In Deutschland ist der Sozialstaat in Politik, Medien und Sozialwissenschaft seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner - es vergeht kaum eine Woche, in der nicht über den heimischen Sozialstaat debattiert und diskutiert wird. Dies ist zunächst nicht als negativ zu bewerten, sondern verdeutlicht den Stellenwert des Sozialstaats - schließlich ist der Sozialstaat gegründet worden,
um Bürger in den Wechselfällen des Lebens zu unterstützen. Unterstützung, Versicherung und Schutz gewährt der Sozialstaat den meisten Menschen der Bundesrepublik auch heute noch und daher erscheint ein Leben ohne Sozialstaat nur schwer vorstellbar. Die
jüngsten Reformen des Sozialstaats vermitteln jedoch ein anderes Bild: Die angebliche Notwendigkeit der »Hartz-Reform« wurde unter anderem damit begründet, dass der Sozialstaat zu teuer und ineffizient geworden sei und Bürger zuletzt mehr be- als entlastet habe. Diese vermeintlichen Schieflagen sind nach Ansicht führender Politiker in Deutschland durch die »Hartz-Reform« korrigiert worden. Dennoch werden permanent weitere Einschnitte bei den Leistungen des Sozialstaats gefordert: Manche Ökonomen verlangen Leistungskürzungen, verschiedene Politiker fordern schärfere Anspruchsvoraussetzungen für den Leistungsbezug,
andere beabsichtigen die Leistungen auf wirklich Bedürftige zu beschränken. Die ›notwendigen‹ Restriktionen des Sozialstaats werden unter anderem damit begründet, dass die
öffentlichen Schulden zu hoch seien und deswegen Bund, Länder und Kommunen so stark wie möglich zu sparen hätten - das Argument des Sparens soll hier jedoch nicht weiter thematisiert werden. Ferner behaupten Kritiker des Sozialstaats, dass dessen Leistungsbeschränkungen die Bereitschaft der Bürger zu mehr Eigenaktivität und Selbstverantwortung erhöhen würde. Gerhard Schröder argumentierte ebenso, als er die »Hartz-Gesetze« vorstellte und durchsetzte: »Hartz-Gesetze« respektive »Hartz-Reform« sowie »Agenda 2010« werden unter anderem auch in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden. Diese Arbeit befasst sich schließlich mit der Bedeutung und Funktion des Sozialstaats
und wird erläutern, wie tief gehend der Sozialstaat das Leben der Menschen in Deutschland prägt. Das hiesige Zusammenleben wird außerdem grundlegend durch die Staatsform bedingt - die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Staat...
Inhalt
1 Einleitung
2 Die Entwicklung des Sozialstaats
2.1 Die Expansion
2.2 Der Abbau
2.3 Der drastische Umbau
3 Der Neoliberalismus - Feind des Sozialstaats?
3.1 Der Neoliberalismus ist mehr als ein neuer Liberalismus
3.2 Die Entwicklung des Neoliberalismus
3.2.1 Die Soziale Marktwirtschaft
3.2.2 Der marktradikale Neoliberalismus
3.2.3 Soziale Marktwirtschaft versus marktradikaler Neoliberalismus
3.3 Die Dominanz des »an gelsächsischen Neoliberalismus«
Exkurs
3.4 »Angelsächsischer Neoliberalismus« in den USA - auch in Deutschland? .
4 »Angelsächsischer Neoliberalismus« versus soziale Rechte und Demokratie?
4.1 Die Expansion neoliberal angebotsorientierter Wirtschaftspolitik .
4.2 Kritik des angebotsorientierten Dogmatismus
4.3 Die sozialen Rechte sind Menschenrechte
4.3.1 Ursprünge sozialer Rechte
4.3.2 Konkretisierung und Funktion von sozialen Rechten und Menschenrechten
4.3.3 Die Interdependenz bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte
4.4 Die Kohärenz von Sozialstaat, sozialen Rechten und Demokratie
4.4.1 Der Umbau des Sozialstaats und der Abbau der sozialen Rechte - Regression der Demokratie?
4.4.1.1 Die Politik des »Dritten Weges« respektive der »Neuen Mitte«
4.4.1.2 »A genda 2010« und »Hartz Reform«
4.4.1.3 Die Einschränkung sozialer Rechte geht mit der Ausweitung von Zwangsma8nahmen einher
4.4.2 Der Umbau des Sozialstaats war neoliberal und bedingte den Abbau der sozialen Rechte und der Demokratie
Exkurs
5 Schlussbemerkungen
6 Literatur
1 Einleitung
» Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedin gun gen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. «
(Art. 23 Abs. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte)
In Deutschland ist der Sozialstaat in Politik, Medien und Sozialwissenschaft seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner - es vergeht kaum eine Woche, in der nicht Ober den heimischen Sozial-staat debattiert und diskutiert wird.1 Dies ist zunächst nicht als negativ zu bewerten, sondern verdeutlicht den Stellenwert des Sozialstaats - schliefllich ist der Sozialstaat gegründet wor-den, um Burger in den Wechselfällen des Lebens zu unterstützen. Unterstützung, Versiche-rung und Schutz gewährt der Sozialstaat den meisten Menschen der Bundesrepublik auch heute noch und daher erscheint ein Leben ohne Sozialstaat nur schwer vorstellbar. Die jungsten Reformen des Sozialstaats vermitteln jedoch ein anderes Bild: Die angebliche Not-wendigkeit der » Hartz-Reform« wurde unter anderem damit begründet, dass der Sozialstaat zu teuer und ineffizient geworden sei und Burger zuletzt mehr be- als entlastet habe. Diese vermeintlichen Schieflagen sind nach Ansicht führender Politiker in Deutschland durch die » Hartz-Reform« korrigiert worden. Dennoch werden permanent weitere Einschnitte bei den Leistungen des Sozialstaats gefordert: Manche Okonomen verlangen Leistungskürzungen, verschiedene Politiker fordern schärfere Anspruchsvoraussetzungen für den Leistungsbe-zug, andere beabsichtigen die Leistungen auf wirklich Bedürftige zu beschränken. Die >not-wendigen( Restriktionen des Sozialstaats werden unter anderem damit begründet, dass die öffentlichen Schulden zu hoch seien und deswegen Bund, Länder und Kommunen so stark wie möglich zu sparen hätten - das Argument des Sparens soll hier jedoch nicht weiter the-matisiert werden. Ferner behaupten Kritiker des Sozialstaats, dass dessen Leistungsbe-schränkungen die Bereitschaft der Burger zu mehr Eigenaktivität und Selbstverantwortung erhöhen wurde. Gerhard Schröder argumentierte ebenso, als er die » Hartz-Gesetze« vor-stellte und durchsetzte: » Hartz-Gesetze« respektive » Hartz-Reform« sowie »Agenda 2010« werden unter anderem auch in der vorliegenden Arbeit thematisiert werden.
Diese Arbeit befasst sich schliefllich mit der Bedeutung und Funktion des Sozial-staats und wird erläutern, wie tief gehend der Sozialstaat das Leben der Menschen in Deutschland prägt. Das hiesige Zusammenleben wird auflerdem grundlegend durch die Staatsform bedingt - die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Staat. Im Ge- gensatz zu der vielfachen Kritik am Sozialstaat wird die Demokratie - mit wenigen Ausnah-men - jedoch in der Politik, in den Medien und in der Sozialwissenschaft stets ausdrücklich gelobt. Dieses Lob ist allerdings trügerisch, wenn die Wandlung des Sozialsta]ats in den letz-ten Jahrzehnten betrachtet wird. Es ist nämlich Auffassung des Verfassers, dass Sozialstaat und Demokratie nicht unabhängig nebeneinander existieren, sondern in Interdependenz be-stehen. Ergo wirken sich Reformen des Sozialstaats ebenso auf den demokratischen Staat aus, es stellt sich lediglich die Frage, woran dies festgemacht werden kann. In der Arbeit wird davon ausgegangen, dass sich dies an der Ausgestaltung sozialer Rechte festmachen lässt, für die wiederum der Sozialstaat zuständig ist. Es wird daher erörtert werden, dass vielfache Anderungen an Inhalt und Form des Sozialstaats - vor allem unter der rot-grünen Bundesregierung - den Abbau sozialer Rechte bedingten, was sich schliefIlich negativ auf den Sozialstaat ausgewirkt hat. Es wird ferner zu erörtern sein, weshalb Reformen des Sozi-alstaats seit längerem den Abbau und nicht den Ausbau sozialer Rechte zur Folge haben - der Autor vermutet, dass der Neoliberalismus dafür verantwortlich zu machen ist. Darüber hinaus wird begründet werden, dass der Abbau sozialer Rechte sich letztlich auch negativ auf das demokratische System der Bundesrepublik ausgewirkt hat, weil die Verminderung sozialer Rechte ebenso die Regression der Demokratie bedingt. Es wird also angenommen, dass Sozialstaat und Demokratie in Interdependenz bestehen: Gleichwohl wird in dieser Ar-beit lediglich betrachtet werden, wie sich Veränderungen des Sozialstaats inklusive sozialer Rechte auf den demokratischen Staat der BRD auswirken. Wie potentielle und primäre Ver-änderungen des demokratischen Staates den Sozialstaat beeinflussen, wird nicht erörtert werden - ebenso erfolgt keine detaillierte und tiefgehende Analyse des demokratischen Systems.
