Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Theoretischer Teil
2. Aspekte der Raumgestaltung in der Literatur des Mittelalters
3. Die Heterotopie und Raumtheorie nach Foucault und de Certeau
4. Raum und Geschlecht: eine Einleitung nach Laetitia Rimpau und Peter Ihring und einem Beispiel von Markus Stock
5. Geschlechterkommunikation in mittelalterlicher Literatur nach Rüdiger Schnell
Praktischer Teil
6. Hartmann von Aues Erec unter raum-geschlechtlichen Aspekten
7. Schluss
Literaturverzeichnis
1.Einleitung
Die Frage, was Räume oder was Orte per geisteswissenschaftlicher Definition sind, haben de Certeau und Foucault im vergangenen Jahrhundert erläutert und dargelegt. Ebenso gibt es Ge- schlechtertheorien für die Literatur des Mittelalters — Lyrik, höfischer Roman, Minnesang etc. pp. Jene Ausarbeitung folgt dem Ziel, zu erforschen, ob es eine Art geschlechterspezifische Raumtheorie gibt, die man für die Literatur des Mittelalters anwenden kann. Es soll zuerst im Theoretirchen Teil vorrangig um de Certeaus und Foucaults Texte zu Raumtheorie gehen, welche als theoretische Grundlage dienen. Zudem sollen Aspekte der Raumgestaltung in der Literatur des Mittelalters betrachtet und analysiert werden. Daraufhin sollen Raum und Gerchlecht nach Ingrid Kasten teilweise, durch Laetitia Rimpau und Peter Ihring weiter ausgeführt werden. Da literarische Texte zuvorderst kommunikative Wege der Analyse einer Figur aufweisen, soll anhand Rüdiger Schnells Aufsatz zu Gender und Rhetorik herangezogen werden.
Im Praktischen Teil soll anhand der Kriterien de Certeaus und Foucaults zur Raumtheorie in Kombination mit der Rhetorik der Geschlechter und deren Inszenierung in der Literatur des Mittelalters Hartmann von Aues Erec szenenweise analysiert werden. Ziel ist es, herauszufinden, ob es geschlechterspezifische Un -Orte im Foucault'schen Sinne gibt, durch was diese sich auszeichnen und ob jene überhaupt als Un-Orte, also als Heterotopien gewertet werden können.
Zusätzlich soll ein theoretisch-philosophischer Teil eingebaut werden, der sich mit der Frage befasst, ob die Frau alr Heterotopie aufgefasst werden kann. Jener verfolgt die Idee, dass Frauen in der Literatur des Mittelalters gewisse gender -Profile, wie sie Rüdiger Schnell nennt, aufweisen, die von einem männlichen Gegenüber gewisse Verhaltensweisen verlangen. Die Frage hierzu wäre nun, ob diese gender-Profil-Merkmale sich so von dem umliegenden Raum/Ort abgrenzen, dass sie nur durch ihre Verhaltensweisen eine Arte neuen Raum bzw. einen Un-Ort eröffnen. Wie das Eröffnen, Erhalten und Schließen dieses Raumes/Ortes aussehen kann, soll in jenem theoretisch-philosophischen Teil erörtert werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind maßgeblich für die weitere Ausarbeitung bzw. den Praktirchen Teil. In dem Praktischen Teil werden zum einen Textbeispiele für eine dercriptio zu Ästhetisierung der Frau gezeigt, zum anderen wird eine mögliche Heterotopie am Artushof während der Hochzeit Erecs und Enites analysiert. Als letztes soll eine intergeschlechtliche Raumbeziehung zwischen Erec und Enite aufgezeigt werden, die beginnt, wenn beide den Hof wegen des verligenr verlassen.
Theoretischer Teil
2. Aspekte der Raumgestaltung in der Literatur des Mittelalters
Um zuallererst zeigen zu können, dass es im Allgemeinen schon raumtheoretische Ansätze zur Literatur des Mittelalters gibt, sollen Beispiele angeführt werden, die schon nach Raumvorstellungen und nach der Raumgestaltung untersucht wurden. Anhand jener Untersuchungen können Erkenntnisse gesammelt werden, die für die weitere Ausarbeitung nützlich sein können.
