsozialismus hatten führen können zu untersuchen und gewissermassen die marxistische Theorie selbst an die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen. Dies sollte unter Einbezug zeitgenössischer Disziplinen wie der Sozialwissenschaft oder der Psychoana­lyse geschehen, was in einer interdisziplinären Forschungsorganisation mündete. Der Philosophie kam dabei die Rolle des integrativen Mediums zwischen den beteiligten Einzelwissenschaften zu. Das Institut bezog eine kritische Position zwischen den zwei bestehenden Ordnungssystemen Kapitalismus und Marxismus. Die Schaffung dieses gedanklichen Spielraums wird als einer der positiven Beiträge der kritischen Theorie überhaupt bewertet.1

Ziel der Frankfurter Schule war es, eine historische Theorie der Epoche auf der Grund-lage des historischen Materialismus Marx’ und der Psychoanalyse Freuds zu formulie-ren.2 Vor allem Marx’ frühe Werke „Grundrisse“ und „Ökonomische und philosophi-sche Manuskripte von 1844“, welche in den 30er Jahren erstmals veröffentlicht wurden, fanden grosses Interesse.3 Die kritische Theorie sollte nicht nur mehr ökonomische Verhältnisse untersuchen, sondern die gesellschaftliche Totalität. Ihre Vertreter waren bestrebt, eine Alternative zum kapitalistischen System zu formulieren und deren Grund-lagen zu erforschen.4 Man war sich einig, dass ein sozialer Wandel den Wandel der Na-tur des Menschen bedingen müsste.5 Daraus ergab sich das Interesse in die Psychoana­lyse Freuds. Insbesondere war man bestrebt herauszufinden, wie das „Wesen“ des Men-schen durch ökonomische Verhältnisse derart bestimmt werden konnte, dass Klassen-konflikte und somit die Kraft des revolutionären Subjektes (bei Marx noch das Proleta­riat) neutralisiert werden konnten.6 Auch Herbert Marcuse interessierte sich für die Möglichkeit des Herbeiführens eines „neuen“ Bewusstseins, einer „neuen“ Gesellschaft. Sein Hauptinteresse blieb jedoch die Kritik der liberalkapitalistischen Gesellschaft.

Die während des Exils des Instituts in den USA entstandenen Werke "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno sowie die "Minima Moralia" Adornos bedeu-teten eine Akzentverlagerung von der Kritik am Kapitalismus hin zu] einer Kritik der westlichen Zivilisation als Ganzes. In den 50er und 60er Jahren, so deren pessimistische Überzeugung, wurde das ehemalige revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, unter der fortschreitenden Industrialisierung und den Bedingungen des Kalten Krieges, zuneh-mend in das liberalkapitalistische System integriert. Alle Bereiche des menschlichen Lebens, selbst die Bedürfnisse der Menschen, schienen mehr und mehr vom Kapitalis-mus vereinnahmt zu werden.7 Horkheimer und Adorno, welche anfangs der 50er Jahre wieder nach Frankfurt rückkehrten, sahen die kritische Theorie immer mehr als blossen Protest, unfähig in der Praxis einen wirklichen Wandel zu erzeugen, während der zu-sammen mit Marcuse in den USA verbliebene Erich Fromm sich seinen anfänglichen Optimismus bewahrte.8 Dieser Optimismus begründete sich zu einem Teil in Fromms Erfahrungen aus seiner klinisch-psychoanalytischen Praxis als auch in seiner Freudin-terpretation, welche von den übrigen Institutsmitgliedern als radikale Revision Freuds zurückgewiesen wurde.

In dieser Zeit erschienen Herbert Marcuses zwei Werke „Triebstruktur und Gesell-schaft“ 1955 und „Der eindimensionale Mensch“ 1964, welche zu Standardwerken der 68er Studentenbewegung wurden. Marcuse beschrieb die Situation der fortgeschrittenen Industriegesellschaft pessimistisch als eine repressive Gesellschaft, in welcher es keine kritische Reflektion sondern nur noch eindimensionales, positivistisches Denken gäbe. Die von Marcuse beschriebene Eindimensionalität meint die zunehmende Assimilierung einer persönlichen Dimension durch den Kapitalismus, die es den Individuen erlaubt, eine zweite soziale Dimension zu hinterfragen. Der Verlust jeglichen negativen Den-kens führe dazu, dass jede Reform letztendlich systemerhaltend wirke.9 Marcuse sah in der Deformation der Triebstruktur des Menschen einerseits die Grundlage der zuneh-mend repressiven Vergesellschaftung aber auch das Potential der Rebellion, der „grossen Weigerung“ wie er es nannte. Seiner Meinung nach war Freud der Schlüssel zur Erkenntnis, dass sich der Kapitalismus über die Introjektion seiner Bedürfnisse und deren Befriedigungsmöglichkeiten durch die Individuen, welche den Kapitalismus zu ihrem eigenen Bedürfnis machten, selber reproduziert.10 Die Weigerung bestünde in der individuellen Wahl, Bedürfnisse als konstruiert und damit falsch zu erkennen und sie abzulehnen, was sich angesichts deren tiefen Einbettung in die Persönlichkeitsstruktur der Individuen im Spätkapitalismus als annähernd unmöglich erweise. Es ergibt sich daraus folgender Teufelskreis: damit sich überhaupt das Bedürfnis nach Revolution, einer Alternative zum und einer Verbesserung vom bestehenden herausbilden kann, müssten die Mechanismen, welche die alten Bedürfnisse reproduzieren abgeschafft werden. Damit wiederum diese Mechanismen abgeschafft werden können, müsste zu-erst ein Bedürfnis entstehen, diese abzuschaffen.11

