Vergleich der Götterfiguren in Kleists "Amphitryon" und in Goethes "Iphigenie" vor dem Hintergrund des Mythendiskurses im 18. Jahrhundert


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

18 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Der antike Mythos in der Dichtung des 18. Jahrhunderts

3. Gegenüberstellung der Götterfiguren
3.1 Götterfiguren im "Amphytrion": Jupiter, Merkur, Herkules
3.2 Gottesfigur in der "Iphigenie": Diana

4. Divergierende Dimensionen der Mythenrezeption: Kleist vs. Goethe

5. Fazit

Literaturverzeichnis 1

1. Einleitung

Die Bühnen versagten sich, das Publikum las, die große Kritik stritt um Wertung und Interpretation: vom höchsten Lob (Gentz) bis zur didaktisch begründeten Zurückhaltung (Goethe). Über den Wert dieser Komödie [Kleists Drama "Amphitryon"] hat man sich inzwischen weitgehend geeinigt, die Meinungen zu angemessener Lesart und Interpretation fallen heute fast noch weiter auseinander als 1807.[1]

Aller Interpretationsvielfalt der vergangenen Jahrhunderte zum Trotz verbindet ein gattungsübergreifendes literaturhistorisches Merkmal Kleists "Amphitryon" mit vielen anderen Werken jener Zeit um 1800 und bildet somit ein unverrückbares Fundament für ein offenes hermeneutisches Verfahren: Der antike Mythos und seine Gottheiten sind nicht nur fester Stoffbestandteil von Kleists Verwechselungskomödie, sondern auch Goethes "Iphigenie auf Tauris" verweist auf eine mythische Symbolik als Symptom der Mythologiedebatte im 18. Jahrhundert. Ganz unzweifelhaft sind der antike Mythos auf der einen Seite und seine Gottheiten auf der anderen, untrennbar miteinander verknüpft. Eine genauere Betrachtung der Götter kann demnach nur im Kontext ihrer spezifischen Einbettung in den Mythenstoff fruchtbar gestaltet werden.

Diesen theoretischen Überlegungen folgend sollen die Götterfiguren der beiden Dramen miteinander verglichen werden. Die zentrale Leitfrage dieser Arbeit lautet: Welche Unterschiede bestehen in der mythopoetischen Stoffverarbeitung beider Werke und welche kunsttheoretischen Auffassungen ihrer Autoren lassen sich daraus ableiten?

Im Hauptteil dieser Ausarbeitung soll eine textintentionale Analyse der Götterfiguren durchgeführt werden. Hierbei liegt der Deutungsschwerpunkt auf dem Mensch-Gott-Verhältnis, um das poetologische Wirken der mythischen Götter in Relation zu ihren antiken Vorbildern zu betrachten. Im Schussteil soll - auf Grundlage des Vergleichs der Götterfiguren - der autorspezifische und kunstphilosophische Charakter des Mythos freigelegt werden. Doch zunächst muss in einem literaturhistorischen Abriss der Frage nachgegangen werden, warum eine ganze Literaturepoche eine starke Affinität zu antiken Stoffen signalisierte und aus welchem Grund auf die altgriechische Mythenwelt zurückgegriffen wurde?

2. Der antike Mythos in der Dichtung des 18. Jahrhunderts

Epochemachend leitete Wickelmann 1755 mit seiner Publikation "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" eine neue Kunstanschauung ein, die sich zunächst noch stark an der Barockästhetik orientierte und erst später von Lessing in abgeänderter Form auf die Poesie übertragen wurde: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung des Alten“[2]

Die Götterbilder und Sagenstoffe der Antike wurden im 18. Jahrhundert nicht auf triviale Weise in Anlehnung an ihr historisches Vorbild reproduziert; vielmehr fand ein Aufgreifen, Modifizieren und Weiterentwickeln historischer Traditionsstränge statt. Hierbei ist der mythologische Diskurs[3] jener Zeit nicht als unverrückbares Gebilde aufzufassen, sondern ein dynamisch-mythopoetischer Prozess mit - in Abhängigkeit vom jeweiligen Dichter und seiner kunstphilosophischen Auffassung - unterschiedlichen Zielsetzungen und Geisteshaltungen. Jörg Ennen kontrastiert zwei unterschiedliche Darstellungsformen von mythopoetischen Tendenzen, die sich um 1800 herausgebildet haben: Zum einen die Kunsttheorie der Weimarer Klassik im Sinne Goethes und Schillers, die konkrete poetologische Konzeptionen mittels einer Wiederbelebung der klassischen Gattungsformen aufgriffen; zum anderen die Kunsttheorie der Frühromantik mit einer gedanklich-reflexiv geprägten und durch eine bilderreiche Symbolik versehenen Darstellungsform, zu deren Vertretern unter anderem Kleist gehörte.[4]