Im Verlauf der Arbeit beabsichtigt der Verfasser also folgende Thesen zu belegen: jüngste >Reformen< des Sozialstaats - vor allem die » Hartz-Reform« der rot-grünen Bundes-regierung - bedingten einen drastischen Umbau des Sozialstaats sowie den gravierenden Abbau sozialer Rechte; verursacht wurde der Umbau des Sozialstaats sowie der Abbau so-zialer Rechte durch den Neoliberalismus; die Degression sozialer Rechte führte schliefIlich zur Regression von Demokratie.
Um diese Thesen belegen zu können, sind verschiedene Schritte notwendig: Im ers-ten Schritt (Kapitel 2) wird die Entwicklung des Sozialstaats dargestellt werden, die verdeutli-chen wird, dass soziale Rechte nicht ausschliefIlich ab-, sondern in jungen Jahren der BRD zunächst signifikant ausgebaut wurden. Um nachweisen zu können, dass der Neoliberalis-mus für den Umbau des Sozialstaats, den Abbau sozialer Rechte sowie die Regression der Demokratie verantwortlich ist, wird im zweiten Schritt (Kapitel 3) die Ideologie des Neolibera-lismus erörtert werden. Dabei wird sich herausstellen, dass der Neoliberalismus in seinen Anfangsjahren in Deutschland durchaus aufgeschlossen gegenüber Sozialstaat sowie sozia-len Rechten war und erst im Laufe der Zeit das Dogma des »Markt über Alles« entwickelte.
Im Verlauf dieses Kapitels wird sich auflerdem offenbaren, wie viel multinationale Unterneh-men und wie wenig Burger von der Maxime des »Markt Ober Alles« profitierten und wie letzt-lich der Sozialstaat als Feind des Neoliberalismus und der Marktwirtschaft auserkoren wur-de. Im dritten und letzten Schritt (Kapitel 4) wird der Einfluss des Neoliberalismus auf die hie-sige Politik erörtert werden. Dabei wird verdeutlicht werden, dass der Neoliberalismus die Politik der rot-grünen Bundesregierung weit reichend prägte, selbst wenn Kanzler Schröder stets behauptete, dass seine Politik ganz und gar nicht neoliberal sei. Ferner werden im Ver-lauf dieses Kapitels die Funktion von sozialen Rechten und die Kohärenz von Sozialstaat, sozialen Rechten und Demokratie erörtert werden. Es wird dartliber hinaus nachgewiesen werden, dass der Neoliberalismus - der schliefllich als »angelsächsischer Neoliberalismus« gekennzeichnet werden wird - tatsächlich für den Umbau des Sozialstaats sowie den gravie-renden Abbau sozialer Rechte verantwortlich ist: dies wird abschlieflend den Neoliberalis-mus als Ursache für die Regression des demokratischen Staates der BRD identifizieren.
2 Die Entwicklung des Sozialstaats
» Wir werden Leistun gen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von den Einzelnen fordern müssen. « (Gerhard Schröder 2003)
In der Arbeit können nicht sämtliche Funktionsweisen, Institutionen oder Strukturen des bun-desrepublikanischen Sozialstaats erläutert werden, um sich dennoch der Bedeutung und Dimension des Sozialstaats anzunähern, werden zuerst exemplarisch dessen Aufgaben und Ziele dargestellt.2 Als wesentliche Aufgaben des Sozialstaats sind die Schaffung und Sicher-stellung annehmbarer Lebensbedingungen sowie die Gewährleistung sozialer Sicherheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für die Bürger der BRD zu nennen.3 Konkret hat der Sozialstaat in einer Notlage des Individuums für dessen Existenzminimum Sorge zu tragen, wenn der betroffene Bürger sich selbst nicht anders zu helfen weill (vgl. Pilz 2004, S. 17). Zusammen-fassend betrachtet, stellen die beschriebenen Aufgaben des Sozialstaats die Sicherung und Durchsetzung sozialer Rechte dar.4 Daraus abgeleitet ist meines Erachtens als oberstes Ziel des Sozialstaats die tatsächliche Verwirklichung und permanente Aufrechterhaltung sozialer Rechte anzuführen. Im späteren Verlauf der Arbeit erfolgt die detaillierte Untersuchung von sozialen Rechten sowie deren Antastung. Es ist angezeigt, zunächst die Begriffe und Funkti-onsweisen von Sozialpolitik und Sozialstaat zu unterscheiden: Sozialpolitik ist als das Instru-mentarium anzusehen, mit dessen Hilfe Ziele des Sozialstaats verwirklicht werden sollen, während der Sozialstaat selbst als ständiger Bezugsrahmen der Sozialpolitik betrachtet wer-den kann (vgl. Butterwegge 2005, S. 11). Dass - je nach politischer Mehrheit - Aufgaben und Ziele der Sozialpolitik und des Sozialstaats varüeren, zeigt der Blick in die Geschichte. Es ist ferner zu beachten, dass Sozialpolitik innerhalb des Kontexts des Sozialstaats zu agieren hat, der Kontext des Sozialstaats jedoch keine konstante statische Gröfle, sondern wieder-um durch Sozialpolitik veränderbar ist.5 In älterer und jungerer Vergangenheit wurden viel-fach Anderungen an Form und Inhalt des Sozialstaats vorgenommen. Daher wird im Folgen-den in einem kurzen historischen Abriss dargelegt, welche drastischen Umformungen am Sozialstaat vorgenommen wurden und wie sich dies auf die sozialen Rechte auswirkte. In den nächsten Kapiteln wird nach der Ursache für besagte Umformungen geforscht.
Die Entwicklung des bundesrepublikanischen Sozialstaats von seinen Ursprüngen bis heute lässt sich in drei Phasen einteilen.6 Die erste Phase kennzeichnete sich durch einen Auf- und Ausbau, durch eine Expansion des Sozialstaats von 1949 bis 1975. Im Jahre 1975 war der Siedepunkt der Expansion erreicht, unmittelbar anschlieflend in der zweiten Phase erfolgte ein schrittweiser Abbau des Sozialstaats bis in das Jahr 1998. In der dritten Phase schliefllich seit dem Jahre 1998 erfolgte eine einschneidende Zäsur des Sozialstaats: Der Sozialstaat wurde seither - in bisher nicht gekannter Weise - nicht mehr nur ab-, sondern gravierend umgebaut. Gegenwärtig schreitet der Umbau des Sozialstaats weiter voran -sie-he Gesundheitsreform zum Jahre 2009 - und es ist abzusehen, dass daraus ein weiterer An-stieg der Anzahl prekärer Lebensverhältnisse resultieren wird.7 Zunächst ist jedoch die Phase des Auf- und Ausbaus des Sozialstaats zu beschreiben.
2.1 Die Expansion
Die Bedingungen, um nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Wohlfahrts- bzw. Sozi-alstaat aufzubauen, waren denkbar schlecht: das Bruttosozialprodukt sank rapide in den Jahren 1945/46, ferner bestanden eine desolate Ernährungslage sowie enorme Wohnungs-not und es gab Millionen von Kriegsopfern und Flüchtlingen, die versorgt werden sollten und mussten. Allerdings konnten Länder und Gemeinden auf noch funktionierende, wenn auch materiell schlecht ausgestattete Sozialversicherungen zurückgreifen, die im Kern seit ihrer Initüerung im Wilhelminischen Kaiserreich von 1871 verschiedene Staatsformen wie die Wei-marer Republik und sogar das Dritte Reich überdauert hatten (vgl. Pilz 2004, S. 32 f.; Schmidt 2005, S. 73 f.). Die Westallüerten belieflen es bei einer gegliederten Sozialversiche- rung, während in der sowjetischen Besatzungszone eine Einheitssozialversicherung instal-liert wurde.8 In der Nachkriegszeit hatte die Frage nach einer geeigneten Wirtschaftsordnung bzw. -politik jedoch Vorrang. Dies spiegelte sich auch in Parteien und deren Programmen so-wie in Gewerkschaften und Verbänden wieder, die sich nach der Gleichschaltung in der NS-Zeit wieder zu entfalten begannen. Konturen der Wirtschafsordnung, die später als Wirt-schaftssystem manifestiert die Bezeichnung Soziale Marktwirtschaft erhielt, waren bereits vor der Gründung der BRD umrissen worden und fanden in der Praxis ihre Anwendung (vgl. Schäfers 1995, S. 25 f.). Dabei existierten in der Gesellschaft und in den Parteien durchaus konträre Ansichten darüber, wie das zukünftige Wirtschaftssystem zu gestalten sei. In der Mehrheit - aus heutiger Sicht schier unglaublich - befanden sich sowohl in der Gesellschaft als auch in der einheimischen Politik (sogar in der CDU) zunächst diejenigen, die sich für eine staatlich gelenkte Wirtschaft aussprachen. Die Westallüerten hingegen beabsichtigten ein nachfrageorientiertes Wirtschaftssystem a la Keynes zu etablieren (vgl. Ptak 1998, S. 52 f.). Letztlich konnten sich die Konstrukteure und Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft durchsetzen9 und dieses System mit einem knappen Wahlsieg der CDU/CSU bei der ersten Bundestagswahl 1949 bestätigen lassen.