Als erstes Textbeispiel soll „die stainwant Un-Ort“1 im Otnit aufgezeigt werden, welche, wie schon genannt, von Benz als Un-Ort genannt wird. Die Frage stellt sich, was diesen Un-Ort ausmacht und Benz beantwortet jene Frage damit, dass er kritisch Folgendes äußert: „Wie dem auch sei: Es wäre in jedem Fall zu diskutieren, ob die stainwant im Otnit tatsächlich das Sprechen austrocknet und bereits in der Wurzel jede Möglichkeit von Grammatik bestreitet (S. 58).“2 Interessant ist hierbei, dass Benz zwar den Un-Ort-Charakter der stainwant bestreitet, aber zwei wichtige raumbestimmende, raumgestaltende Aspekte nennt: zum einen das Austrocknen des Sprechens und zum anderen die Folge dessen, nämlich ein komplettes Auslassen von gesprochenen Textpassagen, was Benz als Ausbleiben der Grammatik in der Wurzel beschreibt. Somit liegt hier ein Ort vor, der aphasisch aufgeladen ist. Der Un-Ort wird zu einem Un-Ort, weil er sich durch einen möglich gedachten, anderen Ort darin unterscheidet, dass derjenige, der sich an/bei ihm befindet, nicht mehr sprechen kann — so Fuchs-Jolie unter Kritik Benz': „Aus diesem Grund sowie wegen der Ereignisse an der stainwant und der mit ihr verbundenen Figuren beschreibt Fuchs-Jolie die stainwant als Un-Ort (S. 57), ja als Heterotopie im Foucault'schen Sinne.“3 In Anlehnung an die noch kommende Analyse Rüdiger Schnells zur Geschlechterkom- munikation verbirgt sich hier auch schon der Aspekt des Kommunizierens, nur eben ohne andersgeschlechtliche Gegenperson, welche den Sprachausbleib beobachten, erfahren könnte — zumindest verweist Benz hier auf keines.4
Als zweites Beispiel für eine Art der Heterotopie im Foucault'schen Sinne, wie es Benz formuliert, darf nach Manuel Hoder die Heterotopie des Feierns genannt werden mit explizitem Verweis auf das Schlussfest in den Artusromanen des Pleiers. Als „narrative Urszene“5 bezeichnet Hoder hier das Schlussfest bzw. das Fest am Artushof im Allgemeinen, wenn er schreibt:
Während Festdarstellungen durch ihre Prachtästhetik im Allgemeinen als ideelle Konzentrationspunkte höfischer Kultur fungieren, weisen Sie im Artussagenkreis im Besonderen auf die Idealität ihrer zentralen Figur hin. Am Artushof versammelt sich die Krone der Ritterschaft, der weise König selbst ist der Inbegriff der milte und das Erzählen steuert stets in Schleifen zu dieser narrativen Urrzene zurück.6
Fürderhin gliedert Hoder seine nächste These an jene Urszene, das Fest am Artushof, an, er behauptet nämlich, dass es zu einem „utopischen Raum und zugleich konstitutiven Erzählele- menten“7 kommt. Begründen tut er dies mit folgenden Argumenten:
Utopisch, weil es stets das Bester aller Feste ist, konstitutiv, weil es aus seinen realen Bezügen herausgelöst und Teil einer schematischen Erzählstruktur wird, sei es als Rahmen, als Scharnierstelle oder als ruhendes Zentrum. Das Fest wird im Artusroman so zum utopischen Topos, dominiert vom dircourr höfischer Pracht, Ritualität und Tugendhaftigkeit.8