Nichtsdestotrotz weisen beide kunstphilosophische Strömungen Gemeinsamkeiten auf, die sich unter den allgemeinen Begriff einer damaligen Mythologiedebatte subsumieren lassen. Durch den Rückgriff vieler Künstler auf traditionelles Sagenmaterial treten griechische Götter als grundlegendes Medium der Poesie in Erscheinung. „Was wie eine Rückkehr zu scheinbar Überwundenem aussah, war aber eher der Versuch, mit Hilfe der Verfremdung und Distanz [...] die deutsche Gegenwart durchsichtiger zu machen [...]“[5] Eine weitere Diskrepanz in Relation zum antikem Vorbild ist in einem anderem Verhältnis zwischen Göttern und Menschen zu sehen. Dabei verlassen die Götterfiguren in der Mythenrezeption der Goethezeit zunehmend die Stellung omnipräsenter metaphysischer Wesen, die wie eine Allmacht das Erdenleben dirigieren.[6] Gleichzeitig geht eine Annäherung göttlicher Figuren an die menschliche Sphäre einher. Ennen postuliert dazu:

Gemeinsam ist diesen Dramen [der Autor bezieht sich hier auf Kleists "Penthesilea" und Goethes "Iphigenie"], daß sich das Göttliche nicht mehr den Menschen, sondern im Menschen offenbart. Dabei ist das traditionelle Bild der Götter umgewandelt worden in ein höchst schwankendes Phänomen, das sich der Lage der Personen im Stück anpaßt. Menschliches Handeln und göttlicher Ratschluß stehen im neuen Mythos in einem dialektischen Verhältnis zueinander.[7]

Dieses dialektalische Verhältnis zwischen Mensch (These) und Gott (Antithese) produziert vor dem Hintergrund des hegelschen Idealismus eine dritte Instanz (Synthese)[8], die sich - wiederum in Abhängigkeit von der jeweiligen Kunstauffassung des Dichters - in unterschiedlicher Art und Weise auf poetischer Ebene artikuliert. Ferner dient der Mythos als zentrales Vermittlungsmedium zwischen traditionellen und modernen Inhalten.

Wie die antiken Götterfiguren in poetologischer Darstellung für divergierende Mythenrezeptionen verarbeitet wurden und welche unterschiedlichen kunsttheoretischen Ziele Goethe und Kleist damit um 1800 verfolgten, soll im Folgenden an ausgewählten Dramenbeispielen analysiert werden.

3. Gegenüberstellung der Götterfiguren

3.1 Götterfiguren im "Amphitryon": Jupiter, Merkur, Herkules

In Kleists Lustspiel lassen sich drei Götterfiguren verorten, die unmittelbar mit der griechischen Mythologie assoziiert sind: Jupiter, Merkur und Herkules. Hierbei ist letzterer strenggenommen kein Gott, sondern als Sohn der irdischen Alkmene und „Geschenk“ Jupiters ein halbgöttliches Wesen. Darüber hinaus tritt Herkules nicht als selbstständiger Figurencharakter handlungsrelevant in Erscheinung, da seine Geburt noch aussteht. Vielmehr ist der Verweis auf den späteren Sohn Amphitryons - zum Schluss des Dramas - von symbolischer Bedeutung. Dementsprechend sollen zunächst die mythisch-göttlichen Gestalten Jupiter und Merkur näher betrachtet werden, bevor die Bedeutung der Herkulesgeburt innerhalb der Dramenhandlung untersucht wird.

Indem der Gottvater Jupiter und sein Sohn Merkur beschließen durch Usurpierung menschlicher Gestalten (Amphitryon und Sosias) am Erdenleben teilzunehmen, greifen sie gewaltsam in die menschliche Sphäre ein, „so ergibt sich eine Spannung im Feld der Theatralität [...]“[9]. Die Motive der Götter sind hierbei unterschiedlich markiert. Amphytrion-Jupiter verspürt in der Einsamkeit des Olymps eine Sehnsucht nach mythos-ungemäßer Liebe:

JUPITER. [...]

Auch der Olymp ist öde ohne Liebe

[...]

Er will geliebt sein, nicht ihr Wahn von ihm.

In ewge Schleier eingehüllt,

Möchte er sich selbst in seiner Seele spiegeln,

Sich aus der Träne des Entzückens widerstrahlen.[10]

Wogegen Merkur in dem Erdenbesuch ein „Freundschaftsstück (III, 2, 1697)“[11] gegenüber seinem Vater sieht und seine Doppelgängerfunktion als langweiliges „Abendteuer (III, 2, 1704)“[12] denunziert.