Mit der Festsetzung des Absatzes »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokra-tischer und sozialer Bundesstaate (Art. 20 Abs. 1 GG), erhielt Sozialstaatlichkeit zum ersten Mal in der deutschen Geschichte Verfassungsrang - in diesem Zusammenhang wird auf die Unabänderlichkeit des Sozialstaatsprinzips hingewiesen (Art. 79 Abs. 3 GG).10 Als Anhänger sozialer Rechte ist es jedoch zu bedauern, dass diese - anders als in der Weimarer Verfas-sung - nicht im Grundgesetz verankert wurden. Die Väter und Mütter des bundesrepublikani-schen Grundgesetzes intendierten damit, zukünftig soziale Rechte stets aus dem politischen Diskurs heraus zu entwickeln (vgl. Ptak 1998, S. 50; Schäfers 1995, S. 32 f.). Nach der Gründung der BRD stand im politischen Tagesgeschäft zunächst die Rekonstruktion der So-zialversicherung nach deren finanziellen Verkümmerung während der NS-Zeit an. Das Nazi-Regime hatte nicht nur eine finanziell dürre Sozialversicherung hinterlassen, sondern auch deren Selbstverwaltung abgeschafft. Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer führte schliefllich die Selbstverwaltung der Sozialversicherung wieder ein. Allerdings wurde gegen den Arbeitnehmerwillen die paritätische Selbstverwaltung installiert, was bedeutete, dass in der Sozialversicherung Arbeitgeber und -nehmer gleichstark vertreten waren, eine Regelung, die bis heute gültig ist.11 Im Zuge des >Wirtschaftswunders<12 und auf Druck von Gewerk-schaften und Wohlfahrtsverbänden konnte der junge Sozialstaat stark expandieren, was eine deutliche Ausweitung der Zahl der Sozialversicherten zur Folge hatte. Trotz starkem Wirt-schaftswachstum13 und expandierendem Sozialstaat konnte Armut in der BRD dennoch nicht überwunden werden, im Gegenteil: gerade im Alter war die Gefahr grofl, arm zu werden. Um der Altersarmut entgegenzutreten, wurde 1957 nach jahrelangem zähen Ringen innerhalb der Union die Rentenreform verabschiedet, die wesentliche Neuerungen mit sich brachte. Zwei dieser Neuerungen seien hier genannt: zum einen wurden die Renten dynamisiert, d.h. die Höhe der Renten richtete sich fortan nach dem Verlauf der Bruttolöhne der sozialversi-cherungspflichtig abhängig Beschäftigten. Damit sollten auch Rentner am gröfler werdenden Wohlstand der Gesellschaft teilhaben. Zum anderen wurde das Umlageverfahren als Finan-zierung der zukünftigen Rente eingesetzt, was heute gemeinhin als Generationenvertrag be-zeichnet wird.14 Da viele Rentner von den Neuerungen profitierten, stiefl die Rentenreform in weiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung,15 gleichwohl reichte die neue Rente alleine oftmals jedoch nicht aus, um die Existenz im Alter zu sichern (vgl. Butterwegge 2005, S. 68 f.; Schmidt 2005, S. 77 ff.). Ferner wiesen Kritiker der Rentenreform daraufhin, dass die dy-namisierte Rente bei einer steigenden Zahl von Rentnern langfristig zu Finanzierungsproble-men des Sozialstaats führen werde. Kanzler Adenauer ging allerdings davon aus, dass die Wirtschaft weiterhin sehr stark wachsen und damit genug Geld in die Sozialversicherung ge-spült werden würde.16 Dies sollte sich langfristig als unzutreffend erweisen.17
Ein weiteres Gesetz, das zur Expansion des Sozialstaats beitrug, ist das Bundessozi-alhilfegesetz von 1961, mit dem die alte Regelung der Sozialfürsorge aus dem Jahre 1924 substituiert wurde. Sozialhilfe stellte fortan das unterste soziale Sicherungsnetz dar und soll- te gewährt werden, wenn Burger selbst nicht oder nicht ausreichend fur ihren Lebensunter-halt sorgen konnten und sonst keine anderen öffentlichen oder privaten Leistungen bezo-gen.18 Ferner sollte die Sozialhilfe die Führung eines menschenwürdigen Lebens sicherstel-len, was sich jedoch ziemlich diffizil gestaltete, weil die Leistungen der Sozialhilfe eng be-messen waren und gerade ausreichten, um die Existenz zu sichern. Darüber hinaus war es trotz Rechtsanspruch nicht selbstverständlich auch tatsächlich Sozialhilfe zu erhalten. Be-dürftigkeitsprüfungen und Angst vor Stigmatisierung sowie Sozialverwaltungen, die kaum Willens waren die neuen Regelungen umzusetzen, schreckten Burger davor ab, Sozialhilfe zu beantragen, auch wenn eigentlich Anspruch auf Sozialhilfe bestanden hätte. Als soziales Recht war das neue Sozialhilfegesetz dennoch unabdingbar, weil es den Bürgern die Mög-lichkeit verschaffte, Sozialhilfe vor Gericht einzuklagen (vgl. Schmidt 2005, S. 84 f.).
Die neue Sozialhilfe bestand aus zwei Zweigen: der » Hilfe zum Lebensunterhalt« und der » Hilfe in besonderen Lebenslagen«. Bei der Verabschiedung des Bundes-sozialhilfege-setzes erwartete die Bundesregierung erneut, wie zuvor bei der Verabschiedung der Renten-reform von 1957, steigendes Wachstum und kalkulierte, dass ein gröflerer Personenkreis in Notlagen auf die vorrangigen Leistungen der Sozialversicherung zuruckgreifen könne. Au-flerdem ging der Gesetzgeber davon aus, dass - falls ein Bezug von Sozialhilfe doch nötig sei - fortan uberwiegend » Hilfe in besonderen Lebenslagen« und weniger » Hilfe zum Le-bensunterhalt« gewährt werden wurde (vgl. Hauser 1996, S. 14 ff.). Aus heutiger Sicht ist zu resümieren, dass die damalige Bundesregierung mit ihren Prognosen gänzlich irrte.19
Die Zeit von Adenauer in Regierungsverantwortung ging zu Ende, ab 1966 regierte die erste grofle Koalition mit Kurt Georg Kiesinger als Kanzler. Von vielen Bürgern - vor al-lem Studenten - heftig kritisiert, konnte diese Regierung dennoch Gesetze zur Expansion des Sozialstaats beisteuern. Exemplarisch sei hier das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 genannt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Arbeitsmarktpolitik durch Passivität ausge-zeichnet, weil Arbeitslosen lediglich Arbeitslosengeld als Leistung der Arbeitslosenversicher-ung oder nach dem Ende des Bezugs des Arbeitslosengelds Arbeitslosenhilfe ausgezahlt wurde. Mit dem Arbeitsförderungsgesetz wurde diese passive Arbeitsmarktpolitik um die akti-ve Arbeitsmarktpolitik erweitert: Das System der Arbeitsvermittlung wurde optimiert und fort-an konnten Arbeitslose bei fehlender oder geringer Qualifikation umgeschult bzw. weiterqua-lifiziert werden (vgl. Schmidt 2005, S. 90). Es erfolgte also ein weiterer Ausbau sozialer Rechte.
Die grofle Koalition hielt nicht lange und wurde 1969 von der sozial-liberalen Koalition mit Willy Brandt als Kanzler abgelöst. Die Rezession war überwunden, erneut rechnete die Bundesregierung mit einem zukünftigen starken Wirtschaftswachstum, als die Rentenreform von 1972 verabschiedet wurde: Eine flexible Altersgrenze beim Renteneintritt wurde sowohl auf Drängen der SPD als auch der Gewerkschaften installiert, damit ältere Arbeitnehmer vor-zeitig in den Ruhestand gehen konnten. Auflerdem wurde der Personenkreis der Rentenver-sicherten vergröflert, indem der Gesetzgeber die Rentenversicherung für nicht abhängig Be-schäftigte, z.B. Selbständige, Freiberufler oder Menschen mit Behinderung, öffnete. Bemer-kenswert ist, dass die Rentenreform von 1972 ein Allparteienkind war - sie wurde sowohl von der sozial-liberalen Koalition als auch von der CDU/CSU Opposition gestützt. Allerdings bil-dete die Rentenreform von 1972 den Abschluss der Expansion des Sozialstaats sowie des Ausbaus sozialer Rechte. Wegen der Olkrise von 1973 stürzten Deutschland und eine Viel-zahl an Ländern 1974/75 in eine weltweite Rezession (vgl. Schmidt 2005, S. 93 ff.).20 Die Po-litik in Interdependenz mit dem Sozialstaat stand am Scheideweg: der Bedarf der Bürger nach Leistungen des Sozialstaats hatte sich stetig seit Gründung der BRD vergröflert. Ein ausgebauter Sozialstaat bedingte jedoch auch steigende Kosten, falls die Zahl der Beitrags-zahler sank und gleichzeitig mehr Bürger Leistungen des Sozialstaats beanspruchten - dies war zu Mitte der 1970er Jahre der Fall. Die Bundesregierung hätte in dieser Lage z.B. durch höhere Investitionen in aktive Arbeitsmarktpolitik darauf hinarbeiten können, mittelfristig die Zahl der Arbeitslosen zu senken, um wieder mehr Beitragszahler in die Sozialversicherung zu erhalten und dadurch die Kosten zu reduzieren.21 Die sozial-liberale Regierung entschied sich jedoch dazu, durch Einschnitte bei den Leistungen des Sozialstaats die Kosten zu ver-mindern. Sparpolitik bestimmte also die nächsten Jahre und das sollte der Sozialstaat deut-lich zu spüren bekommen.