Wichtig ist hierbei Hoder die schematische Erzählstruktur explizit nennt, die in der erzählendprosaischen Literatur die Basis eines Erzählens ist, das sich an einem Thema orientiert. Dies könnte auch im Anwendungsteil von Relevanz werden. Außerdem beschreibt er das Herauslösen aus dem realen Bezug sowie die Funktion als etwas Variables: „als Rahmen, als Scharnierstelle oder als ruhendes Zentrum.“9 Was Hoder mit diesen Metaphern genau meint, darüber lässt sich nur mutmaßen; in der vorliegenden Ausarbeitung wird aber angenommen, dass Hoder meint, dass das Fest am Artushof wie auch schon in Hartmann von Aues Erec in der Erzählstruktur vorkommt, eben als Rahmen der Erzählung — Beginn und Ende der Erzählung installieren den Artushof samt Fest —, als Scharnierstelle — diese übernähme ihre Funktion erst in mediar rer, z. B. bei der Heimkehr und dem erneuten Wiederaufbruch des Helden zur erneuten aventiure — oder als ruhendes Zentrum — womöglich als Funktion der Urszene.10 Für die weitere Ausarbeitung bleibt jedoch zu bemerken, dass der Raum, die mögliche Heterotopie des Festes am Artushof, durch die Erzählstruktur und eine Überstilisierung — referenzierend auf das Utopische — zu eben jenem gemacht wird, was es durch selbes zu anderen Orten abgrenzt.11
Hoder führt konkludent folgende These an:
Hierfür werde ich auf Foucaults Begriff der Heterotopien zurückgreifen und argumentieren, dass der Pleier die Gefahr einer maßlosen Utopisierung des arthurischen Fests bannt, indem er seine Schlussfeste zu ,Heterotopien des Feierns‘ rekonzeptualisiert.12
Spannend ist hierbei, dass Hoder dem Autor Pleier Anti-Utopisierung zuschreibt, was er durch das Rekonzeptualisieren des Schlussfestes als eine Art Heterotopie des Feierns macht. Folgend begründet er dies mit der kritisch zu betrachtenden These, dass „die Festszenen [ ],utopische Bilder‘ [sind], die ,einen Idealzustand der Hochstimmung und Harmonie (vreude) imaginieren‘, sie bleiben dabei narrativ aber Ereignis und werden kein Geschehen“13. Imagination stellt sich der Uto- pisierung quasi-entgegen, um somit die Heterotopie des Feierns zu verwirklichen. Die Imagination steht eine Stufe gewissermaßen unter der von Hoder benannten Utopisierung bzw. der Überstilisierung des Festes am Artushof:
Ohne Frage ist das höfische Fest (insbesondere das Pfingstfest) in allen Artusromanen ein literarischer Raum, der in irgendeiner Form katalytisch auf die Erzählung wirkt und entscheidende Handlungsimpulse liefert. Doch das arthurische Fest ist kein Austragungsort dieser Handlungen, sondern Repräsentationsraum (das gilt auch für Tugendproben, obwohl diese festliche ,Hand- lungsereignisse‘ sind).14 15
Er verstärkt seine These wiederum durch den Aspekt, dass das arthurische Fest nur Repräsentationsraum, aber kein Austragungsort ist. „Im Raum des arthurischen Fests verdichtet sich die utopische Problemkonstellation. Auch wenn das Erzählen hiervon seinen Ausgang nimmt und hier seinen Endpunkt findet, ist es der unwirklichste aller unwirklichen Orte in der Artuswelt“, konstatiert Hoder final, um erneut das Argument der Imagination, aber nicht das der Utopisie- rung zu stützen.
Nach Hoder ist auch genau aus jenem Aspekt der Begriffsdefinition der klassischen Heterotopie nach Michel Foucault das arthurische Fest eben nicht eine solche klassische Heterotopie, weil das Fest weder bestimmbar, noch zeitlich messbar oder auf einer Karte zu finden ist:
Michel Foucaults Konzept der Heterotopien ist ein prädestiniertes Beschreibungsmodell für diesen Wandlungsprozess. Als Heterotopien definiert Foucault Utopien, ,die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen und auch eine genau bestimmbare Zeit, die sich nach dem alltäglichen Kalender festlegen und messen lässt.16
Foucault selbst, so Hoder, beschreibt das Fest als einen „Musterfall zweiteiliger, nicht-statischer Heterotopien (im Gegensatz zu Museen oder Bibliotheken)“17.