Insgesamt verwarf Marcuse die Idee der bestehenden Demokratie, er glaubte gleichzei-tig an eine ideale, herrschaftslose Form der Demokratie und um diese zu verwirklichen, rief er letztendlich zur Gewalt auf, resp. sah diese als gerechtfertigt, wenn sie der letzt-endlichen Befreiung der Menschen dient.12

2 Marcuses Toleranzkonzeption

Um Marcuses Toleranzkonzeption zu verstehen, muss zuerst dargelegt werden, wie er die gegenwärtige Situation einschätzte. In „Der eindimensionale Mensch“ versuchte Marcuse zu zeigen, dass der Positivismus im Spätkapitalismus selbst zur Ideologie ge-worden war. Die dem Kapitalismus zugrundeliegende Entfremdung13 werde als natür-lich, als gegeben wahrgenommen. Der Positivismus dient, da er keinen anderen als den Erfahrungswert zulässt, der Verfälschung der Wirklichkeit. Damit der Kapitalismus fortbestehen kann muss ein kontinuierlicher Kreis zwischen Produktion und Konsum bestehen, denn ohne endlosen Konsum würde der Produktionsprozess stagnieren. Um die zunehmende Entfremdung abfedern zu können, braucht es immer mehr soziale Kon-trolle. Nach Ansicht Marcuses hat dies in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft nur durch Internalisierung der Entfremdung erreicht werden können. Marcuse beschrieb diesen Mechanismus als „Introjektion“14. Die Herrschaft über die Individuen wurzle nun in der instinktiven Struktur der Individuen.15 Der fortgeschrittene Kapitalismus muss, um fortbestehen zu können, die Entfremdung in die Tiefen der Persönlichkeit und der Instinkte der Individuen senden. Um endlosen Konsum zu garantieren, muss die aus dem technischen Fortschritt entstehende Freizeit via Suggestion falscher Bedürfnisse und Präferenzen ebenfalls vereinnahmt und bestimmt werden. Das heisst konkret, dass die Kunst, die Politik sowie die tägliche Erfahrungswelt zunehmend ökonomisiert wer-den.16 Die Einteilung der eigenen Existenz in Arbeitszeit und Freizeit werde als natür-lich angesehen, Faktualität werde zum Fetisch, verstärke das falsche Bewusstsein und mache es unmöglich, Möglichkeiten der Befreiung, welche in der gegenwärtigen Situa-tion real bestünden, zu erkennen.17

[...]


1 Marcuse (1996): 140f.

2 Bierhoff (1993): 27

3 Burston (1991): 210

4 Marcuse (1996): 138

5 Martineau (1986): 35

6 Bierhoff (1993): 18f.

7 Dazu Marcuse: „Wir waren der Meinung, dass es in dieser Entwicklungsphase nicht eine einzige gesellschaftliche Dimension, ob materiell oder geistig, gab, die nicht unter den Einfluss der herrschenden Klasse und ihrer politischen und kulturellen Strategien stand.“ Marcuse (1996): 124

8 Burston (1991): 210f

9 Martineau (1986): 112

10 Marcuse (1996): 127. „Introjektion“ bedeutet eine Reihe spontaner Prozesse in welchen ein Selbst (Ego) „Äusseres“ in „Inneres“ verwandelt.

11 Martineau (1986): 35

12 Martineau (1986): 36

13 „Entfremdung“ im Sinne Marx’ bedeutet, dass der Arbeiter, der seine Arbeitskraft verkauft, nicht für sich selbst produziert und aufgrund der Arbeitsteilung nur ein Glied in der Produktionskette ist. Das Arbeitsprodukt wird ihm entfremdet, und so entfremdet er sich auch von seinen Mitmenschen.

14 Marcuse (1964): 9f.

15 Agger (1988): 315

16 Agger (1988): 317

17 Agger (1988): 319

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Toleranz und Pluralismus: Zum Einfluss von Herbert Marcuses Freudrezeption auf dessen Toleranzkonzeption
Hochschule
Universität Zürich  (Philosophisches Seminar)
Veranstaltung
Seminar Toleranz und Pluralismus
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V126407
ISBN (eBook)
9783640610204
ISBN (Buch)
9783640610198
Dateigröße
496 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Herbert Marcuse, Philosophie
Arbeit zitieren
Elena Holzheu (Autor:in), 2004, Toleranz und Pluralismus: Zum Einfluss von Herbert Marcuses Freudrezeption auf dessen Toleranzkonzeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126407

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