Zusammenfassend ist zu der Phase der Expansion des Sozialstaats und zu der damit verbundenen Ausweitung sozialer Rechte Folgendes zu konstatieren: Wegen der im Grund-gesetz verankerten Sozialstaatlichkeit waren die Bundesregierungen seit der Gründung der BRD verpflichtet, die Maxime des Sozialstaats in praktische (Sozial-)Politik umzusetzen, also darauf hinzuarbeiten allen Bürgern - durch eine Vielzahl von sozialen Rechten - ein erträgli-ches Existenzminimum zu gewähren, das der Würde des Menschen entspricht. Mithilfe des ausgebauten Sozialstaats wuchs das Vertrauen der Bürger in den noch jungen demokrati-schen Staat der BRD - Sozialpolitik stärkte somit das demokratische System. Entscheiden- den Einfluss und Druck auf die Politik, im Sinne des Sozialstaats zu handeln, übten dabei Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände aus. Die Expansion des Sozialstaats erfolgte in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität, wobei die entsprechenden Bundesregierungen stets da-von ausgingen, dass die Wirtschaft robust weiter wachsen würde. Der permanente Ausbau des Sozialstaats sollte der jeweiligen Regierung aullerdem zu Wahlerfolgen verhelfen, denn eine immer gröller werdende Anzahl von Personen bezog Leistungen der Sicherungssyste-me des Sozialstaats, seien es Leistungen der Sozialversicherung, der Sozialhilfe oder Ver-sorgungsleistungen.22 Sozialleistungsbezieher stellten also auch eine potentielle Wählerklien-tel dar, auf deren Stimmen bis dato keine Regierung bereit war zu verzichten. Die weltweite Rezession der Jahre 1974/75 bedingte allerdings ein jähes Ende der bisherigen Politik und leitete die Phase des Abbaus des Sozialstaats ein.
2.2 Der Abbau
Mit der Rezession stieg die Zahl der Arbeitslosen zum ersten Mal seit Kriegsende wieder deutlich an und überschritt im Jahre 1975 erstmalig die Millionengrenze (vgl. Butterwegge 2005, S. 71). Ein wichtiger Schritt hin zum zukünftigen Sparkurs der Regierung bestand auch im Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt im Jahre 1974.23 Im folgenden Jahr wurden erste Gesetze erlassen, die die Sozialleistungen drosselten: für Umschulungs- und Weiterbildungsmallnahmen sowie für die Arbeitslosenhilfe wurden Gelder reduziert. Nach der Bundestagswahl von 1976 erfolgten weitere Sparmallnahmen, die zunächst die Renten-und die Krankenversicherung betrafen. Anschliellend kürzte der Gesetzgeber sowohl die Leistungen der Arbeitslosenversicherung als auch der Sozialhilfe und erhöhte die An-spruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld und -hilfe. Analog zu den vielfachen Reduzie-rungen der Sozialleistungen hob die Bundesregierung unter Schmidt die Beiträge der Ar-beitslosen-, der Kranken- sowie der Rentenversicherung an. Mallnahmen der aktiven Ar-beitsmarktpolitik - erst einige Jahre vorher eingeführt - wurden deutlich zurückgefahren, wo-mit eine widersprüchliche Situation entstand: Gerade zu dem Zeitpunkt, als Arbeitslose oder Geringqualifizierte Mallnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zwingend benötigt hätten, wurde ihnen just diese Möglichkeit vom Gesetzgeber vorenthalten.24 Derartige Schritte der Bundesregierung stellten eine deutliche Einschränkung sozialer Rechte dar. Bei diesem Ab-bau des Sozialstaats waren sich die grollen Parteien - wie zuvor bei der Rentenreform von 1972 - ebenfalls inhaltlich einig: die sozial-liberale Regierung wurde erneut von der oppositio-nellen CDU/CSU unterstützt. Allerdings liell die Politik des Sozialabbaus, verbunden mit kon- trären Positionen in der Wirtschaftspolitik, allmählich Differenzen innerhalb des Regierungs-bündnisses anwachsen. Zusätzlich hatte im Jahre 1982 schliefllich die Arbeitslosenquote mit 7,5 Prozent einen neuen Höchststand in der Geschichte der BRD erreicht;25 ferner bezogen erstmalig über zwei Millionen Bürger Leistungen der Sozialhilfe. Aus heutiger Sicht betrach-tet, mögen die Arbeitslosenquote und die Zahl der Sozialhilfeempfänger nicht dramatisch hoch erscheinen, damals war es für Regierung, Gesellschaft und Wirtschaft, die Vollbeschäf-tigung noch in Erinnerung hatten, schier eine Katastrophe. Wegen dieser unbefriedigenden Ergebnisse der Koalitionsarbeit dominierte sowohl in den jeweiligen Parteien selbst (bei Spit-ze und Basis) als auch bei deren Stammwählern grofle Unzufriedenheit - letztlich trug dies entscheidend zum Kanzler- und Regierungswechsel im Jahre 1982 bei (vgl. Schmidt 2005, S. 95 ff.).26
Ziel der neuen konservativ-liberalen Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl war es, die Sozialausgaben zu begrenzen, langfristig die Sozialpolitik neu zu ordnen sowie die Initiative und das Potential des Einzelnen zu fördern. Bei sozialpolitischen Maflnahmen wur-de die Sparpolitik der Vorgängerregierung fortgesetzt: es erfolgten Einschnitte bei Leistun-gen des BAföG und vor allem beim Arbeitslosengeld und der Arbeitslosenhilfe. Der Leitge-danke der Regierung bestand in der Konsolidierung des Bundeshaushalts, was vor allem durch die Beschränkung der Ausgaben für Soziales erreicht werden sollte. Das Beschäfti-gungsförderungsgesetz von 1985 bedingte einen groflen Einschnitt in die sozialen Rechte, weil befristete Arbeitsverhältnisse gesetzlich legitimiert und Regelungen des Kündigungs-schutzes gelockert wurden.27 Allerdings wurde ebenfalls dem konservativen Leitbild der CDU/CSU Rechnung getragen: ältere Arbeitnehmer durften im Falle der Arbeitslosigkeit län-ger Arbeitslosengeld beziehen und Familien erhielten Erziehungsgeld (vgl. Schmidt 2005, S. 99 ff.). Tendenziell änderte dies jedoch wenig am Abbau des Sozialstaats und der sozialen Rechte insgesamt. Darüber hinaus vollzog sich der finale Zusammenbruch der DDR für die BRD auflerordentlich frappant -28 die anschlieflende Wiedervereinigung belastete fortan die Bürger Gesamtdeutschlands enorm, weil die erheblichen Kosten der Wiedervereinigung hauptsächlich über höhere Steuern und eine Degression der Sozialleistungen getragen wur-den (vgl. Butterwegge 2005, S. 127; Pilz 2004, S. 43). Von der Politik der Haushaltskonsoli-dierung hatte sich die Bundesregierung, bedingt durch die Wiedervereinigung, somit vorerst verabschieden müssen und auch der Sozialabbau wurde zunächst unterbrochen, weil sich der Einheitskanzler als generöser Staatsmann zeigen wollte. 1995 wurde sogar - in Zusam-menarbeit von Koalition und Opposition - der fünfte Zweig der Sozialversicherung, die Pfle-geversicherung, eingeführt, was wiederum eine deutliche Ausweitung sozialer Rechte dar-stellte. Fortan konnte die Regierung - die Wiedervereinigung lag schliefllich einige Jahre zu-rück - jedoch wieder zur ihrer eigentlichen Maxime der Sparpolitik zurückkehren und be-schloss im Folgejahr 1996 ein neuerliches Sparpaket, das Bürger be- und Unternehmen ent-lastete. Die monetären Leistungen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden herabge-setzt und der gesetzliche Kündigungsschutz ein weiteres Mal gelockert (vgl. Schmidt 2005, S. 103 ff.). Inzwischen litt die Bundesregierung mit Kohl als Kanzler jedoch unter Abnut-zungserscheinungen - die Bevölkerung war mit seiner Arbeit in zunehmender Weise unzu-frieden und verlangte ein neues Gesicht an der Regierungsspitze. Infolgedessen verloren Kohl und die Union die Bundestagswahl 1998 deutlich und mussten das Feld der SPD mit Gerhard Schröder als zukünftigem Kanzler überlassen. Was für die deutsche Sozialpolitik und den Sozialstaat zunächst als Segen erschien, sollte sich schnell als eine drastische Zä-sur in der Entwicklung des deutschen Sozialstaats herausstellen.