Auf der Erde angekommen untersteht das olympische Duo dann den irdischen Spielregeln, ihre göttliche Allwissenheit geht verloren.[13] Beispielhaft hierfür ist die emphatisch aufgeladene Frage Merkurs an den menschlichen Sosias: „Ich will wissen, sag ich dir, wo du hingehst? (I, 2, 178-179)“[14] Merkur weiß sich am Ende der zweiten Szene des ersten Aktes vor Ratlosigkeit nicht anders zu helfen, als Sosias - der in die Rolle des rebellierenden Prometheus schlüpft - mit willkürlicher Prügel zu züchtigen, um seine Götter-Autorität gegenüber dem sturen Erdenmenschen zu verteidigen. Überdies fällt Merkur gegenüber seinem Vater eine subordinierte Rolle im Drama zu. Er leistet lediglich den Anordnungen des Zeus Folge, ferner ist seine Person von allen wichtigen Knotenpunkten der Handlung isoliert: So fehlt Merkur im gesamten Diadem-Komplex, der Alkmene erst misstrauisch werden lässt und eine Zuspitzung der Handlung evoziert; auch der Amphitryonenstreit gestaltet sich ohne seine Anwesenheit; und wenn Jupiter in der pantheistische Schlusszsene sein wahres Antlitz vor den Betrogenen preisgibt, geschieht dies wiederum ohne Beihilfe des Sohnes. Lu fasst Merkurs Funktion mit Hinblick auf dessen menschliches Original wie folgt zusammen:

[...]


[1] Fischer, Bernd: Wo steht Kleist im "Amphitryon"? In: Studia Neophilologica 56 (1984) S. 61–68; hier S. 61.

[2] Wickelmann, J. Joachim: Kunsttheoretische Schriften. Bd. 1. Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (2. vermehrte Aufl., Dresden 1756), Baden-Baden 1965, S.1-28; hier S. 3.

[3] Die hier behandelte Mythologiedebatte des späten 18. Jahrhunderts muss von vorausgegangenen Mythendiskursen des Barock und der Aufklärung abgegrenzt werden, auch wenn dies durch geschichtsphilosophische Überlagerungen und Korrespondenzen im engeren Sinne nur schwer möglich ist (Gattungsmischungen).

[4] Vgl.: Ennen, Jörg: Götter im poetischen Gebrauch. Studien zum Begriff und Praxis der antiken Mythologie um 1800 und im Werk Heinrich von Kleists, phil. Diss. Münster 1998, S. 83-320; hier S. 83.

[5] Schulz, Gerhard: Klassik: Geschichte und Begriff, hrsg. von Gerhard Schulz und Sabine Doering. München 2003, S. 67-94; hier S. 83.

[6] Wolfgang Wittkowski verweist an dieser Stelle auf das „[...] Problem der Autorität und des promethischen Aufstandes gegen sie [die Götter] [...]“ und betont, dass die kirchlich-institutionalisierte Stellung der Gottesfiguren zunehmend an Bedeutung verliert. Später erklärt der Autor das Gott-Mensch-Verhältnis mit Hinblick auf Kleists "Amphitryon": „Natürlich ist der Gott trotzdem als Gott vorhanden in der Dichtung. Aber er ist anders, als er zu sein vorgibt und wofür ihn die Menschen halten.“

Wittkowski, Wolfgang: Heinrich von Kleists "Amphitryon". Materialien zur Rezeption und Interpretation. Berlin/New York 1978, S. 81-101; hier S. 81 und 87.

[7] Ennen: Götter im poetischen Gebrauch, S. 92.

[8] In 4.0 wird auf dialektische Strukturen und deren Bedeutung im "Amphitryon" näher eingegangen.

[9] Lu, Yixu: Die Theatralität des Göttlichen. Über Kleists >Amphitryon<. In: Kleist-Jahrbuch 2001, hrsg. von Günter Blamberger, Klaus Müller-Salget und Sabine Doering. Ulm 2001, S. 149-159; hier S. 149.

[10] Von Kleist, Heinrich: Amphitryon. Ein Lustspiel nach Moliére. In: ders. Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1 (zweibändige Ausgabe in einem Band). Hrsg. v. Helmut Sembdner. München 2001, S. 245-320; hier S. 292-293.

[11] Ebd. S. 298.

[12] Ebd. S. 298.

[13] Lu betont, dass sich Merkur-Sosias neben seinem Aussehen, auch „[...] Bewußtsein und Gedächtnis seines Opfers angeeigent hat [...]“. Der Blickwinkel der irdischen Götter - in diesem Fall Merkur - bleibt also auf die Perspektive des kopierten Menschen (Sosias) reduziert.

Lu: Theatralität des Göttlichen, S. 152.

[14] Von Kleist: Amphitryon, S. 252.

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Details

Titel
Vergleich der Götterfiguren in Kleists "Amphitryon" und in Goethes "Iphigenie" vor dem Hintergrund des Mythendiskurses im 18. Jahrhundert
Hochschule
Georg-August-Universität Göttingen
Note
1.0
Autor
Jahr
2008
Seiten
18
Katalognummer
V126673
ISBN (eBook)
9783640329373
ISBN (Buch)
9783640331222
Dateigröße
478 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vergleich, Götterfiguren, Kleists, Amphitryon, Goethes, Iphigenie, Hintergrund, Mythendiskurses, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Daniel Loch (Autor:in), 2008, Vergleich der Götterfiguren in Kleists "Amphitryon" und in Goethes "Iphigenie" vor dem Hintergrund des Mythendiskurses im 18. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126673

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