Als drittes und letztes Beispiel für eine raumtheoretische Analyse soll Ingrid Kastens Untersuchung zu Raum in Kombination mit Leib und Bewegung betrachtet werden. Jener Aufsatz bietet den ersten Ansatz zum zentralen Thema dieser Ausarbeitung, nämlich den Aspekt des Leibes bzw. den des damit einhergehenden Aspekts des Geschlechts. Kasten führt zu anfangs die Ursprünglichkeit der Raumgestaltung in mittelalterlichen Texten zurück auf die These des russischen Mediävisten Aaron J. Gurevich, der behauptet, dass die „Konventionalität der Raumge- staltung“18 „auf die Prägung der Autoren durch die religiös-symbolische Interpretation der damaligen Welt“19 zurückgeht. Also hat gewissermaßen die Religiosität bei den Schreibern die Raumgestaltung begünstigt bzw. das literarische Handwerkszeug der erzählerisch-darstellenden Raumgestaltung sich zu Nutze gemacht.
Ein weiterer, wichtiger Aspekt ist jener, den der französische Mediävist Paul Zumthor (1963) nach Kastens indirekter Zitation nennt:
Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Leiblichkeit der Raumerfahrung im Mittelalter besonders stark ausgeprägt war und betont, dass der Leib die Quelle von zahllosen Raummetaphern ist, die unser Denken bis heute bestimmen etwa Richtungen wie links und rechts, oben und unten, vorne und hinten, oder Entfernungen wie fern und nahe. Raum ist, so lässt sich folgern, vom menschlichen Leib her gedacht und damit immer schon mehrfach codiert, denn der Leib ist selbst Raum, der er in seiner Zeitlichkeit irreversibel unterworfen ist; die Leiblichkeit der Wahrnehmung macht verständlich, warum wir von einem Raum gefühl und einem Zeit gefühl sprechen können. Nicht zufällig spielt die Leiblichkeit bzw. der Körper in neueren theoretischen Überlegungen zur Kategorie des Raums eine zentrale Rolle (vgl. etwa Böhme 2015, Warning 2015).20
Anhand jener Erkenntnis gelangt die Frage nach dem gender -Profil der mittelalterlichen Frau unmittelbar auch in den Bereich des rex -Profils — also in Bezug auf den Körper. Wenn der Leib selbst Raum ist, so kann die These aufgestellt werden, dass der zum Leib dazugehörige Mensch auch eine Art Raum ist bzw. durch seinen Körper zum Raum wird, ihn auslöst und/oder mitbestimmt. Ein weiterer Gedanke würde einen Schritt weiter in Richtung der Fragestellung gehen, wenn er wie folgt formuliert würde: Kann das weibliche Geschlecht (sex) über seine Anerkennung als zu bezeichnende „ Frau “ aufgrund des Geschlechts (rex) einen Raum eröffnen, der aber zudem durch das gender -Profil des sex mitbestimmt wird? Laut Kasten wäre hier die erste, intuitive Antwort: Ja!21
Kasten führt den hier selbst gestellten Gedanken sogar fort, indem sie Folgendes schreibt: „Zugleich wird die Kategorie Raum auch mit anderen Begriffen wie etwa dem der Heterotopie, der Grenze oder dem des Geschlechts in Relation gesetzt.“22 Zum Geschlecht führt Kasten sogar ein direktes Beispiel an, an welchem sie zeigt, dass im Tristan es räumlich-geschlechtliche Konventionen gibt, die mit einer Raumaufteilung einhergehen. Genannt wird das Schiff, mit welchem Isolde nach Cornwall reist. Das Schiff — nach Foucault auch eine Heterotopie — ist ein Raum, welcher selbst in mehrere Räume gegliedert ist:
Das Schiff, mit dem er Isolde nach Cornwall bringt, erweist sich dabei als ein in sich gegliederter Raum. In ihm befindet sich eine Kajüte, die Tristan den Frauen vorbehalten hat, es ist also ein von den anderen Räumen abgetrennter Raum im Schiff, der eine geschlechterspezifische Grenze markiert.23