Wie haben sich 16 Jahre konservativ-liberaler Regierung schliefllich auf den Sozial-staat ausgewirkt? Wieso wurde eine derartige Sparpolitik zu Lasten des Sozialstaats und der Bürger im Sinne der Unternehmen betrieben? Kohl war von Anfang an dafür eingetreten, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und im Arbeitsleben mehr Markt zuzulassen und den Staat langsam zurückzufahren.29 Auflerdem erstrebte der Kanzler keinen Abbau des Sozial-staats, sondern nach eigenen Darstellungen einen Umbau, um zukünftigen Herausforderun-gen, wie z.B. der Globalisierung, gewachsen zu sein. Dabei sollte der Sozialstaat in einem Gleichgewicht zwischen Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Sicherheit fortbestehen (vgl. Schmidt 2005, S. 103 f.). Die Sparpolitik wurde als sachlich begründet dargestellt: eine stei-gende Anzahl von Arbeitslosen bewirkte angeblich Finanzierungsprobleme des Sozialstaats, weil damit weniger Beitragszahler in die Sozialversicherung einzahlten und gleichzeitig mehr Arbeitslose Leistungen beanspruchten. Um die Handlungsfähigkeit des Sozialstaats weiter-hin zu gewährleisten, sah die konservativ-liberale Regierung keinen anderen Weg als zu sparen.30 Langfristig sollte zum einen die grofle Zahl der Arbeitslosen abgebaut werden, um wieder mehr Beitragszahler in die Sozialversicherung sowie weniger Leistungsbezieher aus der Sozialversicherung zu erhalten. Zum anderen intendierte die Bundesregierung eine De-ckelung der bis dahin stets gestiegenen Sozialausgaben.31 In der Rückschau hat die Regie- rung unter Kohl einerseits ihre Ziele zumindest partiell erreicht: es wurde tatsächlich in vielen Angelegenheiten des Lebens ein Mehr an Markt verwirklicht, wovon besonders die Unter-nehmen profitierten. Andererseits wurde ein systematischer Umbau des Sozialstaats nicht erzielt, es blieb bei einem weit reichenden, in der Form jedoch schlichten Abbau des Sozial-staats,32 wahrscheinlich weil die konservativ-liberale Regierung ihr Hauptaugenmerk auf die Wiedervereinigung gerichtet hatte und dabei zu wenig Ressourcen für den Umbau des Sozi-alstaats übrig blieben. Auflerdem hatten CDU/CSU und FDP im Jahre 1991 ihre Mehrheit im Bundesrat verloren,33 was sie bei wichtigen Gesetzesvorhaben zu Zugeständnissen an die immer noch sozialstaatsfreundlichere SPD zwang. Insgesamt wurden soziale Rechte in der Ara Kohl dennoch signifikant beschnitten: Der Staat - im Schulterschluss mit der Wirtschaft - verlangte von den Bürgern einerseits im Arbeitsleben zunehmend mehr und belastete sie andererseits stärker durch höhere Steuern und kürzungen bei den Sozialleistungen.34 Zu-sammenfassend lässt sich sagen, dass die alte Regierung unter Kohl der neuen unter Schrö-der einen fruchtbaren Nährboden bereitete, auf dem der anschlieflende rigorose Umbau des Sozialstaats in der dritten Phase ideal gedeihen konnte.
2.3 Der drastische Umbau
Von der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder erwarteten viele Bürger eine Trend-wende weg vom Sozialabbau hin zu einer Politik des Ausbaus des Sozialstaats. Schliefllich hatte die SPD zusammen mit den Gewerkschaften jahrzehntelang für den Wohlfahrts- bzw. Sozialstaat sowie für die sozialen Rechte der Bürger gekämpft und war im Wahlkampf von 1998 mit der Aussage angetreten, die schlimmsten sozialpolitischen Fehler der konservativ-liberalen Regierung zu korrigieren. Zunächst schien die rot-grüne Regierung ihre Wahlver-sprechen einzuhalten. Die 1996 unter Kohl beschlossenen Gesetze zur Lockerung des Kün-digungsschutzes sowie der Senkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurden rasch zu-rückgenommen (vgl. Schmidt 2005, S. 115). Wer meinte, dass jetzt weitere Initiativen zur Stärkung des Sozialstaats folgen würden, sah sich getäuscht. Die groflen Leistungskürzun-gen in der Sozial- und Arbeitslosenhilfe aus der Kohl-Ara liefl die neue Regierung bestehen und versuchte darüber hinaus mittels Senkung der Lohnnebenkosten die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, um den Sozialstaat zukünftig wieder besser finanzieren zu können. Die praktisch gleiche Strategie - Senkung der Lohnnebenkosten - hatte allerdings auch schon der Vorgän- gerregierung keinen Erfolg beschert. Ferner kopierte die Regierung unter Schröder eine wei-tere Maflnahme der Vorgängerin: das Bündnis für Arbeit. Hatte es unter Kohl den Namen »Bündnis für Arbeit und zur Standortsicherung« getragen, so hiefl es bei Schröder »Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit«. Die Kanzler Kohl und Schröder intendier-ten mit dem jeweiligen Bündnis für Arbeit, Vertreter der Arbeitgeberverbände und Gewerk-schaften unter Beteiligung der Regierung an einen runden Tisch zu bekommen, um gemein-sam nach Lösungen bei dem Problem der Massenarbeitslosigkeit zu suchen. Was zunächst vernünftig klingt, stellt sich bei näherer Betrachtung als nicht tragfähig heraus, weil beide Male - in Kooperation der Arbeitgeberverbände und der Regierung - der Versuch unternom-men wurde, den Gewerkschaften schmerzhafte Konzessionen abzuringen, ohne dass die Ar-beitgeberverbände ihrerseits zu Zugeständnissen an die Gewerkschaften bereit gewesen wären. Konsequenterweise musste beide Male das jeweilige Bündnis für Arbeit scheitern. In der Folge offenbarte sich, dass die rot-grüne Regierung ihr Heil wohl darin suchte, neolibera-le Konzepte,35 die in der Okonomie, in Wirtschaftsunternehmen sowie der Opposition bereits starken Anklang gefunden hatten, zu adaptieren und anschlieflend selbst umzusetzen (vgl. Butterwegge 2005, S. 160 f.). Auf reformierende - den Sozialstaat ausbauende - Gesetzesi-nitiativen wartete der Bürger in der ersten Legislaturperiode vergebens. Zu erwähnen ist zu-mindest noch die Rentenreform von 2000/01, die wesentliche Neuerungen mit sich brachte. Die Regierung hatte sich im Vorfeld der Reform zum Ziel gesetzt, die Rentenbeiträge zu sta-bilisieren. Bei einer steigenden Zahl von Rentnern und analog weniger Beitragszahlern be-deutete dies jedoch eine Senkung der Leistungen im Alter. Um die daraus resultierenden Konsequenzen etwas abzufedern, wurde zum einen eine Grundrente eingeführt: Bürger ab 65 Jahren, deren Rentenversicherungsleistungen unter dem Existenzminimum lagen, sowie über 18-Jährige, die dauerhaft nicht in der Lage sein würden einer Erwerbsarbeit nachzuge-hen, hatten fortan Anspruch auf eine Grundrente, die um 15 Prozent höher lag als die Leis-tung » Hilfe zum Lebensunterhalt« der Sozialhilfe. Zum anderen wurde mit der Einführung der so genannten Riester-Rente36 die gesetzliche Rentenversicherung durch eine staatlich geför-derte private Rentenversicherung ergänzt (vgl. Butterwegge 2005, S. 176; Schmidt 2005, S. 116 f.).
Inwieweit sich die Rentenreform von 2000/01 auf die sozialen Rechte auswirkte, ist schwer zu beurteilen: Einerseits war und ist die Einführung einer Mindestrente zu begrüflen und stellt eine Ausweitung sozialer Rechte dar, andererseits wurde der Bürger durch die Ein-führung einer privaten Zusatzrente verunsichert, weil die Politik damit implizierte, dass die gesetzliche Rente zukünftig nicht mehr ausreichen wurde, um im Alter den bisherigen Le-bensstandard zu erhalten und nur durch Abschluss einer Riester-Rente ein Lebensabend ohne materielle Sorgen möglich sei. Zum Ende der ersten rot-grünen Legislaturperiode hatte die Regierung - was den Sozialstaat anging - neben den bereits genannten Gesetzen und der Rentenreform, keine weiteren wesentlichen Initiativen mehr ergriffen.37 Schröder stand im Jahre der Bundestagswahl 2002 unter Erfolgsdruck, weil er weder die Zahl der Arbeitslosen entscheidend hatte senken können,38 noch sozialpolitisch Bahnbrechendes vorzuweisen hat-te. Durch den Kabinettsbeschluss zum »aktivierenden Staat« im Dezember 1999 initüert, hat-te sich zwischenzeitlich innerhalb der Regierung anscheinend das Dogma verbreitet, dass Massenarbeitslosigkeit durch bessere Vermittlung und mehr Eigeninitiative seitens der Ar-beitssuchenden zu überwinden sei. Dem Dogma entsprechend wurde zu Beginn des Wahl-jahres 2002 eine Kommission einberufen,39 die sich schwerwiegend mit dem angeblichen Problem der schlechten Arbeitsvermittlung und der mangelnden Eigeninitiative von Arbeitslo-sen auseinandersetzte. Kurz vor der Bundestagswahl präsentierte die » Hartz-Kommission« ihren Abschlussbericht,40 der recht einseitig die Arbeitnehmer in die Pflicht nahm sich zukünf-tig noch mehr bei der Arbeitssuche anzustrengen, gleichzeitig jedoch versprach, bei Umset-zung der vorgeschlagenen Maflnahmen innerhalb von drei Jahren die Zahl der Arbeitslosen um zwei Millionen zu verringern (vgl. Butterwegge 2005, S. 186 f.).
Die rot-grüne Koalition wurde bei der Bundestagswahl 2002 äuflerst knapp bestätigt und leitete anschlieflend die Zäsur des Sozialstaats ein. Basierend auf den Vorschlägen der » Hartz-Kommission« wurden die » Hartz-Gesetze«41 verabschiedet. Alle » Hartz-Gesetze« sorgten fur Kontroversen in Gesellschaft, Politik und (Sozial-)Wissenschaft, doch es war schliefllich Hartz IV, das die Gewerkschaften und betroffenen Burger zu Massenprotesten42 veranlasste und den Umbau des Sozialstaats vom welfare state zum »workfare state« voll-zog.43 Alle » Hartz-Gesetze« implizierten, dass Arbeitslose zu einem groflen Teil selbst für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich seien und durch mehr Eigenaktivität der Individuen, in Kombination mit verstärkten Zumutbarkeitskriterien bei der Arbeitsaufnahme, das Problem der Massenarbeitslosigkeit langfristig zu lösen sei. Offensichtlich gingen die meisten Politiker von der falschen These aus, es liege ein so genanntes Mismatch-Problem 44 vor oder aber sie wollten es der Gesellschaft und den Betroffenen glauben machen. für die sozialen Rechte stellte der Umbau des Sozialstaats im Zuge der » Hartz-Gesetze« einen drastischen Ein-bzw. Rückschritt dar, weil unter anderem die materielle Versorgung bei Arbeitslosigkeit ver-ringert wurde: das neue Arbeitslosengeld I (Alg I) als Leistung der Arbeitslosenversicherung wurde für unter 55-jährige Bürger nur noch zwölf, statt bisher maximal 32 Monate ausge-zahlt. Bürger, die älter als 55 Jahre alt waren, erhielten fortan höchstens 18 Monate lang Alg
I. Materiell nahezu dramatisch wurde es für Bürger, die auf Sozialleistungen angewiesen wa-ren, beim Ubergang vom Alg-I- in den Alg-ü-Bezug: Vor allem für ältere Arbeitnehmer, die beispielsweise jahrelang gut verdient hatten und mit 50 Jahren entlassen wurden, stellten sich enorme Probleme dar. Schafften es über 50- und unter 55-jährige bedürftige Arbeitlose nämlich nicht innerhalb eines Jahres einen neuen Arbeitsplatz zu finden, erhielten sie nur noch Alg ü in Höhe von 345 Euro. Zu der Einführung des Alg ü wurde gar zwischen Ost- und Westdeutschland unterschieden. Bürger, die im Westen lebten, erhielten 345 Euro; Bürger, die im Osten lebten nur 331 Euro.45
Soziale Rechte beinhalten allerdings nicht nur Materielles, sondern sollen vor allem zu einem würdevollen Leben beitragen. Die Stigmatisierung von Langzeitarbeitslosen, die sich angeblich ungenügend um eine Stelle bemühen, zu wenig eigenverantwortlich handeln sowie einer »Aktivierung« durch den Staat benötigen, was impliziert, dass Langzeitarbeitslo-se bisher passiv gelebt hätten, ist meines Erachtens jedoch mit der Würde des Menschen nicht zu vereinbaren. Der Umbau des Sozialstaats blieb daher für die rot-grüne Regierung nicht folgenlos: ihr Zuspruch in der Bevölkerung, der ohnehin nie hoch gewesen war, sank im 2005, S. 228). Gerhard Schröder stiefl sich daran, dass sich die Hartz-Gegner den Namen »Montagsdemons-trationen«, in Anlehnung an die Protestbewegung in der DDR im Jahre 1989, zu eigen machten. für Schröder war dies dreist, weil damals um Freiheit und Demokratie und im Jahre 2004 lediglich um Materielles gekämpft worden sei (vgl. Schröder 2006, S. 417). Doch beinhalteten nicht auch die »Montagsdemonstrationen« von 2004 den Kampf um Freiheit und Demokratie? Was nützt dem Menschen denn Demokratie, wenn er nicht die materielle Freiheit hat, sich daran zu beteiligen?
Zuge der » Hartz-Gesetze« enorm. SPD und Bündnis 90/Die Grünen verloren zahlreiche Landtagswahlen, zuletzt auch in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005. Unmittelbar an-schlieflend zog ö die Konsequenz aus den Niederlagen und arbeitete auf Neuwahlen zum Bundestag46 für den Herbst 2005 hin (vgl. Butterwegge 2005, S. 193 ff., S. 230 f.; Pilz 2004, S. 146 f.). Die SPD musste sich schliefllich bei den Bundestagswahlen 2005 knapp der CDU/CSU geschlagen geben. Da es jedoch weder zu einer konservativ-liberalen noch zu einer rot-grünen Mehrheit reichte und andere Bündnisse in Form von Dreierkoalitionen aus-geschlossen wurden, bildete die Union mit der SPD als Juniorpartner die zweite grofle Koali-tion.
Seit Ende 2005 regiert die grofle Koalition unter Angela Merkel, die weiter auf dem Pfad ihrer Vorgängerregierung marschiert und Sozialpolitik im Stile der rot-grünen Bundesre-gierung fortführt.47 Dies verwundert freilich nicht, weil einerseits die SPD weiter sehr stark in der Regierung vertreten ist und andererseits schon seit längerem ein parteüibergreifender Konsens über einen schlanken (Sozial-)Staat besteht.48 Zwei sozialpolitische Maflnahmen der groflen Koalition sind zu nennen: das SGB ü, das in dieser Gestalt erst anderthalb Jahre bestanden hatte, wurde zum 1. August 2006 fortentwickelt. Als Grund für die Fortentwicklung oder die Reform der Reform wurde eine angebliche Kostenexplosion,49 verursacht durch Hartz IV, angegeben. Um der vermeintlichen Kostenexplosion entgegenzuwirken, wurde ein bekanntes Rezept aus den Schubladen gekramt: die Eindämmung des >Sozialleistungsmiss-brauchs<.50 Der Missbrauch von Sozialleistungen respektive der Alg-ü-Missbrauch sollte und soll fortan bundesweit durch Auflendienste bzw. »Sozialdetektive« (Wolf 2008, S. 604) der Agenturen für Arbeit oder Arbeitsgemeinschaften unterbunden werden. Einen anderen Be-standteil des »SGB-ü-Fortentwicklungsgesetzes« stellt die Installierung des Paragraphen 15a SGB ü dar. Diese Regelung verlangt, dass SGB-ü-Neuantragstellern, die vorher auch keine Leistungen nach dem SGB üI bezogen haben, ein sofortiges Angebot zur Wiederein-gliederung in Arbeit zu unterbreiten ist.
[...]
1 Im Folgenden werde ich aus Einfachheitsgrunden die männliche Form bei der Beschreibung von Personen-gruppen verwenden, schliefle allerdings auch Frauen mit in diese Gruppen und Bezeichnungen ein.
2 In Anlehnung an Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes wird vom Sozialstaat gesprochen. Dies ist sowohl juris-tisch als auch politisch der gängige Begriff in Deutschland. Unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten sowie auch international ist eher vom welfare state bzw. zu Deutsch Wohlfahrtsstaat die Rede. Weil der Be-griff Wohlfahrtsstaat von Kritikern in Deutschland allerdings abwertend unter anderem als bürokratischer Ver-sorgungsstaat bezeichnet wird, ist in dieser Arbeit der Begriff Sozialstaat vorzuziehen (vgl. Kaufmann 1997, S. 21; Schmidt 2005, S. 11). Da in der Sozialwissenschaft unterschiedliche Auffassungen über den Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat bestehen und eine konkrete Auseinandersetzung mit den divergierenden Ansichten zu weit vom Kern der Arbeit wegführen würde, nähert sich der Autor lediglich der Dimension des Sozialstaats an. Be-reits Thomas H. Marshall hat sich mit der Frage befasst, wann und unter welchen Bedingungen ein Staat oder eine Gesellschaft als Wohlfahrtsstaat zu bezeichnen ist. Er stellte fest, dass es nicht sinnvoll sei danach zu fragen, weil zu viele unterschiedliche Wege existieren würden, Wohlfahrt zu erreichen (vgl. Marshall 1992, S. 147 f.). Ferner besteht nach Christoph Butterwegge bislang keine generelle Ubereinkunft darüber, wie der Sozialstaat zu definieren ist (vgl. Butterwegge 2005, S. 16).
3 Als Bürger der BRD sind in dieser Arbeit sowohl deutsche Staatsbürger mit Wohnsitz in Deutschland gemeint als auch Migranten, die sich legal in Deutschland aufhalten und in Deutschland leben. Im Rahmen dieser Ar-beit kann die Lebenssituation anderer Personengruppen, die sich ebenfalls in Deutschland aufhalten oder le-ben - z.B. Asylanten oder Flüchtlinge - nicht thematisiert werden. Sozialleistungen, deren rechtliche Grundla-gen im Sozialgesetzbuch (SGB) geregelt sind, können von allen Bürgern, die ihren Wohnsitz oder gewöhnli-chen Aufenthalt in der BRD haben, in Anspruch genommen werden (vgl. § 30 Abs. 1 SGB I). Ausnahmen sind ebenfalls im SGB festgesetzt.
4 Soziale Rechte und deren Funktionen sind im SGB aufgeführt und beinhalten unter anderem das Recht auf Bildungs- und Arbeitsförderung, das Recht auf Zugang zu der Sozialversicherung sowie das Recht auf Sozial-hilfe (vgl. § 1 ff. SGB I).