Die geschlechterspezifische Grenze als Übergang von einem Ort zu einem anderen, der nur aufgrund des unterschiedlichen Geschlechts zweier Subjekte sich unterscheidet, bietet ebenso Grundlage für die folgende Ausarbeitung. Denn jene These beruht ebenso auf dem Gedanken, dass ein Subjekt aufgrund seines Geschlechts den Raum mitbestimmt, ihn eröffnet und ihn schließen kann. Den Raum mitbestimmen zu können — also als Fähigkeit —, könnte beispielsweise bedeuten, dass eine Frau/ein Mann vom gegenüber — gleichen oder anderen Geschlechts — eine definierte Verhaltensweise verlangt/erbittet.24
Kasten verweist folgend auf die von Hoder genannte Heterotopie des Feierns/Festes, welche sie in den Kontext der vereinigten Geschlechter rückt. Jene Grenze, die die geschlechterspezi- fischen Räume entstehen lässt und auf geschlechterspezifischen Konventionen — hier dem gender-Profil, das damals fast ausschließlich auf dem sex basierte — zurückgreift, wird beim Ort des Festes nicht nur aufgehoben, sondern ungezwungen, so Kasten, gelebt, um sich dem anderen Geschlecht zu begegnen:
Und auch andere Grenzen sind suspendiert. Denn Angehörige beiderlei Geschlechts, Ritter und Damen, haben die Gelegenheit, sich im Rahmen des Festes ungezwungen zu begegnen, sich zu vergnügen und miteinander zu kommunizieren. Die Ritter vertreiben sich die Zeit unter anderem mit Ritterspielen vor den Damen, die das Geschehen beobachten und kommentieren.25
Erstaunlich, aber nicht weniger unerwartet, ist hierbei, dass den Geschlechtern (sex) ein genderProfil zugeteilt wird, das ihnen eine Rolle während des Festes zukommen lässt; Damen beobachten und kommentieren (eher passiv), Ritter vertreiben sich die Zeit mit Ritterspielen.26
Was Kasten letztlich konstatiert — und was auch hier von Relevanz ist —, ist die Darstellung der Grenze, welche als entscheidend raummitbestimmendes Instrument installiert wird, um überhaupt zwischen Fest-Raum und Frauenkemenate-Raum unterscheiden zu können. Sie beschreibt diesen Vorgang wie folgt:
Als Prinzipien der Darstellung wurde räumliche Gliederung durch Einschachtelung (die Frauenkemenate auf dem Schiff) und Konkretisierung der Wahrnehmung als Zeichen der körperlichen Annäherung (Ruals Ankunft in Tintajèle) ermittelt. Im Ergebnis kommt Schwellen eine besondere Bedeutung zu, die Grenzen oder deren Überschreitung markieren: der Tür zur Frauenkemenate als Grenze zwischen den Geschlechtern, dem Ufer als Grenze zwischen Land und Meer, der Wildnis als Grenze zwischen Natur und höfischer Kultur, dem locus amoenus des Festes als Grenzen aufhebender höfischer Naturraum.27
Grenzen und Schwellen wird jene Bedeutung zukommen gelassen, da jene erst raumbildend sind.28 Im folgenden Kapitel soll die von Hoder schon angerissene Theorie der Heterotopien nach Foucault und de Certeau erarbeitet werden.
3. Die Heterotopie und Raumtheorie nach Foucault und de Certeau
Im letzten Kapitel wurden mögliche Rauminstallationen in der mittelalterlichen Literatur dargestellt und vergegenwärtigt; folgend soll anhand Foucaults theoretischem Konzept der Hetero- topie eine Möglichkeit der Raumtheorie erklärt werden; nebst Michel Foucault hat auch Michel de Certeau maßgeblich zur Raumtheorie bzw. zu Praktiken im Raum beigetragen und soll folgend einleitend dienen.