5 Das Sozialstaatsprinzip der BRD ist absichtlich ziemlich allgemein formuliert worden, um der Politik
genu-gend Freiräume bei der Gestaltung des Sozialstaats zu Oberlassen. Die Gestaltungsfreiheit endet allerdings, wenn das Wesen des Sozialstaats tangiert wird. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei die Entscheidungs-kompetenz (vgl. Pilz 2004, S. 47; Schäfers 1995, S. 58 f.).
6 Der Wohlfahrtsstaat der DDR bleibt unberucksichtigt, vor allem weil zu der Wiedervereinigung von DDR und BRD die beiden Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaaten nicht zusammengefuhrt oder in irgendeiner Art und Weise kombiniert wurden, sondern die neuen Bundesländer die Konstruktion des westdeutschen Sozialstaats schlicht Obernahmen (zum Wohlfahrtsstaat der DDR, vgl. Schmidt 2005, S. 125 ff.).
7 Im Zuge der Einfuhrung des Gesundheitsfonds zum Jahre 2009 steigen die Krankenversicherungbeiträge al-ler gesetzlich Krankenversicherten auf den einheitlichen Satz von 15,5 Prozent an. Dies belastet vor allem Ar-beitnehmer, weil sie zukunftig ö Beiträge in die Krankenversicherung zu entrichten haben als Arbeitge-ber. Bisher war die Finanzierung der Krankenversicherung komplett paritätisch organisiert (vgl. Barmer 2008).
8 Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts existierten drei Zweige der Sozialversicherung: die Krankenversi-cherung, die Unfallversicherung und die Altersversicherung (später Rentenversicherung). 1927 wurde der vierte Zweig, die Arbeitslosenversicherung eingeführt. Die Westallüerten liellen die Form der Sozialversiche-rung unangetastet, weil die Sozialversicherung ihre Ursprünge also nicht im Dritten Reich hatte. Die Umge-staltung der gegliederten Sozialversicherung zu einer Einheitssozialversicherung in der Sowjetzone war dage-gen einer der Pfeiler auf den Weg in die DDR (vgl. Pilz 2004, S. 32; Schmidt 2005, S. 74).
9 Als Konstrukteure der Sozialen Marktwirtschaft gelten weithin Alfred Müller-Armack und Ludwig Erhard (vgl. Butterwegge 2005, S. 65 f.; Schäfers 1995, S. 26). Die ursprüngliche Entwicklung der Sozialen Marktwirt-schaft erfolgte durch Apologeten des so genannten Ordoliberalismus (vgl. Ptak 1998, S. 51).
10 Allerdings wird die Sozialstaatlichkeit der BRD bisweilen eher als Zielbestimmung und nicht als Staatsgebot betrachtet (vgl. Fisahn 2007, S. 873). Darüber hinaus bemängeln Wolf-Dieter Narr und Roland Roth, dass die »Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes [...] alle Wünsche offen lässt.g (Narr/Roth 1996/1997) Was die deutsche Verfassung angeht, ist zu betonen, dass die BRD offiziell gar nicht über eine Verfassung, sondern ledig-lich über das Grundgesetz verfügt, weil das deutsche Volk bislang noch immer nicht über eine Verfassung in freier Entscheidung beschlossen hat (vgl. Art. 146 GG). Ralf Ptak sieht gar einen Gegensatz zwischen Sozia-ler Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung auf der einen und Sozialstaat mit Verankerung im Grundgesetz auf der anderen Seite, weil sich entgegen den Vorgaben der Sozialen Marktwirtschaft der Sozialstaat bzw. kon-krete Sozialpolitik nicht stringent am Markt orientiert hätten. Nach Ptak ist dies der Grund heutiger Kontrover-sen um den Sozialstaat (vgl. Ptak 1998, S. 53 f.).
11 Die SPD und die Gewerkschaften plädierten für eine prozentual höhere Arbeitnehmervertretung in der Selbst-verwaltung der Sozialversicherung (vgl. Schmidt 2005, S. 77).
12 Das >Wirtschaftswunder< wurde Ludwig Erhard zugeschrieben, der seinerseits diese Bezeichnung jedoch ab-lehnte (vgl. Gemper 2007, S. 10).
13 Im Jahre 1950 erzielte die BRD ein Wirtschaftswachstum von 10,5 Prozent und im Jahre 1955 sogar ein Wachstum von 12,1 Prozent (vgl. Schmidt 2005, S.75).
14 Im Umlageverfahren werden Rentner durch in Erwerbsarbeit stehende sozialversicherungspflichtige Bei-tragszahler sowie deren Arbeitgeber finanziert, im Gegensatz zu dem bis dahin gültigen Kapitaldeckungs-prinzip der Rente, bei dem eigenes angespartes Vermögen im Alter eingesetzt wird (vgl. Schmidt 2005, S. 80).
15 Bei der Bundestagswahl im September 1957 erreichte die CDU/CSU 50,2 Prozent der Stimmen, ein bis dahin und seither unerreichtes Ergebnis, das auch auf die Rentenreform von 1957 zurückzuführen ist (vgl. Butter-wegge 2005, S. 69; Schäfers 1995, S. 73).
16 Vgl. Pilz 2004, S. 35 f.
17 Innerhalb der nächsten 20 Jahre folgten zwei Rezessionen, auflerdem stieg die Zahl der Arbeitslosen Mitte der 1970er Jahre auf eine Million an (vgl. Butterwegge 2005, S. 69 ff.). Mehr Rentner und mehr Arbeitslose belasteten die Sozialversicherung stärker, als sich das Adenauer Ende der 1950er Jahre vorstellen konnte.
18 Bis heute gilt das Prinzip der Subsidiarität der Sozialhilfe, d.h. Sozialhilfe hat Nachrang gegenüber Eigenleis-tung sowie anderen Leistungen, wie z.B. den Leistungen der Sozialversicherung oder seit 2005 dem Arbeits-losengeld ü (Alg ü).
19 In den Folgejahren von 1961 kam es 1966/67 zu der ersten Rezession in der Geschichte der BRD (vgl. Schmidt 2005, S. 88). Seit Mitte der 1970er Jahre war der Anteil der Sozialhilfeempfänger, der » Hilfe zum Le-bensunterhalt« bezog, gröfler als der Anteil, der » Hilfe in besonderen Lebenslagen« empfing (vgl. Hauser 1996, S. 17). Bekanntermaflen ist die Sozialhilfe seit dem Jahre 2005 neu geregelt.
20 Butterwegge legt dar, dass die Olkrise von 1973 durch den vierten Nahostkrieg bedingt wurde (vgl. Butter-wegge 2005, S. 72). Die These von der Olkrise als Auslöser der weltweiten Rezession wird von Andre Gunder Frank relativiert. Er legt dar, dass die Rezession in den USA bereits einige Monate vor der Olkrise einsetzte - die Olkrise wiederum sei nur vorgeschoben worden, um eine für die Bürger nachteilige Wirtschafts- und Sozi-alpolitik zu rechtfertigen (vgl. Frank 2004, S. 372).
21 Weitere wichtige Faktoren müssen an dieser Stelle zunächst aufler Acht gelassen werden: die Wirtschafts-und Finanzpolitik. Sie beeinflussen sowohl maflgeblich die gesamte Entwicklung einer Volkswirtschaft als auch mittelbar den Sozialstaat. Es ist ferner angezeigt zu betonen, dass Volkswirtschaft, Sozialstaat, Wirt-schaftspolitik, Sozialpolitik und Finanzpolitik nicht voneinander getrennt zu betrachten sind, sondern sich stets gegenseitig determinieren.
22 Leistungen der Versorgung beinhalten z.B. die Beamtenversorgung oder die Kriegsopferversorgung (vgl. Fre-vel/Dietz 2004, S. 75 f.).
23 Kanzler Brandt war zurückgetreten. Weithin gilt die so genannte Guillaume-Affäre als Rücktrittsgrund. Dies kann und soll an dieser Stelle nicht weiter behandelt werden.
24 Die aktive Arbeitsmarktpolitik verlief also prozyklisch, obwohl sie antizyklisch hätte verlaufen müssen (vgl. Schmidt 2005, S. 97).
25 Vgl. Heinemann 2007, S. 4
26 Kanzler Schmidt wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum des Bundestags im Jahre 1982 abgelöst. Sämtliche Einzelheiten und Hintergründe, die zum Regierungswechsel führten, können an dieser Stelle nicht thematisiert werden.
27 In der betrieblichen Praxis waren seit längerem prinzipiell illegale Absprachen zwischen Arbeitgeber und -neh-mer getroffen worden, die den Kündigungsschutz umgingen. Das Bundesarbeitsgericht monierte diese Praxis permanent, weil es keine gesetzliche Grundlage dafür gab. Das Beschäftigungsförderungsgesetz ermöglichte schliefllich auch rechtskonform das befristete Arbeitsverhältnis. Eine Lockerung des Kündigungsschutzes er-folgte dadurch, dass fortan geringfügig Beschäftigte nicht zur Betriebsgröfle mitgezählt werden mussten und deshalb vor allem Kleinstbetriebe nicht mehr dem Kündigungsschutzgesetz unterlagen. Damit wurden gering fügige, zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse für Arbeitgeber immer atraktiver (vgl. Mückenberger 1986, S. 37; Pilz 2004, S. 41).
28 So ist es jedenfalls in Geschichtsbüchern nachzulesen.
29 Die Zahl der Privatisierungen in der BRD nahm seit den 1980er Jahren enorm zu (vgl. Engartner 2008, S. 107 ff.).
30 Andere Optionen waren dennoch denkbar: der Binnenmarkt und damit die Nachfrage nach Arbeitskräften hät-te gestärkt werden können (vgl. Hickel 1998, S. 118). Ferner hätte die Zahl der Versicherten schon damals er-weitert werden können, z.B. durch den Einbezug von Selbständigen oder Freiberuflern, womit eine breitere Fi-nanzierungsbasis der Sozialversicherung geschaffen worden wäre.
31 Beides wurde nicht erreicht, im Gegenteil: Die Zahl der Arbeitslosen stieg bis zum Jahre 1998 auf 4,3 Millio-nen an und bedingte wachsende Sozialausgaben (vgl. Heinemann 2007, S. 4; Schmidt 2005, S. 111 f.).
32 Manfred G. Schmidt ist dennoch insofern zuzustimmen, als dass die Sozialpolitik der Kohl-Regierung sowohl von Kontinuität als auch von Diskontinuität geprägt war, der Sozialstaat also nicht permanent abgebaut, son-dern auch vereinzelt ausgebaut wurde (vgl. Schmidt 2005, S. 108 f.) Gleichwohl wiegt im Vergleich der Abbau des Sozialstaats - auch in Anbetracht der sozialen Rechte - schwerer.
33 Vgl. Butterwegge 2005, S. 133
34 Im Zuge der Wiedervereinigung wurden unter anderem die Mineral-, die Versicherungs- und die Mehrwerts-steuer erhöht sowie gleichzeitig die Leistungen der Arbeitslosen-, der Kranken- und Rentenversicherung ge-schmälert. Dies traf vor allem Personen, die sozial ohnehin schon benachteiligt waren (vgl. Butterwegge 2005, S. 127).
35 Innerhalb der deutschen sowie der europäischen Sozialdemokratie hat die Ideologie des Neoliberalismus seit den 1990er Jahren verstärkt Zuspruch erhalten (vgl. Butterwegge 2005, S. 235 ff.). Deutliche und weniger deutliche Indizien für das neue neoliberale Leitbild der SPD offenbarten sich in der Schrift »Der Weg nach vor-ne für Europas Sozialdemokraten« von Gerhard Schröder und Tony Blair (vgl. Schröder/Blair 1999) und in dem Kabinettsbeschluss zum »aktivierenden Staat« vom 1. Dezember 1999 mit der Uberschrift »Moderner Staat - Moderne Verwaltung - Leitbild und Programm der Bundesregierung -« (vgl. Bundesregierung 1999).
36 Die Riester-Rente ist eine kapitalgedeckte private Rentenversicherung, die ausschliefllich durch Eigenkapital des Bürgers sowie staatliche Zuschüsse finanziert wird (vgl. Schmidt 2005, S. 116 f.).
37 Als Ausnahmen seien genannt: Einerseits das negative Beispiel des zum Jahre 2002 eingeführten »Job-AQTIV-Gesetzes«, das den Druck seitens der Arbeitsamter auf Arbeitslose enorm erhohte, unverzüglich eine Stelle anzunehmen - anderenfalls wurde Arbeitslosen mit Leistungskijrzungen gedroht (vgl. Butterwegge 2005, S. 166); andererseits das positive Beispiel der Erhohung des Kindergelds zum Jahre 2001 auf 154 Euro monatlich (vgl. Schmidt 2005, S. 119).
38 Im Jahre 2002 betrug die Zahl der Arbeitslosen durchschnittlich 4,1 Millionen (vgl. Heinemann 2007, S. 4).
39 Die Kommission trug den Namen »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« und wurde von Peter Hartz geleitet (vgl. Butterwegge 2005, S. 186). In der Offentlichkeit wurde im Zusammenhang mit der Kommission deswegen fast ausschliefllich von der » Hartz-Kommission« gesprochen.
40 Der sehr lang geratene Bericht (343 Seiten, vgl. Hartz et al. 2002) hat in der Sozialwissenschaft fast durchweg negative Kritik geerntet.
41 Hartz I trat zum Januar 2003 in Kraft und legitimierte die Einrichtung von Personal-Service-Agenturen (PSA), die fortan Arbeitslose in Zeitarbeitsfirmen entleihen sollten. Auflerdem wurden die Zumutbarkeitskriterien für die Aufnahme einer Arbeit verscharft. Hartz ü trat ebenfalls zum Jahre 2003 in Kraft und sollte Existenzgrün-dungen durch Schaffung der »Ich-AG« sowie der »Familien-AG« erleichtern. Auflerdem wurde ein Niedrig-lohnsektor mit der Installierung der »Mini-Jobs« und »Midi-Jobs« etabliert. Hartz ü sollte somit auch zum Ab-bau der Schwarzarbeit beitragen. Hartz üI trat zum Jahre 2004 in Kraft und beinhaltete eine Reform der Bun-desanstalt fur Arbeit, die in die kundenorientierte Bundesagentur fur Arbeit umgebaut wurde. Hartz IV wurde zum Jahre 2005 gesetzliche Realitat und schaffte die Arbeitslosenhilfe komplett ab. Weithin wird von der Zu-sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gesprochen, allerdings ist das nicht ganz korrekt, weil die Sozialhilfe weiterhin separat existiert und lediglich ihre Zugangsvoraussetzungen geandert wurden (vgl. Heinemann 2007, S. 12; Schmidt 2005, S. 119 f.).
42 Christoph Butterwegge spricht von 500.000 Menschen, die nach Bekanntwerden und vor Inkrafttreten von Hartz IV am 3. April 2004 in Berlin, Koln und Stuttgart gegen Sozialabbau demonstrierten, sowie von zahlrei-chen Teilnehmern an den im Sommer 2004 regelmaflig stattfindenden Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Letztlich konnte der Druck der Demonstranten am Kern von Hartz IV nichts andern (vgl. Butterwegge
43 Michael Wolf bezeichnet die Formulierung »aktivierender Staat« als Euphemismus und sieht darin den im an-gelsächsischen Sprachraum bekannten »workfare state« aufgehen (vgl. Wolf 2007, S. 1154 ff.). Hartz IV stellt »Aktivierung« bzw. »workfare« in Reinkultur dar, weil betroffene erwerbsfähige Arbeitslose gezwungen wer-den, z.B. einen 1-Euro-Job auszuüben und im Falle der Weigerung die Reduzierung von Alg ü droht. Bedürfti-ge arbeitslose Bürger erhalten also die staatliche Leistung nur für eine Gegenleistung, nicht - wie im welfare state - weil sie bedürftig sind.
44 Das Mismatch-Problem drückt aus, dass zwar offene Stellen zahlreich vorhanden seien, die Bewerber aller-dings nicht die dafür notwendige Qualifikation besäflen oder nicht bereit wären unter den erforderlichen Be-dingungen zu arbeiten. Das Mismatch-Problem jedoch war und ist nicht die Ursache der hohen Arbeitslosig-keit, sondern die tatsächlich zu wenig vorhandenen offenen Stellen (vgl. Trube/Wohlfahrt 2002, S. 109; Wolf 2008, S. 601).
45 Inzwischen erhalten Ost- und Westdeutsche einheitlich Alg ü in Höhe von 351 Euro monatlich (vgl. ver.di 2008).
46 Der Bundestag hat nicht die Moglichkeit sich selbst aufzulosen. Deswegen stellte Schroder am 1. Juli 2005 die Vertrauensfrage im Bundestag und hatte im Vorfeld bereits für seine Niederlage gesorgt, damit der Bun-desprasident den Bundestag auflosen und Neuwahlen ansetzen konnte (vgl. Art. 68 Abs. 1 GG; Butterwegge 2005, S. 230 f.).
47 Das viel zitierte Prinzip der »Pfadabhangigkeit« scheint hier sehr wohl berechtigt zu sein (zu »Pfadabhan-gig-keit«, vgl. Kaufmann 1997, S. 26).
48 Von den im Bundestag vertretenen Parteien weicht hier lediglich Die Linke ab.
49 Eine Kostenexplosion durch Hartz IV hat in Wirklichkeit jedoch nicht stattgefunden (vgl. Bockler impuls 2006a, S. 2; Wolf 2008, S. 600).
50 Seit Ende der 1970er Jahre wird regelmaflig in den Medien über Sozialschmarotzer und >Sozialleistungs-missbrauch< berichtet, eine Vielzahl von Politikern griff das Thema stets bereitwillig auf, um Leistungsbezieher zu diffamieren und zu stigmatisieren. Zunachst wurden bis in die 1990er Jahre überwiegend Asylanten als So-zialleistungsmissbraucher dargestellt, bis schliefllich das Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet wurde. Seitdem unterliegen samtliche Bezieher von Sozialleistungen einem Generalverdacht (vgl. Butterwegge 2005, S. 97 ff.). In der Politik und in den Medien wird permanent über angeblichen Missbrauch durch Leistungsbe-zieher, jedoch kaum über moglichen Missbrauch durch Behorden berichtet. Manch putativer Experte schatzte, dass die Quote des >Sozialleistungsmissbrauchs< durch die Leistungsbezieher gar bei 50 Prozent liege - jun-ge empirische Studien belegen im Gegensatz zu extremen Schatzungen, dass die tatsachliche Quote des Leistungsmissbrauchs bei zwei bis drei Prozent liegt (vgl. Martens 2005, S. 358 ff.).
- Arbeit zitieren
- Frank Heydel (Autor:in), 2008, Sozialstaat, soziale Rechte und Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126574