De Certeau definiert den Ort, als Gegenelement zum, Raum, wie folgt:
Ein Ort ist die Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, daß sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden. Hier gilt das Gesetz des Eigenen: die einen Elemente werden neben den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem eigenen und abgetrennten Bereich, den es definiert. Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität.29
Hingegen definiert den Raum als etwas Instabiles, das mit beweglichen Elementen zustande kommt. De Certeau schreibt zum Raum:
Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.30
Zum besseren Überblick eine kurze bildliche Darstellung31, was Räume und was Orte gemein bzw. nicht gemein haben nach de Certeaus Definitionen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Konkreter — so de Certeau:
Im Gegensatz zum Ort gibt es also weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas Eigenem. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwan- delt.32
Der Unterschied zum Ort liegt beim Raum also in der Aktivität, die ihn als solchen vom Ort abgrenzt. Zudem ist die Instabilität ein wichtiges Element des Raums, was ihn zum stabilen, fixen und separierten Ort abgrenzt. Wird der Ort gewissermaßen be-handelt, so kann er sich ändern, weil er zum Raum wird und somit zeitlich, örtlich, richtungsweisend verändert.33
De Certeau schreibt dem Ort sowie dem Raum aber noch aktive Eigenschaftswörter (Verben) zu, die sich — wie Ort und Raum — nach seiner These abgrenzen.
Anders gesagt, die Beschreibung schwankt zwischen den Alternativen: entweder sehen (das Erkennen einer Ordnung der Orte) oder gehen (raumbildende Handlungen). Entweder bietet sie ein Bild an (,es gibt‘ ...) oder sie schreibt Bewegungen vor (,du trittst ein, du durchquerst, du wendest dich‘ .).34
Ortbildende Verben/Handlungen sind bestimmt von ihrer Passivität wie sehen, erkennen, aufzählen, betrachten; raumbildende Verben/Handlungen sind hingegen bestimmt von ihrer Aktivität wie gehen, eintreten, durchqueren, wenden, drehen. Die Verbindung von Ort und Raum stellt de Certeau noch weiter raus, indem er behauptet, dass die Handlungen, die im Raum ausgeführt werden, an fixe Punkte gebunden sind, die wiederum in ihrer Gesamtheit eine Vorstellung eines Orts ergeben. Der Inhalt dessen ist nur eine lokale Ordnung; der Ort wird mental-repräsentativ gebildet, sich quasi-imaginiert, wenn man so will.35
[...]
1 Maximilian Benz (Review zu): Projektion — Reflexion — Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter von Sonja Glauch, Susanna Köbele und Uta Störner — Caysa. Zeitschrift für Germanistik 2012. Neue Folge, Vol. 22, No. 3 (2012), S. 712.
2 Benz (2012), ebd.
3 Ebd.
4 Vgl. ebd.
5 Manuel Hoder: Heterotopien des Feierns. Das Schlussfest in den Artusromanen des Pleiers. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Bd. 142/H. 1. Berlin/Boston 2020, S. 54.
6 Hoder (2020), ebd.
7 Ebd., S. 56.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Vgl. ebd.
11 Vgl. ebd.
12 Ebd., S. 57.
13 Ebd., S. 76.
14 Ebd., S. 77.
15 Vgl. ebd.
16 Ebd.
17 Ebd., S. 78.
18 Ingrid Kasten: Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Trirtan. In: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext. Hg. v. Ingrid Kasten und Laura Auteri. Berlin/Boston 2017, S. 128.
19 Kasten (2017), S. 128.
20 Ebd.
21 Vgl. ebd.
22 Ebd., S. 129.
23 Ebd., S. 132.
24 Vgl. ebd.
25 Ebd., S. 139.
26 Vgl. ebd.
27 Ebd., S. 142.
28 Vgl. ebd.
29 Michel de Certeau: Praktiken im Raum. Die Wiederkehr der Praktiken. Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt 2006, S. 345. Zitiert aus: M. d., Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 179-238, hier: S. 186-187 und 217-226 [Pratiques d'espaces, in: L'invention du quotidien I. Arts de faire, Paris: Gallimard folio 1990, S. 139-191, zuerst in: Arts de faire, Paris: Union générale d'Éditions 1980, S. 175-227].
30 De Certeau (2006), ebd.
31 Nach de Certeaus Zitaten zuvor und danach.
32 Ebd.
33 Vgl. ebd.
34 Ebd., S. 348.
35 Vgl. ebd., S. 349.